Verschwundene Reiche

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ein weiterer Meilenstein war das Jahr 1118. Dank der Kriege, die El Cid führte, wurde das Emirat von Zaragoza immer schwächer, und aragonesische Truppen sahen sich ermutigt, es zu erobern. Fortan beherrschten sie den Mittellauf des Ebro. Unter Alfons I. El Batallador wurde Zaragoza zum Regierungssitz Aragóns, seine Kathedrale Sitz eines Erzbischofs und königliche Krönungsstätte und seine Straßen der Saum eleganter Adelspaläste. Die maurischen Truppen wurden in die Armee des Königreiches eingegliedert, und die prächtige Aljaferia, der Stadtpalast der Emire, war jetzt die Residenz christlicher Könige.22 Aragón war nicht länger tiefste Provinz. Vor allem aber wurde sein vom Papst bestätigter Anspruch auf königlichen Status jetzt allgemein anerkannt.

Vor dem Tod von Alfons I. im Jahr 1134 erlebte das Königtum eine Phase dynastischer Panik, die aber schließlich ein kaum noch zu erwartendes glückliches Ende fand. Alfons war zwar als Krieger unglaublich erfolgreich, als dynastischer Herrscher und Politiker jedoch ebenso unglaublich unfähig. Selbst der frühe Tod seines Neffen, durch den er selbst auf den Thron gelangt war, sensibilisierte ihn nicht für die Notwendigkeit, für einen Erben zu sorgen, und seine späte Ehe mit Urraca von León, Regentin von Kastilien, brachte nicht den Nutzen, den er sich von ihr erwartet hatte. Irgendwann löste er die kinderlose Ehe und verlor damit auch den Zugriff auf Kastilien. Sein Bruder lebte im Zölibat, er war zunächst als Mönch ins Kloster gegangen und amtierte jetzt als Bischof von Barbastro. In seinem Testament wollte Alfons schließlich seine Reiche zu gleichen Teilen drei Ritterorden vererben und stieß damit alle anderen interessierten Parteien vor den Kopf. Die Adligen von Navarra sagten sich daraufhin für alle Zeiten von Aragón los. Der aragonesische Adel war ebenfalls alarmiert und überredete den Bruder des Königs, seine Gelübde aufzugeben und sich zu verheiraten. Und so war der Ex-Mönch schon verlobt, als der Monarch im Sterben lag; ein königliches Kind erblickte das Licht der Welt, und Aragón bekam seine heiß ersehnte Erbin. Die kurze Regierung von Ramiro II. El Monaco war als Notmaßnahme geplant und verlief nicht ohne Turbulenzen, aber sie erfüllte ihren Zweck. Sobald er konnte, dankte der pflichtbewusste König zugunsten seiner kleinen Tochter ab und kehrte in seine Mönchszelle zurück. Ein Regentschaftsrat machte sich daran, einen passenden Ersatz für die zerbrochene Partnerschaft mit Navarra und einen angemessenen Bräutigam für die Erbin zu suchen. Glücklicherweise hatte die Nachbargrafschaft Barcelona gerade noch einen jungen Mann zu vergeben.

Im Jahr 1137 wurde also die einjährige Petronila von Aragón – Peyronella auf Aragonesisch und Peronela auf Katalanisch – in Zaragoza mit dem vier- und zwanzigjährigen Ramón Berenguer IV. von Barcelona verlobt. Das Mädchen blieb Königin, während ihr zukünftiger Ehemann den Titel eines »Fürsten von Aragón« annahm. Ein weiterer Vertrag legte fest, dass Aragón und Barcelona ihre jeweils eigenen Institutionen, Bräuche und Titel behalten und dass im Fall eines vorzeitigen Todes beide Staaten dem Überlebenden des verlobten Paares zufallen sollten. Diese letzte Klausel erwies sich als überflüssig. Nach vierzehn Jahren des Wartens wurden die Königin und der Fürst-Graf offiziell vermählt, und aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Aus praktischen Gründen herrschte der Ehemann in Aragón und in Barcelona, während er sich erfolgreich von jeder Einmischung in die Angelegenheiten Kastiliens fernhielt, wo seine Schwester Berenguela jetzt »Kaiserin« war. Ramóns und Petronilas ältester Sohn, der ebenfalls auf den Namen Ramón Berenguer hörte, wurde als ihr gemeinsamer Erbe eingesetzt. Nachdem Petronila im Jahr 1162 Witwe geworden war, verzichtete sie zugunsten ihres Sohnes auf alle Rechte, und so trug die Verlobung von 1137 nach einem Vierteljahrhundert schließlich die erhofften Früchte; die Ehe zweier Menschen hatte zur Vereinigung zweier Staaten geführt.

Ramón Berenguer seinerseits legte bei der Thronbesteigung seinen katalanischen Namen ab und nahm in Erinnerung an El Batallador den Titel »Alfons II. von Aragón und I. von Barcelona« an. Seitdem wurden die beiden Titel der »Könige von Aragón« und »Grafen von Barcelona in Katalonien« in einer langen Linie von Monarchen weitergegeben.

Die Vereinigung von Königreich und Grafschaft hatte weitreichende Folgen. Sie schuf eine erweiterte territoriale Basis, eine sichere Zuflucht im Gebirge verbunden mit einer Meeresküste mit gewaltigem Seehandels- und Wirtschaftspotenzial. Beides versprach eine ebenso wohlhabende wie siegreiche Zukunft. Gleichzeitig bildete Aragón-Barcelona wie auch das seit Kurzem aufstrebende Portugal ein wichtiges Gegengewicht zu Kastilien. Es war kein Zufall, dass die älteste Tochter von Fürst Ramón und Königin Petronila mit Sancho I. »dem Besiedler« (reg. 1185–1211), dem König Portugals, verheiratet wurde. Dennoch blieben Königreich und Grafschaft in mancher Hinsicht unbehagliche Bettgenossen. Beide hüteten ihre jeweils eigenen Rechte, ihre eigenen Cortes oder Parlamente und ihre eigenen Sprachen. Das Aragonesische war dem Kastilischen nicht allzu unähnlich; das Katalanische war eher mit dem Okzitanischen, der Sprache des Languedoc, verwandt. Barcelona, von Hannibals Bruder im 3. Jahrhundert v. Chr. gegründet und von Karl dem Großen aus den Händen der Mauren befreit, konnte auf eine viel längere und ruhmreichere Geschichte zurückblicken als Zaragoza. Das Haus Berenguers, Erbe einer Linie von vierundzwanzig Grafen in Barcelona seit dem frühen 9. Jahrhundert, war zweifellos älter als das des Ramiro. Und seine territorialen Besitzungen waren deutlich größer. Seit den Zeiten des ersten Grafen Berà (reg. 801–820), Sohn des Wilhelm von Toulouse, des Vasallen Karls des Großen, war der Besitz im Laufe der Generationen mal gewachsen, mal geschrumpft, doch ausgehend von den östlichen Grafschaften der früheren Marca Hispanica und vor allem den Küstenbezirken Empordà (Ampuriés), Ausona, Girona und Barcelona bildete er ein stabiles Territorium auf beiden Seiten der Pyrenäen. Kurz gesagt: Der katalanische Teil des gemeinsamen Reiches war älter, größer und reicher. Pessimisten konnten vielleicht ahnen, dass die beiden Teile nie völlig miteinander verschmelzen würden; Optimisten hofften, dass sie einander ergänzen würden. Beide sollten Recht behalten.

Diese »zusammengestückelte Monarchie« tauchte zur gleichen Zeit auf der europäischen Bühne auf wie die Troubadoure mit ihrem Kult der »höfischen Liebe«. Aragón-Katalonien war umgeben von Ländern wie Aquitanien, Languedoc und Provence, in denen die Troubadoure großen Erfolg hatten. Ramón Vidal de Besalú (um 1196–1252), einem Untertanen des Königs und Grafen, wird die erste literaturkritische Arbeit in einer romanischen Sprache zugeschrieben, die Razos de trobar. (Sein Eintreten für den okzitanischen Dialekt von Limoges ermunterte Dante Alighieri dazu, in De Vulgari Eloquentia die Vorzüge des Toskanischen in Italien hervorzuheben.) Guillaume de Poitiers (1071–1126), Ponç de la Guàrdia (vor 1150–1188) und Huguet de Mataplana (1173–1213) gingen Ramón Vidal voran; Arnaut Catalan (vor 1210–1253), Amanieu de Sescars, bekannt als il dieu d’amor (vor 1275–1295), Jofre de Foixà (gest. 1300) und andere folgten ihm nach.23 Jofre war ein Franziskanermönch aus Empordà, den sein Orden nach Sizilien geschickt hatte. Seine Abhandlung Vers e regles de trobar mit Beispielen aus den Werken anderer Sänger wurde zu einem Standardkompendium:

Canczon audi q’es bella ’n tresca,

Que fo de razon espanescai;

Non fo de paraulla grezesca

Ni de lengua serrazinesca.

Tota Basconn’ et Aragóns

E l’encontrada delz Gascons

Sabon quals es aquist canczons. 24

(»Ich hörte ein Lied, das schön ist in seiner Melodie,/und das im spanischen Stil verfasst war,/weder griechisch in seiner Sprache/noch sarazenisch/… Alle Basken und Aragonesen/haben es von den Gascognern gehört:/Sie kennen diese Lieder.«) »Mit der Kunst der Troubadoure beginnt die moderne europäische Literatur«, schrieb ein britischer Mediävist vor vielen Jahren. »Und wenn wir das geheimnisvolle Element finden wollen, das die Quintessenz des mittelalterlichen Geistes ausmacht, folgen wir am besten dem Beispiel der Romantiker und suchen im Zeitalter und im Land der Troubadoure danach«.25

Zu Beginn der Reconquista übernahmen die Burgherren wichtige militärische Aufgaben, gewannen dadurch an Macht und kamen durch die Fronarbeit der leibeigenen Bauernschaft zu Wohlstand. Eine Handvoll dieser richs homens bildete kleine Privatstaaten und stieg zunächst zu Grafen und schließlich zu Herzögen auf. Darunter waren die Montcadas, die Coloma von Queralt und die Grafen von Cardona, Urgell, Empúries und Pallars-Sobira. Sie sollten im 14. Jahrhundert den Höhepunkt ihrer Macht erreichen. Die Herkunft des Montcada-Clans illustriert diese Entwicklung: Montcada oder Moncada war eine kleine Burg, zu deren Füßen sich ein Dorf ausbreitete, zwölf Kilometer von Barcelona aus ins Land hinein, nahe der Abtei St. Cugat des Valles. Im frühen 12. Jahrhundert heiratete die Erbin einen unbekannten Ritter namens Guillem Ramón (1090–1173), der bis zum »Groß-Truchsess« am Grafenhof aufstieg. Die Familie bekam noch das Gebiet Tortosa-Lleida im Bezirk »Neu-Katalonien« im Süden geschenkt und prosperierte. Die nächste Generation besaß schon zwischen zwanzig und dreißig Burgen und Herrenhäuser, manche in der Umgebung von Tortosa, manche in der Diözese Vic und andere im Bezirk Girona. Einer von ihnen gründete durch Heirat mit der Erbin des Béarn einen Familienzweig auf der anderen Seite der Pyrenäen. Damit war ihre Zukunft gesichert.26 All diese großen Familien lebten von der Plackerei der Unfreien – die Leibeigenen von Aragón-Barcelona, darunter viele Mauren, arbeiteten mit Sklaven Seite an Seite. In Barcelona, Valencia und später in Palma fanden regelmäßig Sklavenmärkte statt. Die Ware, oft maurische Gefangene, wurde von Adligen und Kaufleuten für den eigenen Haushalt oder von ausländischen Händlern gekauft.

 

Die Regierungsstrukturen waren für ihre Zeit durchaus fortschrittlich. Beratende und bevollmächtigende Tendenzen kann man bis auf Versammlungen der pau i treva – der »Gottesfrieden«-Bewegung – des Adels ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen. Das erste katalanische Gesetzbuch, die Usatges de Barcelona (1068), basierte auf den Entscheidungen solcher Versammlungen. In den Augen vieler Autoren ist hingegen die Zusammenkunft katalanischer und aragonesischer Adliger, die der König und Graf 1216 in Lleida einberief, der eigentliche Beginn einer langen parlamentarischen Tradition: Von da an traten Parlamente in allen Teilen der Kronländer zusammen. In Aragón führten die 1247 in Huesca abgehaltenen Cortes zur Entstehung des Fuero d’Aragón, des »Codex von Huesca«.27 In Katalonien setzte die 1283 in Barcelona tagende Versammlung drei fundamentale Gesetze durch, von denen eines jährliche Sitzungen zur Pflicht machte. Diese Corts catalanes bestanden aus drei Armen oder braços, die die Kirche, den Adel und die Bürger der Königsstädte repräsentierten. Ihre wichtigste Aufgabe war die Gesetzgebung. Mit Zustimmung des Königs und Grafen konnten sie unter der Bedingung, dass sie im Gegenzug die von ihm eingebrachten Gesetze billigten, eigene Gesetze verabschieden (capitols de cort). Nach diesem Vorbild wurde die Teilhabe später auch in anderen abhängigen Territorien organisiert.

Der Adel gewann in diesem Arrangement an Macht und entwickelte eine starke Solidarität und ein Gefühl der Gleichberechtigung mit dem jeweiligen Herrscher. Eine Zeit lang, zwischen 1287 und 1348, kultivierte man in diesen Kreisen sogar eine Theorie des bewaffneten Widerstands gegen allzu machtbewusste Monarchen. Peter IV. erklärte später einmal: »Es ist ebenso schwer, den Adel Aragóns zu spalten, wie den Adligen Kastiliens zu einen.«

Schon vor dem Zusammenschluss mit Aragón hatten die Grafen von Barcelona begonnen, Territorien außerhalb der Iberischen Halbinsel in ihren Besitz zu bringen. Der erste Schritt war der Erwerb der Provence gewesen; der zweite, nur fünf Jahre später, der Erbfall der Cerdanya (Cerdagne) und von Besalú.

Seit 1032 war die Provence eine Markgrafschaft des Heiligen Römischen Reiches im Königreich Burgund (siehe S. 143ff.) gewesen. Anfang des 12. Jahrhunderts vermittelte der Papst eine Ehe zwischen Ramón Berenguer I., Graf von Barcelona, und Douce de Provence, Erbin der Markgrafschaft, und so kam die Provence ab dem Jahr 1112 für 134 Jahre unter die Herrschaft von Barcelona. Als die männliche Linie 1246 ausstarb, überführte die Ehe von Béatrice von Provence mit Karl von Anjou den Besitz in die französische Einflusssphäre der Angeviner28, was einer von mehreren Streitpunkten zwischen Anjou und Aragón werden sollte.

Die Hochzeit von 1112, gefeiert am 3. Februar in Arles, steht beispielhaft für die komplizierten Verwicklungen mittelalterlicher Heiratspolitik. Die Braut, Douce oder Dulçe, ein Einzelkind, hatte die Provence von ihrer Mutter geerbt. Aber sie war auch die Erbin der Ländereien ihres verstorbenen Vaters, Gilbert de Millau, Graf des Gévaudan. Also nahm ihr katalanischer Ehemann auch das Gévaudan (tief in der Abgeschiedenheit des heutigen département Lozère) und Millau (wo heute das beeindruckende Viadukt der Autoroute 75 steht) in Besitz. Darüber entsetzt, forderte der Bischof von Mende den König von Frankreich auf, die Katalanen fernzuhalten. Aufgrund seiner Initiative konnten die Franzosen überhaupt erst Ansprüche auf ein erstes Stück des Languedoc anmelden. Schließlich verkaufte Aragón 1225 das Gévaudan wie auch Millau an die Franzosen,29 aber damit waren nicht alle Probleme vom Tisch: Gilbert de Millau hatte auch Besitzansprüche auf eine Region an der Grenze zwischen Auvergne und Rouergue erhoben, die auf Französisch als Le Carlat und auf Katalanisch als Carladès bezeichnet wurde (heute im département Cantal). Also nahm Gilberts katalanischer Schwiegersohn auch den Carlat in Besitz und gab ihn an seine Erben und Nachfolger weiter. Im Jahr 1167 gelangte der Carlat als Lehen an die Grafen von Rodez, die ihre Feudalabgaben 360 Jahre lang entweder nach Barcelona oder nach Perpignan zahlten.

Und so ging es immer weiter. Eines der beiden Kinder von Ramón Berenguer I. und Douce de Provence, ein Mädchen, das nach ihrem Vater Berenguela de Barcelona (1116–1149) hieß, wurde 1128 als reiche Erbin mit Alfons VII., König von Kastilien, vermählt. So waren also die Stammväter der Königshäuser von Kastilien wie von Aragón-Katalonien direkte Nachkommen der Douce de Provence.30

Die Cerdanya dagegen fiel nach langer Unabhängigkeit durch Tod, nicht durch Eheschließung, an Barcelona. Die Landschaft ist geprägt durch eine Hochebene, auf der später die einzige bescheidene Stadt, Puigcerda, entstehen sollte. Als das Karolingerreich auseinanderbrach, hatten die Grafen ihren Sitz in Ripoll, südlich des Pyrenäenkammes, und schüttelten wie ihre Nachbarn in Urgell und Rosselló die Oberherrschaft nicht nur der Franken, sondern auch aller ihrer lokalen Rivalen ab. Ihr berühmtester Graf, Guifré El Pilós (Wilfried der Haarige, gest. 897), suchte den Schutz des Papsttums und erlangte eine gewisse Bedeutung als der Stammvater der Blutlinie, auf die sich das Haus Berenguers zurückführte.31 Die späteren Grafen der Cerdanya gliederten den angrenzenden Bezirk Besalú ein, doch im frühen 12. Jahrhundert gingen ihnen die Erben aus, und 1117 überschrieb der letzte Graf sein Erbe testamentarisch seinen Verwandten in Barcelona. Von da an bildeten die Cerdanya und Besalú 542 Jahre lang das Herz der natürlichen Festung Nordkataloniens.32

Vor der Vereinigung bestand die Flagge der Grafschaft Barcelona aus vier roten Querstreifen auf goldenem Grund. Nach der Union symbolisierte eben diese Flagge oft den Gesamtstaat. Die königliche Standarte dagegen zeigte einen gekrönten Schild mit den Wappen Aragóns und Kataloniens in seinen vier Feldern. Die Umschrift lautete meist: »Dei Gratia Rex Aragonensis, Comes Barchinonensis et Marchio Provinciae« (»Durch Gottes Gnade König von Aragón, Graf von Barcelona und Markgraf der Provence«). Dieses Sammelsurium von Besitzungen hatte zunächst gar keinen eigenen Namen, doch seit der Mitte des 13. Jahrhunderts sprach man immer häufiger von der Corona aragonensis, der »Krone Aragón«, und auch die moderne Historiografie benutzt – durchaus zu Recht – diesen Ausdruck.

Herrscherdynastien liefern den Leitfaden der Eigentumsrechte und der politischen Kontrolle, der hilft, das komplizierte territoriale Puzzle des mittelalterlichen Europas zu erklären. Diese Dynastien lebten nach den allgemein anerkannten Prinzipien des Besitzes, der Erbfolge und des Krieges, nach feudalen Vorstellungen der Rechtsprechung, basierend auf dem Besitz des Landes, und nach einer politischen Ordnung, die durch eine ausgeklügelte Hierarchie von Herren und Vasallen funktionierte. Sie erwarben ihre Ländereien und Titel durch Ehe, Erbschaft und Legat, durch Kauf, Eroberung und gelegentlich durch Schenkung. Sie verloren sie durch Todesfälle in der Familie, durch Gerichtsurteile zu ihren Ungunsten, durch Verkauf oder militärische Niederlage. Und sie verteidigten sie mit ihrem Gefolge von Rittern, mit dem Segen einer dienstbaren Geistlichkeit und mit ganzen Heerscharen von Anwälten.

Wie schon an anderer Stelle vorgeschlagen, kann man die dynastischen Verflechtungen des Mittelalters vielleicht am besten in Analogie zu den internationalen Konzernen heutiger Zeit verstehen.33 In gewissem Sinne war die Vereinigung aus Königtum und Grafschaft ein politisches Unternehmen, und »Aragón« war eine bekannte Marke. Das Unternehmen verließ sich für seinen Schutz auf seinen militärischen Firmenzweig, doch seine wichtigsten Aktivposten waren das Land und das Geld, das durch Abgaben und Steuern hereinkam. Alle Teilterritorien genossen ein großes Maß an Autonomie, die Adligen bildeten eine lokale Managerschicht, die die Tochterfirmen führte. Die Corts oder Versammlungen, in denen die Adligen die Richtung vorgaben, waren die Vorstände der Tochterfirmen. Durch Konvention war vorgegeben, dass die Dynastie die Elite der Spitzenmanager – die CEOs – stellte, die durch ihren königlichen Status aus der Masse herausgehoben waren und, wenn es die Umstände erforderten, von Firma zu Firma, von Land zu Land zogen. Man sollte zudem nicht vergessen, dass das »Unternehmen« Aragón-Barcelona überhaupt erst durch die zufällige Fusion von 1137 entstand.

Geografische Nähe ist ebenfalls von Bedeutung: Die Grafschaft Barcelona und das Königreich Valencia, die im 12. und 13. Jahrhundert zu Aragón kamen, galten mit der Zeit als Kernland, als die wesentlichen Territorien des »inneren Reiches«, im Unterschied zum »äußeren Reich« jenseits des Meeres. Dennoch sehen sich Historiker einem ganz realen Problem gegenüber, wenn sie Aragóns weit verstreute Länder zusammenfassen wollen. In jüngerer Zeit haben sie häufig vom »aragonesischen Reich« oder vom »Aragónesisch-katalonischen Reich« gesprochen. Missmutige scholastische Einwände, dass aragon nicht dasselbe sei wie das antike Römische Reich oder das moderne British Empire, führen nicht da weiter. Wichtiger ist nämlich, dass diese unhistorische Begrifflichkeit ihren Zweck erfüllt: Die Krone Aragón war zwar dynastischen Ursprungs und ihrem Wesen nach dezentral, aber sie war mehr als ein Sammelsurium zufälliger Erwerbungen. Sie bildete eine dauerhafte politische Einheit mit einer gemeinsamen Treuepflicht, gemeinsamen Traditionen, gemeinsamen kulturellen Neigungen und starken wirtschaftlichen Binnenbeziehungen.34 Wie man dieses Gebilde klassifiziert, ist zweitrangig. Nach Meinung eines Wissenschaftlers, der sich vor allem mit dem Goldenen Zeitalter Spaniens beschäftigt, zählte es zu den »beeindruckendsten Staaten des mittelalterlichen Europa«.35

Die Erben und Nachfolger von Alfons II. und Alfons I. regierten zehn Generationen lang in direkter männlicher Linie. Um die Sache noch komplizierter zu machen, führten sie alle einen aragonesisch-spanischen Namen neben ihrem katalanischen und wurden als Könige von Aragón bzw. Grafen von Barcelona teilweise unterschiedlich gezählt. Auch für ihre Beinamen gab es jeweils eine aragonesische und eine katalanische FormD:


1137–1162 Petronila von Aragón und Ramón Berenguer IV. El Sant
1162–1196 Alfonso II. El Casto/Alfons I. El Trobador
1196–1213 Pedro II. El Católico/Pere I. El Catòlic
1213–1276 Jaime I. El Conquistador/Jaume I. El Conqueridor
1276–1285 Pedro III. El Grande/Pere II. El Gran
Alfonso III. El Franco/Alfons II. El Liberal
1291–1327 Jaime II. El Justo/Jaume II. El Just
1327–1336 Alfonso IV. El Benigno/Alfons III. El Benigne
1336–1387 Pedro IV. El Ceremonioso/Pere III. El Ceremoniós
1387–1396 Juan I. El Cazador/Juan I. El Caçador (der Jäger)
1396–1410 Martin I. El Humano/Marti I. L’Humà
1410–1412

Das Herrschaftsgebiet dieser Könige dehnte sich über diese ganze lange Zeit hinweg immer weiter aus. Es gab tatsächlich keinen Zeitraum zwischen dem 12. und dem späten 15. Jahrhundert, in dem sich Aragóns »Reich« nicht entweder neue Länder einverleibte oder intensiv damit beschäftigt war, mit ihnen fertig zu werden. Schon in den ersten Jahrzehnten nach dem Zusammenschluss kamen verschiedene wertvolle Gebiete hinzu. Während Ramón Berenguer El Sant auf seine Hochzeit mit Königin Petronila wartete, kämpfte er unablässig gegen die Mauren und errang 1148 die Herrschaft über Tortosa im Süden wie auch über Lleida (Lérida) im Nordwesten. Das Rosselló fiel seinem Sohn in die Hände, Montpellier seinem Enkel in den Schoß.

 

Das Rosselló wahrte seine Unabhängigkeit fünfzig Jahre länger als die Cerdanya, wurde aber 1172 auf die gleiche Weise vereinnahmt. Dieses Gebiet war von großer strategischer Bedeutung, weil es nicht nur den bequemsten Pyrenäenübergang auf der alten Via Augusta kontrollierte, sondern auch die quer dazu laufende Handelsroute zwischen dem Atlantik und dem Mittelmeer. Es besaß einen wertvollen Hafen in Colliure (Collioure) und eine beeindruckende Linie stark befestigter Burgen, darunter Perpinya (Perpignan), zum Languedoc hin. Aufgeteilt war es in drei alte comarcas oder »Bezirke«: El Gonflent mit dem Hauptort Prada (Prades) im Tal der Têt, das Vallespir im Tal der Tech und das subalpine Capcir am Oberlauf der Aude.

In den fünf Jahrhunderten, die das Rosselló zu Katalonien gehörte, diente es als nordöstliches Bollwerk des aragonesisch-katalanischen Kernlandes. Wiederholt wehrte es französische Angriffe ab. Als die Franzosen während des Albigenserkreuzzugs gegen die häretische Sekte der Katharer im frühen 13. Jahrhundert ins Languedoc kamen, stand es fest gegen die Ehrfurcht einflößende Macht aus Carcassonne. Dennoch versuchten die meisten französischen Heere hier, sich Zutritt zur Iberischen Halbinsel zu verschaffen. In einem berühmtberüchtigten Fall war es ein Abt, der dem französischen König persönlich den Weg durch die Verteidigungslinien wies:

Vier Mönche, die aus Toulouse stammten und in einem Kloster bei Argelès waren, kamen zum König von Frankreich. Einer derselben war der Abt des Klosters… Selbiger Abt nun sprach zum König von Frankreich: »Herr, ich und diese anderen Mönche, wir sind Eure Landsleute und Untertanen … Wenn es Euch beliebt, wollen wir Euch einen Durchgang zeigen … Schickt nur einen Eurer richs homens mit tausend Rittern hin und gebt ihm eine gehörige Zahl Fußvolk mit, dass sie mit dem Werkzeug einen Weg bahnen. Voran können etwa tausend Mann zu Fuß ziehen, damit, wenn der Feind etwas merkt, er erst mit diesen zu tun hat, dieweil die anderen, die am Weg arbeiten, ihr Werk ungestört fortsetzen. Also, Herr, könnt Ihr wahrhaftig mit Eurem ganzen Heer passieren …« Der König von Frankreich sprach: »Abt, woher wisst Ihr das?« »Herr, weil unsere Leute und Mönche tagtäglich dahin gehen, Holz und Kalk zu holen. Man nennt diesen Weg den Pass von Massana. Fragt nur den Graf von Foix, der diese Gegend gut kennt, … so werdet Ihr hören, dass es so ist.« »Nein«, sagte der König, »ich werde niemand fragen, ich traue Euch; noch diese Nacht soll geschehen, was erforderlich ist.«37

Dies war nicht das erste und sicherlich nicht das letzte Mal, dass französische Soldaten in Katalonien auftauchten. Aber sie hatten selten Erfolg. In diesem Fall starb der französische König bei seiner Rückkehr nach Frankreich in Perpinya.38

Montpellier, eine direkte Nachbarstadt von Nîmes und Arles, liegt jenseits der Ebene des Languedoc, 130 Kilometer vom Rosselló entfernt. Es ist die einzige größere Stadt in Languedoc-Septimania, die keine römischen Wurzeln hat, sondern rund um einen befestigten Hügel gewachsen ist, auf dem sich die Einwohner vor sarazenischen Raubzügen in Sicherheit brachten. Montpellier entwickelte sich wegen seiner Nähe zum Rhône-Tal und der Grenze zum Heiligen Römischen Reich zu einem dynamischen Handelszentrum – in dieser Hinsicht wurde es erst im Späten Mittelalter vom damals aufstrebenden Marseille übertroffen. Die berühmten Rechts- und Medizinschulen von Montpellier waren Mitte des 12. Jahrhunderts gut eingeführt, und ihre Toleranz gegenüber Muslimen, Juden und Katharern mehrte noch den Ruf der Stadt.

Montpelliers Verbindung zur Krone Aragón entstand im Jahr 1204 durch die Ehe von König Peter II. mit der Erbin Dame Marie de Montpellier. Die Stadt mit ihrem großen besteuerbaren Reichtum bildete die Mitgift der Braut. Ihren Platz in der aragonesischen Geschichte allerdings sicherte sie sich als Geburtsort von Maries Sohn Jaime El Conquistador, Jakob »dem Eroberer«. Im Jahr 1208 verkündete seine Mutter in ihrer Heimatstadt die Schwangerschaft:

Die Ratsherren der Stadt … verordneten, dass [sie] den Palast und die Königin nicht verlassen würden, und auch die Frauen und Fräulein nicht, die mit dabei gewesen, bis dass die neun Monde vorüber wären … So blieben sie zusammen bei der Königin in großem Vergnügen, und ihre Freude wurde noch viel größer, als sie sahen, dass es Gott gefallen hatte, ihre Absicht zu erfüllen; denn die Königin war gesegneten Leibes, und am Ende von neun Monden, wie es der Lauf der Natur ist, gebar sie einen schönen, stattlichen Sohn, der war geboren zum Heil der Christen und besonders zum Heil seines Volkes … und mit großer Freude und Lust tauften sie ihn in der Kirche unsrer lieben Frau von les Taules. Und mit Gottes Gnade gaben sie ihm den Namen En Jaime, und er herrschte lange Zeit siegreich und förderlich dem katholischen Glauben und vornehmlich zum Frommen aller seiner Vasallen und Untertanen.

Und der Infant En Jaime wuchs heran und nahm in einem Jahr mehr zu denn ein andrer in zweien. Und es währte nicht lange, so starb sein Vater, der gute König, und er wurde gekrönt zum König von Aragón und Graf von Barcelona und Urgell und Herrn von Montpellier.39

Die Verwaltung von Montpellier war nicht gerade einfach. Vor 1204 hatten sich die Vorgänger von Dame Marie die Rechtsprechung in der Stadt mit den Bischöfen von Maguelonne geteilt. Dann jedoch verkauften die Bischöfe ihren Teil der Stadt an den König von Frankreich. Jetzt mussten die aragonesen mit französischen Beamten zusammenarbeiten, und zwei Gerichtssysteme, ein aragonesisches und ein französisches, standen parallel nebeneinander.

Dadurch war Montpellier frei von direkter königlicher Kontrolle und der damit einhergehenden restriktiven Gesetzgebung und wuchs schnell. Am Ende des Jahrhunderts hatte die Stadt etwa 40.000 Einwohner; sie besaß eine blühende Seidenindustrie, war ein Umschlagplatz zwischen See- und Binnenhandel, vor allem im Gewürzhandel, und zog damit eine dynamische Finanzbranche an. Viele wegweisende Techniken des Kredit- und Bankwesens gelangten in argonesischer Zeit von Italien nach Montpellier.

Die relative Unabhängigkeit machte Montpellier oft zum Ziel von Flüchtlingen. Entflohene Leibeigene, Schuldner, Verbrecher, die sich der Gerichtsbarkeit entziehen wollten, und Häretiker suchten Zuflucht in den geistlichen Häusern der Stadt. Eine Untersuchung dieser Situation, die der König von Frankreich 1338 veranlasste, hat uns eine reiche Sammlung von Berichten hinterlassen. Die städtischen Gerichte waren alles andere als milde; das Urteil lautete häufig Verbannung oder Exekution. In einem Fall wurden vier Ausländer zu dem Geständnis gezwungen, sie hätten einen Doktor der Rechte angegriffen, ihn für tot gehalten und sich dann nicht weiter um ihn gekümmert. Auf der Stelle wurden sie wegen Mordes hingerichtet, während sich ihr Opfer von dem Übergriff erholte.40

Montpellier beherbergte auch eine große jüdische Gemeinde, die sich vor allem der Medizin, dem Geldverleih und der Rechtsprechung widmete. Ihre medizinischen und finanziellen Aktivitäten kamen allen ihren Mitbürgern zugute; die Auseinandersetzungen indessen waren meist theologischer Natur und richteten sich gegen jüdische Glaubensbrüder. Die Korrespondenz zwischen Abba Mari von Montpellier und Rabbi Ibn Adret von Barcelona dokumentiert zum Beispiel einen konzertierten Angriff auf die Autorität des großen kastilischen Gelehrten Maimonides durch den bekannten Talmudisten Solomon von Montpellier und seinen Kreis.41