Verschwundene Reiche

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III

Die Geschichte Schottlands hat wie die Geschichte Englands mehrere Phasen mit ebenso weitreichenden kulturellen und sprachlichen wie politischen Veränderungen durchlaufen. Man muss sich von der gängigen Vorstellung verabschieden, dass Sprache und Kultur endlos von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, als seien »Schottentum« oder »Britentum« wesentliche Bestandteile eines bestimmten nationalen genetischen Codes. Wenn dies der Fall wäre, könnten aus verschiedenen ethnischen Elementen keine neuen Nationen – wie die Vereinigten Staaten von Amerika oder Australien – entstehen. Die Fähigkeit menschlicher Gesellschaften, Kulturen zu integrieren wie auch verschwinden zu lassen, wird stark unterschätzt. So wie Einzelne im Ausland in einer fremden Gemeinschaft aufgehen, so kann auch eine ortsansässige Bevölkerung, wenn sich die sprachliche und kulturelle Umgebung ändert, leicht dazu gebracht werden, sich anzupassen. Dominante Kulturen sind eng mit dominanten Gruppen verbunden. Wenn sich das Machtgleichgewicht ändert, verschiebt sich auch das Gleichgewicht der Kulturen.

Während der Existenz von Alt Clud war die britische Bevölkerung des »Alten Nordens« wiederholt äußeren kulturellen Einflüssen unterworfen. In der römischen Zeit war Latein die Herausforderung, zusammen mit der klassischen und später der christlichen Kultur, die sich mit der lateinischen Sprache eröffnete. In den »Dunklen Jahrhunderten« kam es zu einem doppelten Ansturm des Gälischen, das sich von Norden und Westen her verbreitete, und der verschiedenen Formen des Englischen aus dem Süden. Die heidnische nordische Kultur übte während der Wikingerzeit einen gewissen Einfluss aus, genau wie das normannische Französisch in der Zeit nach der Eroberung. Letztendlich versank die brythonisch-cumbrische Sprache nach einem langen Überlebenskampf in den Fluten, und die »Strathclyders« wurden zu einer besonderen Unterart der Schotten.

Im mittelalterlichen Schottland standen die gälischen Skoten, die das Vereinigte Königreich im 9. Jahrhundert gegründet und ihm ihren Namen gegeben hatten, immer stärker unter einem solchen Anpassungsdruck. Ihre Vorherrschaft dauerte nur etwa 200 Jahre,82 dann wurden sie durch neue nichtgälische Eliten aus den südlichen Lowlands ersetzt. Sie selbst wurden immer weiter in ihre Rückzugsräume in den Highlands und auf den Inseln zurückgedrängt. Nachdem sie die Pikten und Briten aufgesogen und ihre Stunde des Ruhms genossen hatten, sahen sie sich jetzt mit demselben Schicksal einer langsamen Auflösung konfrontiert wie einst ihre Rivalen in Piktland und im Alten Norden. Eine Zeit lang, nachdem Schottland seine Unabhängigkeit gegenüber England im 14. Jahrhundert bekräftigt hatte, bestand noch ein gewisses inneres Gleichgewicht, doch im Nachhinein betrachtet hatte der lange Rückzug schon begonnen.

In der Frühen Neuzeit allerdings kam die Gaeltacht wieder in Bewegung. Große Teile von Nordostschottland wurden anglisiert. Die Lowlanders wurden Protestanten, während viele Highlanders, deren Clans noch immer wie in uralten Zeiten von alljährlichen Plünderzügen und Viehdiebstahl lebten, Katholiken blieben. Vor allem aber bestieg im Jahr 1603 ein Stuart den Thron von England. Das gab den schottischen Lowlanders und Protestanten eine Machtverbindung nach außen, mit der die Gälen nie konkurrieren konnten. Kurz darauf wurde eine Kolonie militanter schottischer Protestanten in Ulster angesiedelt und die Gälen so von ihren irischen Verwandten abgeschnitten. Später im selben Jahrhundert zeigte Oliver Cromwell mit Feuer und Schwert, dass die drei Königreiche auf den Britischen Inseln nicht mehr als gleichberechtigt gelten konnten. Im Jahr 1707 kam es zur Union, und kurz darauf wurde das protestantische Königshaus Hannover eingesetzt, das einem fernen Parlament in Westminster verpflichtet war. Seitdem war es aus gälischer Perspektive nur noch eine Frage der Zeit, wann es zu einem letzten Aufbäumen kommen würde.83 Das tief verwurzelte Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, und eine wachsende Schwermut befielen die Gälen, wenn sie das Scheitern ihrer Aufstände 1715 und 1745 und die Unterdrückung ihrer Lebensweise betrachteten. Ähnlich müssen sich die Briten des Alten Nordens fast tausend Jahre zuvor gefühlt haben. Ihre Krieger waren nicht weniger tapfer, ihre Sprache nicht weniger poetisch, ihre Geschichte nicht weniger alt. Und doch mussten sie sich den stärkeren Bataillonen und der politischen Notwendigkeit beugen. Im Vorfeld der entscheidenden Schlacht von Culloden im Jahr 1746 rezitierten die gälischen Clansmen ihre Genealogien unter Kanonenbeschuss, um darin eine Motivation für den Kampf im regendurchnässten Moor zu finden. Die Briten bei Catraeth oder Nechtansmere könnten durchaus das Gleiche getan haben. Denn die dem Untergang geweihten Kelten waren von einem entsprechenden Fatalismus erfüllt. Die Dinge geschahen, weil sie geschehen mussten. Die Natur war grausam. Tiere töteten Tiere. Männer kämpften gegen Männer. Arten starben aus, aber das Leben ging weiter. Der Tod gehörte zum Leben dazu.

Der Unterschied zwischen dem Schicksal der schottischen Gaeltacht und des Alten Nordens liegt darin, dass die Gälen ein paarmal von einer Gnadenfrist profitieren konnten.

Nach 1746 wurde den Highlanders verboten, Waffen zu tragen, ihre Tartans anzulegen oder ihre Muttersprache zu sprechen. Zehntausende wurden während der Clearances, der »Räumung des Hochlands«, nach Kanada verschifft, und in vielen Tälern gab es nichts als Schafe und Ödnis.84 allgemeinen Sprachgebrauch wurde der Begriff »Schottland« praktisch durch »Nordbritannien« ersetzt. Nach den Napoleonischen Kriegen allerdings unternahm man bewusste Anstrengungen, das gälische Erbe wieder in das schottische Leben zu integrieren. Als Georg IV. im Jahr 1822 Edinburgh besuchte, inszenierte Walter Scott, dessen Romane eine zeitlose romantische Version der schottischen Geschichte bieten, eine großartige Show, bei der wieder Kilts und Tartans getragen werden durften. In einer symbolischen Versöhnungsgeste verlegte Königin Victoria ihren Sommersitz nach Balmoral und verstärkte damit noch das romantische Image der Highlands. Seit dieser Zeit nährt sich Schottlands Identität aus der faszinierenden Symbiose zwischen dem Lowland-Erbe eines Robbie Burns und dem Highland-Erbe eines Rob Roy MacGregor. Und im 20. Jahrhundert, als das Gälische wieder in den letzten Zügen lag, wurde es mit knapper Not durch Bildungshilfen, gälische Fernseh- und Radioprogramme und den Status als offizielle Amtssprache wiederbelebt.85

Die Entwicklung von Strathclyde in der Moderne ist stark durch die Kluft zwischen den Highlands und den Lowlands geprägt. Der Firth of Clyde bildete jahrhundertelang einen wichtigen Grenzabschnitt, wie zuvor der Antoninuswall. Doch während der Industriellen Revolution kamen die Gälen mit Macht zurück. Zusammen mit den Iren von der anderen Seite des Meeres strömten sie an die viktorianische Clydeside, um in den Minen zu arbeiten und Schiffe zu bauen. Sie kamen nicht als Helden mit Eroberungsdrang, sondern als bitterarme Migranten und hungrige Arbeitslose, die in einem fremden Land um eine Anstellung bettelten. Auch sie mussten sich anpassen, aber sie gaben Glasgow eine große Dosis seines einzigartigen modernen Flairs. Sie sorgten dafür, dass Celtic Glasgow auf Augenhöhe mit den Glasgow Rangers spielt und dass die Heimat Harry Lauders und des hl. Mungo sich so sehr von Edinburgh unterscheidet wie einst wohl auch Dun Breteann von Dunedin in Bernicia.86

Dennoch sind die langfristigen Aussichten für die gälische Lebenswelt unsicher. In Irland wie in Schottland steht sie noch immer nur einen Schritt vor der Auslöschung. Es kommt einem das bemerkenswerte Werk des Geistlichen James Macpherson (1736–1796) aus den Highlands in den Sinn, dessen Leidenschaft für die Gälen zu einem der großen Triumphe literarischer Fälschung führte. Seine Gedichtsammlung, zuerst als Ossian veröffentlicht, war angeblich eine Übersetzung von Werken eines alten gälischen Barden, die man zufällig in einem staubigen Verlies gefunden hatte. Diese Produkte der überaus fruchtbaren Fantasie des Dichters täuschten die meisten berühmten Literaten seiner Zeit. Sie überzeugten Goethe, konnten Scott für sich gewinnen und verzauberten Napoleon. Und sie zeigten, dass sich Macpherson durchaus des Vorgängerreiches Alt Clud bewusst war:

I have seen the walls of Balclutha

But they were desolate …

And the voice of the people is heard no more.

The thistle shook there its lonely head;

The moss whistled to the wind.

Ich habe die Mauern Balcluthas gesehn,

aber sie waren verwüstet …

dort hört man nicht mehr die Stimme des Volkes …

dort schüttelt’ die Distel ihr einsames Haupt,

das Moos pfiff in dem Wind.87

A Diesen Namen gaben die Römer einer Gruppe gälisch sprechender Bewohner Nordostirlands, die Britannien im späten 4. Jahrhundert überfielen und danach auf beiden Seiten des North Channel siedelten. Allerdings wuchs die Zahl jener, die später das Etikett »Schotten« aufgedrückt bekamen, dramatisch an. Ursprünglich waren damit die Gälen aus Irland, eben die Skoten, gemeint, die sich in Argyll niederließen, später bezog es sich auf das Königreich des 9. Jahrhunderts, das durch einen Zusammenschluss der Gälen und Pikten entstanden war, und schließlich umfasste es alle Bewohner des Königreichs Schottland ganz unabhängig von ihrer sprachlichen und ethnischen Herkunft.

 

B Lallans ist die lokale Bezeichnung für die Sprache der »Lowland-Schotten«, wie sie im südlichen Teil Schottlands gesprochen wird.

C „In der Abenddämmerung am Ufer des Clyde, mit der Liebsten an meiner Seite. Am schönsten ist es, wenn die Sonne sich neigt, ach wie schön ist es, in der Abenddämmerung zu wandeln (Ü.d. Red.).

D Die »Britischen Inseln« als geografische Bezeichnung des Archipels im Nordwesten Europas wurden nach monarchischen Kriterien im Jahr 1603 und verfassungsrechtlich im Jahr 1801 britisch. Seit der Gründung der Republik Irland 1949 sind sie es nicht mehr.

E Das altgermanische walchaz, »ausländisch« oder »fremd«, spiegelt sich ähnlich im niederländischen waalsch wieder, das »wallonisch« bedeutet.

3
Burgund

Fünf, sechs oder sieben Königreiche

(um 411–1795)


Burg Hammershus auf Bornholm

I

Bornholm, die »Perle der Ostsee«, ist eine kleine, abgelegene dänische Insel mitten im Meer. Sie liegt rund 200 Kilometer östlich vom dänischen Festland und auf halbem Weg zwischen Schweden und Polen. Ihre Fläche umfasst 588 Quadratkilometer – damit ist sie ungefähr so groß wie die Isle of Man oder Malta; die Bevölkerungszahl, die langsam zurückgeht, beläuft sich auf 41.300 (2012). Die Insel bildet eine eigene Verwaltungseinheit und lebt von Fischerei, Landwirtschaft und Bergbau und im Sommer vom Tourismus. Zu ihren bedeutendsten Exportgütern gehören Granit, Backsteine und Heringe.1

Nach Bornholm gelangt man gewöhnlich mit der Fähre, die dreieinhalb Stunden vom deutschen Hafen Sassnitz braucht, sechs Stunden von Kopenhagen und sechseinhalb vom polnischen Świnousjście; von Ystad in Schweden dauert die Überfahrt mit dem Tragflügelboot zwei Stunden. In der Hauptstadt Rønne gibt es einen Flugplatz, der von SAS Scandinavian und von der lokalen Fluggesellschaft Cimber Air angeflogen wird und bis April 2010 auch von »Wings of Bomholm«.2

Landschaftlich ist die Insel sehr abwechslungsreich. Das Inselinnere ist geprägt durch üppige Wiesen und dunkle Wälder. Einige Strände sind sandig, andere werden von steilen, vulkanischen Klippen gesäumt. Viele, wie der besonders beliebte Dueodde-Strand, sind von feinem, weißem Sand bedeckt. Es gibt mehrere kleine Städte, wie Rønne, Nexo, Allinge, Gudhjem und Svaneke. Die höchste Erhebung erreicht eine Höhe von 162 Metern. Das bedeutendste Merkmal Bornholms sind jedoch die langen Sommertage, die zwanzig Stunden Sonnenschein, Wärme und frische Ostseeluft bieten. Das milde, sonnige Klima ist dem Gartenbau und dem Obstanbau sehr zuträglich, und in geschützten Lagen gibt es blühende Sträucher und Feigenbäume.

Die Bewohner sprechen eine eigene Sprache, Bornholmsk, die sich gleichermaßen vom Dänischen wie vom Schwedischen unterscheidet; mit ihren grammatikalischen Besonderheiten wie dem dreifachen Geschlecht ähnelt sie mehr dem Norwegischen oder dem Isländischen, phonetisch gleicht sie dem schonischen Dialekt, der in Südschweden gesprochen wird.3

Eine Organisation namens »Bevar Bornholmsk« widmet sich der Erhaltung der Sprache, und es gibt mehrere erfolgreiche Musikgruppen, die die traditionelle Musik der Insel pflegen.4 Dänen, die aus Kopenhagen zu Besuch kommen, sieht man häufig mit einem Bornholmsk-Wörterbuch unter dem Arm. In der Medizin ist der Name Bomholm mit der Bornholmkrankheit verbunden, einer Virusinfektion, die hier 1933 erstmals dokumentiert wurde.5

Nichtsdestotrotz wird in der Tourismuswerbung dieses »Paradies für die Seele« gepriesen, wo man allen Arten von Aktivitäten im Freien nachgehen kann. In den Werbebroschüren ist die Rede von der Østersøens Perle (»Perle der Ostsee«), von Solopgangens Land (»Land des Sonnenaufgangs«), von maleriske fiskelejer (»stillen Fischerdörfchen«), von Pelle Eroberen (»Pelle der Eroberer« – Titel eines populären Romans6) und natürlich von Velkommen til Bornholm. Radfahren, Golfspielen, Angeln, Strandspaziergänge unternehmen, Windsurfen und ein Besuch in einem der Naturparks werden wärmstens empfohlen. Es gibt eine Greifvogel-Show und einen Schmetterlingspark und an den langen Juni-Tagen Veranstaltungen für Kletterer sowie für die Anhänger der neuen Sportart Ultramarathon.7 Jedes Jahr findet in der Hafenstadt Tejn das Trolling Masters Bornholm statt, ein Schleppangel-Wettbewerb mit Schnellbooten.8 Da Nacktbaden überall in Dänemark erlaubt ist, bietet Bornholm auch FKK-Anhängern eine Fülle von Angeboten.9 Das Gebiet westlich des Leuchtturms am Dueodde-Strand ist seit Langem ein beliebtes Touristenziel. Bornholm preist sich auch als »Grüne Insel« an. Rund 30 Prozent des Strombedarfs der Insel werden bereits durch Windkraftanlagen erzeugt, und bis 2011 sollten alle benzinbetriebenen Autos durch Elektrofahrzeuge ersetzt werden.10

Urlauber werden ermuntert, sich mit Bornholms Geschichte zu beschäftigen oder zumindest mit Teilen davon. Zu den Themen, über die nicht viel gesprochen wird, gehören die Weigerung der sowjetischen Roten Armee, die Insel nach der Befreiung 1945 wieder zu verlassen, sowie die Abhörstationen, die im Kalten Krieg von der NATO auf Bornholm eingerichtet wurden. Die größte Aufmerksamkeit richtet sich heutzutage auf die rätselhaften »Rundkirchen«, die die Tempelritter Ende des Mittelalters hier errichteten,11 und auf die Patrioten, die Mitte des 17. Jahrhunderts die Freiheit der Insel gegen die Schweden zu behaupten versuchten. Viele Besucher besichtigen die eindrucksvollen, auf den Klippen gelegenen Ruinen der Burg Hammershus, der größten Festung in Nordeuropa, die der dänische König Waldemar der Siegreiche Anfang des 13. Jahrhunderts erbauen ließ und von der aus man einen atemberaubenden Blick über das Meer nach Schweden hat. Hier wird alljährlich ein Ritterturnier abgehalten, doch schon allein der Ausblick ist Grund genug, den Ort zu besuchen. An klaren Sommermorgen erzeugt das schimmernde Licht, das auf den Wellen unter den Mauern liegt, magische Momente. Zeit und Raum verschwimmen, die Fantasie bekommt Flügel. Von oben herab, vom »Heute« der Klippenspitze aus betrachtet, wird der Fuß der Klippe zum »Gestern«, die anlandenden Wellen des Meeres verkörpern die Jahrhunderte der Geschichte, und das gegenüberliegende Ufer, das kaum zu sehen ist, wird zur Zeit der Völkerwanderung.


Dennoch ist es lohnend, sich mit der frühesten Geschichte Bornholms zu befassen. Einheimische Archäologen haben herausgefunden, dass die Abfolge der prähistorischen Gräber irgendwann plötzlich ihr Ende fand, was die Vermutung nahe legt, dass die Bewohner entweder durch eine Naturkatastrophe oder eine Seuche ausgelöscht wurden oder massenhaft ausgewandert sind. In diesem Zusammenhang ist die alte nordische Form des Namens der Insel von Bedeutung: Burgundarholm. Der Westsachsenkönig Alfred der Große nannte sie in seiner Übersetzung der Werke des Historikers Orosius Burgenda-Land.

Bei der Suche nach den Ursprüngen eines Volkes muss diesem nicht notwendigerweise ein bestimmtes Herkunftsland zugewiesen werden. Primitive Stämme waren mobil; sie waren alle in gewissem Maße Wanderer oder Nomaden. Selbst jene, die Landwirtschaft betrieben, hielten sich oft nur eine Saison an einem Ort auf, dann zogen sie weiter. Diese Saison konnte ein paar Sommer dauern, ein paar Generationen oder auch ein paar Jahrhunderte. Sie fand ihr Ende, wenn das bebaubare Land erschöpft war, wenn sich das Klima änderte oder wenn ein anderer, kriegerischer Stamm auftauchte und sie vertrieb. Dass Bornholm mit den prähistorischen Wanderungen der Burgunder in Zusammenhang gebracht wird, ist daher durchaus glaubhaft; es ist nicht bewiesen, aber mehr als eine bloße Möglichkeit. Es bedeutet aber auch nicht, dass Bornholm der einzige bedeutende Aufenthaltsort der Burgunder gewesen wäre oder dass nicht auch andere Völker auf dieser Insel Station gemacht hätten. Doch die Burgunder müssen lange und in großer Zahl hier gelebt haben, so dass die frühen Geografen diese Verbindung herstellen konnten.12

Es wäre jedoch müßig anzunehmen, dass sich durchschnittliche Besucher der Insel über dieses Thema Gedanken machen. Nur historisch Interessierte verfolgen die geschichtliche Entwicklung einer Insel, die zwischen den verschiedenen Mächten im Ostseeraum umkämpft war. Die Dänen haben im Hinblick auf die Vergangenheit eigene Prioritäten: Sie träumen von den Eroberungen der Wikinger und erinnern sich an die noch nicht allzu lange zurückliegende Zeit, als die Küste jenseits von Bornholm, die heute schwedisch ist, noch zu Dänemark gehörte. Einige der Ereignisse in der viel gerühmten nordischen Jomsvikingesaga, in der die Kriege zwischen den Wikingern und den Slawen geschildert werden, fanden auf der Insel statt. Die überlieferte Geschichte Bornholms, so heißt es in den Lehrbüchern, begann zu der Zeit, als die Insel zu den Besitztümern der mittelalterlichen Bischöfe von Lund gehörte. Im Jahr 1523 wurde die Insel von Dänemark erobert, später an die Stadt Lübeck verpfändet und von den Dänen wieder ausgelöst. Bis 1648 stand sie unter schwedischer Besatzung, 1716 stattete ihr der russische Zar Peter der Große einen Besuch ab, von 1940 bis 1945 war sie von deutschen Truppen besetzt und am Ende des Krieges wurde sie von der Roten Armee befreit.13 Die unbeschwerten Touristen hingegen, die bestenfalls einige Bruchstücke dieser Geschichte kennen, paddeln auf dem Meer oder entledigen sich ihrer Kleider, unternehmen Fahrradtouren auf der Insel, lassen Drachen steigen und kreuzen mit ihren Segelbooten vor der Küste.

Im Dezember 2010 brach ein besonders heftiger Schneesturm über die Insel herein, der große Teile Nordeuropas heimsuchte. Bornholm wurde zum Katastrophengebiet erklärt. Das Dänische Meteorologische Institut maß auf der gesamten Insel im Minimum Schneemengen von 146 Zentimetern, in einigen Teilen türmten sich sogar bis zu sechs Meter hohe Schneewehen. Nachdem die Bewohner eine Woche lang vergeblich der Schneemassen Herr zu werden versucht hatten, riefen sie um Hilfe. Es mussten Militärfahrzeuge eingesetzt werden, um die Versorgung sicherzustellen und die Berge von Schnee ins Meer zu kippen.14 Doch abgesehen von der Nachricht, dass dies der kälteste Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1874 war, hatten die Bewohner keine Zeit, sich Gedanken über die Geschichte ihrer Insel zu machen.

II

Kaum ein Thema hat in der europäischen Geschichte für mehr Verwirrung gesorgt als die Frage, wie viele »burgundische Reiche« es gegeben hat. Nahezu alle historischen Untersuchungen oder Nachschlagewerke, die man dazu heranzieht, liefern widersprüchliche Informationen. Bereits 1862 fühlte sich James Bryce, Professor für Zivilrecht in Oxford, veranlasst, in seine wegweisende Studie über das Heilige Römische Reich eine spezielle Anmerkung »Über die burgundischen Reiche« aufzunehmen. »Es ist kaum möglich, eine geografische Bezeichnung zu nennen«, schrieb er, »die in der Vergangenheit mehr Verwirrung gestiftet hat und es heute noch tut …«15

 

Bryce war ein Mann von unermüdlicher Ausdauer und Gewissenhaftigkeit. Er stammte aus Glasgow, war Bergsteiger, ein Liberaler und Anhänger von Gladstone, Botschafter in den Vereinigten Staaten von Amerika und ein gewissenhafter Faktenprüfer. (Er bestieg einmal den Berg Ararat, um nachzuprüfen, wo Noahs Arche geblieben war.) In seiner berühmten »Anmerkung A« führt er jene zehn staatlichen Gebilde auf, die seinen Untersuchungen zufolge »zu bestimmten Zeiten und in unterschiedlichen Gebieten« den Namen »Burgund« trugen:


Das Regnum Burgundionum (Königreich der Burgunder), 406–534.
II. Das Regnum Burgundiae (Königreich Burgund) unter den Merowingern.
III. Das Regnum Provinciae seu Burgundiae (Königreich Provence oder Burgund), gegründet 877, »etwas ungenau Cisjuranisches Burgund genannt«).
IV. Das Regnum Iurense oder Burgundia Transiurensis (Königreich Jura oder »Transjuranisches Burgund«), gegründet 888.
V. Das Regnum Burgundiae oder Regnum Arelatense (Königreich Burgund oder Königreich Arelat), gebildet 937 durch den Zusammenschluss der Reiche III und IV.
VI. Burgundia Minor (Herzogtum Klein-Burgund).
VII. Die Freigrafschaft oder Pfalzgrafschaft Burgund (Franche-Comté).
VIII. Die Landgrafschaft Burgund, Teil des Reiches Nr. VI.
IX. Der Burgundische Reichskreis, errichtet 1548.
X.

Wie komplex dieses Thema ist, liegt auf der Hand, und schon eine kurze Beschäftigung mit der Anmerkung von Bryce weckt Zweifel. Doch dies war der erste Versuch, das Burgund-Problem in seiner Gesamtheit zu erfassen. Selbstverständlich sind weitere Nachforschungen erforderlich.

Das Königreich der Burgunder (Nr. I auf der Liste von Bryce) war eine relativ kurzlebige Angelegenheit. Es wurde von einem Stammesführer namens Gundahar in der ersten Dekade des 5. Jahrhunderts am westlichen Ufer des Mittelrheins gegründet. Er und sein Vater Gibica hatten ihren Stamm über den Fluss in das Gebiet des Römischen Reiches geführt, wahrscheinlich während des großen Barbareneinfalls im Winter 406/07, und schlugen sich anschließend auf die Seite eines lokalen Usurpators namens Jovinus, der sich 411 in Moguntiacum (Mainz) zum »Gegenkaiser« ausrufen ließ; Jovinus erklärte im Gegenzug die Burgunder zu »Verbündeten« seines Reiches. Nach Ansicht Roms allerdings waren alle diese Vereinbarungen unrechtmäßig.

Woher die Burgunder genau stammten, ist Gegenstand vieler wissenschaftlicher Spekulationen.17 Dass sie Ende des 4. Jahrhunderts am Main (unmittelbar östlich des Limes) lebten, ist in römischen Quellen dokumentiert, ebenso ihre Kriege mit den Alamannen. In einer Gedenkinschrift in Augusta Treverorum (Trier) wird ein gewisser Hanulfus erwähnt, der in römischen Diensten stand und Mitglied einer burgundischen Königsfamilie war. Die früheren Stationen der Wanderungen der Burgunder sind dagegen unklar. Eine Hypothese geht von einer Wanderung aus, die sich über vier Abschnitte erstreckte;18 der erste führte sie demzufolge im 1. Jahrhundert n. Chr. von Skandinavien an die untere Weichsel. In der zweiten Phase zogen sie zur Oder, in der dritten zur mittleren Elbe und in der vierten zum Main.


Die Burgunder sprachen eine germanische Sprache, die der Sprache der Goten ähnelte, die ebenfalls aus Skandinavien kamen. Wie die Goten hatten sie die arianische Form des Christentums angenommen und waren wohl auch mit der Wulfila-Bibel vertraut, einer Übersetzung des Neuen Testaments ins Gotische, die der aus Nordbulgarien stammende Bischof Wulfila angefertigt hatte.19 Zudem hatten sie durch den Austausch mit verschiedenen nichtgermanischen Stämmen den hunnischen Brauch des Kopfbandagierens übernommen, bei dem der Kopf von Mädchen von klein auf durch fest geschnürte Bandagen in eine längliche Form gebracht wurde. Dies hatte die unbeabsichtigte Folge, dass ihre Gräber von den Archäologen sofort erkannt wurden.

Den Mittelpunkt von Gundahars Königreich bildete die alte keltische Hauptstadt Borbetomagus (Worms); es erstreckte sich im Süden bis nach Noviomagus (Speyer) und nach Argentoratum (Straßburg). Die Neuankömmlinge, die ungefähr 80.000 Personen umfassten, gingen in der gallisch-romanischen Bevölkerung auf. Sie werden in dem angelsächsischen Gedicht Widsith erwähnt, in dem Herrscher aus dem 5. Jahrhundert aufgeführt werden. Widsith, der »Fernreisende«, behauptete, er habe das Reich Gundahars persönlich besucht:


Mid Pyringum ic waes … ond mid Burgendum. Paer ic geag geþah. aer ic beag geþah. Me þaer Guðohere forgeaf Glaedlicne maþþum. Songes to leane. Naes þaet saene cyning!

Doch Gundahars Stellung war von Anfang an schwach. Sobald die römischen Behörden wieder Tritt gefasst hatten, entschieden sie, ihn zu vernichten. Im Jahr 436 holte der römische General Flavius Aetius, ein Diener von Kaiser Valentinian III., Attilas Hunnen ins Land und ließ sie die blutige Arbeit verrichten. Angeblich wurden 20.000 Burgunder getötet.

Das Massaker an den Burgundern ging in den Fundus der nordeuropäischen Mythen ein. Es hallt wider in zahlreichen nordischen Sagen; es liegt auch der Sage der Nibelungen zugrunde, oder wie die Nordmänner sie nannten, der Niflungar, der Nachfahren der Nefi und Verwalter eines legendären Burgunderschatzes. Gundahar kehrt hier wieder als Gunnar, und Gunnars Schwester Gudrun wird nach ihrer Heirat mit Atli (Attila) die Stammmutter eines berühmten Geschlechts.

In dem zur Lieder-Edda zählenden Atlilied (Atlaqviða) werden zahlreiche Ereignisse und Namen erwähnt, die charakteristisch sind für das 5. und 6. Jahrhundert, unter anderem auch Gunnar und Gudrun.21 In der germanischen Tradition dagegen ist das Niflheim (»Dunkle Welt«) von kriegerischen Riesen und Kleinwüchsigen bevölkert. Nybling ist der ursprüngliche Hüter des Schatzes; Gundahar wird zu Günter, Gudrun zu Kriemhild, und Kriemhild heiratet Siegfried (»Sieg des Friedens«), den Sohn von Sigmund und Sieglind. In diesen später entstandenen Mythen und Sagen werden die Burgunder oft noch als Franken bezeichnet. Das Nibelungenlied aus dem späten Mittelalter ist durch eine Mischung aus Fakten und Fantasie geprägt, doch der grundlegende historische Zusammenhang wird in der modernen Geschichtswissenschaft kaum noch bestritten:

Viel Wunderdinge melden die Mären alter Zeit

Von preiswerthen Helden, von großer Kühnheit,

Von Freund und Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen,

Von kühner Recken Streiten mögt ihr nun Wunder hören sagen.22

Nach dem Massaker bei Borbetomagos verliert sich die Spur der Burgunder vorübergehend, doch bald taucht sie wieder auf in Berichten über die Schlachten zwischen Aetius und den Hunnen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine Gruppe von burgundischen Kriegern von den Hunnen gefangen genommen und zum Kriegsdienst gezwungen wurde, während andere unter dem neuen König Gundioch (reg. 437–474) in römische Dienste traten. Burgunder kämpften somit auf beiden Seiten in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im Juni 451 (siehe dazu S. 31) zwischen dem römischen General Aetius und den Hunnen, wo Gibbon zufolge »das Schicksal der gesamten westlichen Zivilisation auf dem Spiel stand«. Nach seinem Sieg versprach Aetius Gundioch ein Reich in der Provinz Sabaudia (eine alte Form des heutigen Savoyen, siehe dazu Kapitel 8). Dieses Mal ließen sich die Burgunder mit offizieller Erlaubnis im Römischen Reich nieder, wenn vielleicht auch eine größere Zahl der Überlebenden von Borbetomagus ungeordnet nach Süden floh und die kaiserliche Zusage nur den vollendeten Tatsachen Rechnung trug. Sabaudia erscheint nicht auf der Liste von Bryce, und es stellt sich die Frage, warum er die Gebiete von Gundahar und Gundioch nicht als eigenständige Reiche erwähnte. Sie genügen seiner Definition eines geografischen oder politischen Namens, der »zu bestimmten Zeiten und in unterschiedlichen Gebieten« verwendet wird. Die Kenngrößen im Falle von Gundahar lauteten »Anfang des 5. Jahrhunderts, Niederrhein«, bei Gundioch »Mitte des 5. Jahrhunderts, Oberrhein und Saône«. Es gab keine Überschneidungen. Gundiochs Herrschaftsgebiet wird heute entweder als das »zweite föderierte Königreich« oder als das »letzte unabhängige burgundische Königreich« bezeichnet.23