Kowalskis Mörder

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Wasserratte

Marek hatte noch zwanzig Minuten gewartet, nachdem Thomas in Richtung Köpenick aufgebrochen war. Er hatte versucht sich zu entspannen, was ihm aber nicht gelungen war. Er war zu sehr darauf konzentriert, was als nächstes passieren würde. Er hatte seine Telefone im Blick, aber niemand meldete sich. Es kam keine weitere HIKE-Nachricht und auch die Kollegen des Fahndungsdezernates ließen nichts von sich hören. Marek schnallte sich schließlich das Holster mit seiner Dienstpistole um und verließ das Haus.

Um Viertel vor acht bog er auf den Parkplatz ein, der zur Schwimmhalle in der Finckensteinallee gehörte. Das kastenförmige Backsteingebäude besaß am Eingangsbereich einen Säulengang, unter dem Marek an einem Ende zwei Reliefskulpturen erkennen konnte, die eine riesige Holztür flankierten. Der Baustil ließ sich eindeutig der Zeit zwischen 1933 und 1945 zuordnen, was aber in Berlin kein ungewöhnlicher Anblick war. Marek beugte sich über das Lenkrad und sah nach oben durch die Windschutzscheibe. Über dem Säulengang befanden sich eine Reihe großer Sprossenfenster. Das Gebäude schloss mit einem Flachdach ab.

Er konnte sich nicht erinnern, jemals an diesem Ort gewesen zu sein. Er war aber auch kein begeisterter Schwimmer und wenn, dann bevorzugte er im Sommer die Freibäder oder Badeseen, die es in und um Berlin reichlich gab. Er parkte seinen Wagen nahe einer Hecke direkt neben der Einfahrt, gut fünfzig Meter von dem Gebäude entfernt. Er ließ die Seitenscheibe herunter und atmete die feuchte Morgenluft ein. Dann sah er sich auf dem Parkplatz vor der Schwimmhalle um. Direkt vor der flachen Eingangstreppe hinauf zum Säulengang standen ein silberner Opel Astra und ein blauer VW Passat. Marek notierte sich die Kennzeichen, danach drehte er sich im Fahrersitz nach hinten um. Etwas abseits, am anderen Ende des Parkplatzes, war auch noch ein weißes E-Klasse Coupé abgestellt. Marek fügte ein weiteres Kennzeichen seiner Liste hinzu. Danach nahm er sein Smartphone und fotografierte auch noch jedes einzelne der Fahrzeuge.

Er öffnete die HIKE-App und hängte alle Aufnahmen an eine neue Nachricht. Er überlegte, was er Kowalskis Mörder berichten sollte. Jetzt hatte er dem unbekannten Absender bereits einen Namen gegeben, einen Arbeitstitel, so wie sie es im Präsidium machten, wenn ein neuer Fall dokumentiert wurde. Kowalskis Mörder! Dabei war gar nicht sicher, ob Jürgen Kowalski überhaupt tot war. Marek dachte noch einmal über all das nach, was er vor einer knappen Stunde mit Thomas besprochen hatte. Sie hatten zwar länger nichts von Jürgen Kowalski gehört, aber das musste nichts bedeuten.

Marek schüttelte unbewusst den Kopf. Es gab eigentlich keine Beweise für dies alles hier, oder doch? Woher wusste KOK Kai Bokel, dass für den Personenschutz von Harald Prossmann ein Ersatzmann kommen würde. Er zögerte. Was sollte er Kowalskis Mörder schreiben? Einen Lagebericht? Noch war Marek die Lage unbekannt. Er begann zu tippen, keine ganzen Sätze, eher eine Telegramm-Nachricht.

»Bin in der Finckensteinallee. Treffen mit Personenschutz Prossmann 8:00 Uhr. warte auf Anweisungen. was ist geplant?«

Er schickte die Nachricht ab und starrte bestimmt ein, zwei Minuten lang auf das Display seines Smartphones. Er hatte die Signaltöne für ankommende Nachrichten nahezu auf lautlos gestellt, darum gab es nur ein leises Ping, als sich das Display wieder erhellte und das HIKE-Symbol erschien. Marek öffnete die Nachricht.

»Es ist immer etwas geplant«, lautete die knappe, nichtssagende Antwort.

Er wollte erneut schreiben, um genauere Instruktionen zu erbitten. Er tat es nicht. Eine Bewegung ließ ihn aufschauen. Zwei Fahrradfahrer näherten sich dem Eingang der Schwimmhalle. Ein älteres Paar, er mit Glatze und sie mit einer Wollmütze, unter der zwei geflochtene, graue Zöpfe hervortraten. Sie fuhren weiter zur Stirnseite des Gebäudes. Erst jetzt sah Marek, dass sich dort ein Fahrradständer befand. Er zählte elf Räder, die bereits dort abgestellt waren.

Es klingelte schrill. Marek sah nach rechts. Zwei Frauen kamen auf ihren Fahrrädern aus einem schmalen Weg, der hinter einem Gebüsch auf den Parkplatz führte. Sie stiegen vor dem Fahrradständer ab, man begrüßte sich, schloss die Fahrräder an. Sporttaschen wurden von den Gepäckträgern geschnallt. Der Mann mit der Glatze nahm einen Picknickkorb von der Halterung seines Lenkers. Die Fahrradfahrer machten sich auf den Weg in die Schwimmhalle. Marek hob sein Smartphone an. Sie kamen direkt auf ihn zu, ohne ihn zu bemerken. Er machte zwei, drei Fotos, dann erreichten die vier den Eingangsbereich und betraten die Schwimmhalle durch die von den Skulpturen flankierte Holztür.

Plötzlich war es wieder ruhig. Marek hatte schon den Griff der Fahrertür in der Hand, als ein roter Mercedes SLK schnittig auf den Parkplatz fuhr. Mit quietschenden Reifen hielt er auf das weiße E-Klasse Coupé zu und parkte direkt neben dem anderen Fahrzeug. Ein Mann um die vierzig, im Anzug mit Rollkragenpullover, stieg eilig aus, während sich der Heckdeckel des SLK automatisch öffnete. Im Vorbeigehen griff er nach einer Sporttasche, schlug den Kofferraumdeckel wieder zu und eilte Richtung Schwimmhalle. Marek notierte sich auch das Kennzeichen des SLK. Er fotografierte den Wagen und auch den Mann, der nicht auf seine Umgebung achtete und wie die Fahrradfahrer ebenfalls in der Schwimmhalle verschwand. Marek schaute schließlich auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor acht.

*

Um genau zwei Minuten nach acht hielt Thomas in zweiter Reihe vor dem mehrstöckigen Mietshaus in Berlin Köpenick, das ihm Marek als Wohnadresse von Steffanie Hartfeld genannt hatte. Die gesamte Straße war bis auf die letzte Lücke zugeparkt. Thomas schaltete wie gewohnt das Warnblinklicht ein, legte seine Dienstwagenmarke hinter die Windschutzscheibe und stieg aus. Dann besann er sich anders, er war ja nicht im Einsatz, wenigstens nicht offiziell. Er setzte sich wieder ans Steuer und fand in einer Seitenstraße doch noch einen freien Parkplatz.

Er kehrte zu dem Mietshaus zurück, blieb einen kurzen Moment vor dem Hauseingang stehen, ging aber gleich weiter, nachdem er Steffanie Hartfelds Namen auf einem der Klingelschilder entdeckt hatte. Bei der Fahrt durch die Straße hatte er einen schmalen Durchgang gesehen. Er ging hinein, kletterte über das geschlossene Gatter eines Fahrradunterstandes und gelangte so in einen recht großen Hinterhof, der üppig bepflanzt war. Beete, Stauden und Sträucher, ein kleiner Kinderspielplatz mit einem Klettergerüst, einer Rutsche und einer Sandkiste, in der vergessene Plastikförmchen und ein blauer Kindereimer lagen. In der Mitte des Hofes stand eine mächtige Eiche, die ihre blattlosen Äste nach oben zu den Fenstern des dritten und vierten Stocks reckte.

Gleich links von dem Durchgang stand eine ganze Flotte von Mülleimern für Papier, Restmüll und Bioabfall. Daneben hingen auf einer Stange mehrere gelbe Säcke, die einen süßlichen Geruch verströmten. Dem Arrangement der Mülltonnen schloss sich gleich der Abgang zu einem Keller an. Thomas sah sich um, ging dann die wenigen Stufen hinunter zu einer Tür, die allerdings verschlossen war. Er eilte wieder hinauf in den Hof, fand aber ein paar Meter weiter einen zweiten Kellerzugang. Diesmal war die Tür unten sogar nur angelehnt. Thomas blickte erneut zu den Fenstern hoch, die auf den Hinterhof gingen, konnte aber keinen Beobachter ausmachen.

Er schlüpfte durch die Tür und betrat einen kalten Flur, der leicht nach Waschmittel und stark nach Heizöl roch. Nach wenigen Schritten traf er auf eine weitere unverschlossene Tür, die auf einen anschließenden Flur führte, von dem einige Kellerräume abgingen. Der Heizölgeruch ließ nach, als er auf die Treppe stieß, die hinauf ins Parterre des Mietshauses führte. Eine dritte Tür oben, am Ende der Kellertreppe, war ebenfalls kein Hindernis mehr und Thomas stellte wieder einmal fest, dass es oft sehr einfach war, in die alten Berliner Mietshäuser des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu gelangen. In den verwinkelten Hinterhöfen gab es immer einen oder mehrere Zugänge. Mit etwas Glück war eine Tür nicht verschlossen und auf dem Weg ins Haus begegnete einem auch niemand, und wenn doch, dann konnte man sich meist in einer Nische oder einem der Kellerräume verbergen.

Oben ging Thomas zunächst durch den Hausflur. Eine Zwischentür ließ sich nur von innen öffnen. Er blockierte sie mit einem Kinderfahrrad, das neben der Tür an der Flurwand lehnte. Er ging weiter zu den Briefkästen neben der Eingangstür, die in der Regel von außen offen war, damit der Postbote oder die Zeitungszusteller an die Briefkästen herankamen. In Steffanie Hartfelds Postkasten steckte die Gratisausgabe eines Anzeigenblattes. Thomas zog sie heraus und griff von oben in den Briefschlitz. Er konnte allerdings nicht feststellen, ob noch nicht entnommene Post im Kasten steckte.

Er klemmte sich die Zeitung unter den Arm und ging wieder durch die Zwischentür zurück in den Hausflur. Gleich neben dem Kellerabgang befand sich das Treppenhaus, das hinauf zu den oberen Stockwerken führte. Einen Aufzug gab es nicht. Thomas erklomm die knarrende Treppe. Als er den vierten Stock erreichte, war er leicht außer Atem. Er gönnte sich eine kleine Pause, bevor er Steffanie Hartfelds Klingel drückte. Ein Drei-Klang-Gong war in der Wohnung zu hören. Eine Minute danach blieb es allerdings immer noch ruhig, keine Reaktion, keine Laute, die auf die Anwesenheit der Bewohner hinwiesen.

Thomas versuchte es ein zweites Mal, der Gong verhallte, danach wartete er eine weitere Minute. Er stellte sich dicht vor die weiße Holztür, die etwas verzogen war und die Türzarge nicht ganz ausfüllte. Er horchte erneut nach Geräuschen. Er besah sich das Türschloss und begann leicht gegen das Türblatt zu drücken. Er zog seitlich am Türknauf und verstärkte den Druck. Der Spalt zwischen Zarge und Türblatt wurde größer, bis die Holztür mit einem Quietschen aufsprang.

 

Thomas kontrollierte sofort die Schließe, konnte aber keinen Schaden feststellen. Die Wohnungstür war offenbar nur eingerastet, aber nicht richtig abgeschlossen gewesen. Er zog die Tür leise hinter sich zu, horchte noch einmal und begann seine Erkundungstour. Auf dem kleinen Schuhschrank im Flur legte er die Zeitung ab, die er von unten mitgebracht hatte. Dabei kontrollierte er gleich die vielen kleinen Dinge, die in einer zweckentfremdeten Obstschale lagen. Zwei Paar Handschuhe, ein Leuchtarmband, wie man es beim Joggen im Dunkeln trug, eine angebrochene Packung Kaugummi, ein Einkaufsbon vom letzten Dezember. Steffanie Hartfeld hatte ihre Weihnachtseinkäufe noch kurz vor dem Fest bei einem Aldi-Markt erledigt.

Thomas stellte sich vor den Schuhschrank, griff links und rechts und zog das Möbel ein Stück von der Wand. Er fand außer einer Staubschicht allerdings nichts, was hinter den Schrank gerutscht war. Dann öffnete er noch die beiden Klappen, hinter denen sich mehrere Paare Damenschuhe befanden, Stiefel, Pumps, Sportschuhe, Pantoffeln und sogar ein Paar Sandalen. Es war sicherlich nur eine kleine Auswahl der Schuhe, die Steffanie Hartfeld tatsächlich besaß.

Thomas richtete sich wieder auf und kontrollierte noch das aus drei Haken bestehende Schlüsselboard, das über dem Schuhschrank hing. Ein Ring mit einfachen Schlüsseln, die zu den Innentüren der Wohnung gehörten. Ein Fahrradschlüssel mit Bicycle-Anhänger. Der dritte Haken war leer. Thomas warf einen Blick auf die Garderobenstange, die sich hinter einem bodenlangen Vorhang befand. Die Jacken und Mäntel würde er sich zum Schluss vornehmen. Er ging weiter durch den Flur und verschaffte sich zunächst einen Überblick über den Schnitt der Wohnung, um auch festzustellen, ob wirklich niemand zu Hause war. Steffanie Hartfeld standen gut sechzig Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Eine sehr kleine Küche, ein Bad mit Wanne und Duschvorhang, keine Gästetoilette, ein kleines Schlafzimmer mit Fenster zum Hinterhof und ein relativ großes Wohnzimmer, das wohl auch als Arbeitszimmer diente.

Thomas begann mit der Küche. Es gab keine Geschirrspülmaschine. Im Spülbecken stand ein einzelnes Glas mit einem weißen Fettrand, der von Milch stammen konnte. Im Kühlschrank stand tatsächlich eine angebrochene Tüte Milch. Außerdem fanden sich ein Glas Orangenmarmelade, Pakete mit Kräuterbutter verschiedener Geschmacksrichtungen, eine kleine Schale Margarine, in Papier eingewickelter Käse, der an der Frischetheke eines Supermarktes gekauft worden war, drei Becher Naturjoghurt. Thomas schloss die Kühlschranktür wieder. Er sah sich weiter um. Genauso wie der kleine Esstisch und ein einzelner Stuhl passte dies alles zu einem Singlehaushalt. Dann stellte Thomas fest, dass sein Schuh backte. Der Fliesenboden war an einer Stelle klebrig. Irgendetwas Zuckerhaltiges hatte getropft. Ansonsten war der Boden sauber. In einer Ecke der Küche hing ein Besen mit Kehrblech an der Wand, so dass sich auch nirgends Brotkrümel fanden.

Das fensterlose Bad prüfte Thomas im Schnelldurchgang. Alles war sehr sauber, keine Wasserflecke in der Badewanne, selbst der Duschvorhang war trocken, obwohl es immer noch nach einem Dusch- oder Schaumbad roch. Thomas sah sich die Fläschchen und Tuben auf der Ablage über dem Waschbecken an. In einem Glas stand nur eine einsame Zahnbürste. Auf einem Hocker lag eine Kulturtasche, die Kerstin aber vermutlich nicht gehörte, weil sie mit Metall- und Kunststoffhaarspangen angefüllt war.

Thomas schaltete das Licht im Bad wieder aus und ging über den Flur ins Schlafzimmer, in dem nur ein Einzelbett stand. Auf dem Teppichboden waren aber noch die Abdrücke eines Doppelbettes zu erkennen. Mit diesem Möbel musste das Schlafzimmer recht beengt gewesen sein, während jetzt zwischen Bett und dem dreiflügeligen Kleiderschrank ausreichend Platz war. Thomas öffnete den Schrank, warf aber nur einen kurzen Blick hinein. Ihm fiel ein rotes Abendkleid auf, an dem noch die Preisschilder hingen. Er verzichtete darauf, weiter in Steffanie Hartfelds Privatsphäre zu wühlen und verließ das Schlafzimmer wieder.

Das Wohnzimmer war der letzte Raum, den er sich näher ansah. Neben einer hellbezogenen Zweiercouch, einem dazu passenden Sessel, einem Beistelltisch und einer Schrankwand mit Fernseher, gab es in einer Ecke des Wohnzimmers noch einen kleinen Schreibtisch, bei dem eine der beiden Schubladen ein wenig vorstand. Thomas zog die Schublade vorsichtig auf. Der Inhalt war offensichtlich durchwühlt worden. Es war keine auffällige Unordnung, doch sein geschulter Blick erkannte sofort, dass jemand etwas in der Schublade gesucht hatte. Es war die Art, wie die Dinge, wie Papiere, ein Locher und ein Etui mit Schere und Brieföffner wieder in die Schublade einsortiert worden waren. Durch den Fund alarmiert öffnete Thomas auch die zweite Schreibtischschublade. Eine Schatulle mit einem teuren Federhalter. Der Schnappverschluss war geöffnet, der Inhalt aber vollständig.

Thomas griff mit der Hand in die Tiefe der Schublade, ertastete das raue Holz und fand nur einen alten Kassenbon vom MediaMarkt. Der Kauf eines billigen Handys mit Schutzhülle. Das Telefon selbst war aber auch nach weiterem Tasten nicht in der Schublade zu finden. In der Schrankwand neben dem Schreibtisch standen neben dem Zweiunddreißig-Zoll-Flachbildfernseher genau zwei Aktenordner. Und wieder ein Indiz. Die Klemmbügel, mit denen Rechnungen und andere Korrespondenz fixiert wurden, waren nachlässig über die Bügel geschoben, so dass sich das Papier in den stehenden Ordnern bog. Entweder war das alles die normale Ordnung von Steffanie Hartfeld oder jemand hatte sich genauso wie Thomas jetzt, in der Wohnung umgesehen.

Thomas zögerte mit seiner letzten Untersuchung, doch dann nahm er sich noch einmal jeden einzelnen Raum und alle Möbel und Gegenstände darin vor. Er suchte nach Spuren eines Kampfes, nach angetrocknetem Blut auf den Holzflächen, nach abgestoßenen Kanten, nach Kratzern. Er suchte nach Spuren auf dem Teppichboden, den Fliesen und an den Türrahmen. Er wiederholte seinen Rundgang ein zweites Mal. In der gesamten Wohnung waren allerdings keine Tatortspuren zu finden oder doch zumindest nicht mit bloßem Auge zu erkennen. Die Arbeitsplatte in der Küche wies allerdings einige Rillen auf, die von einem Messer stammen konnten, aber wahrscheinlich nur gewöhnliche Gebrauchsspuren waren.

Auf dem Weg aus der Wohnung kontrollierte Thomas als letztes die Garderobe und die Kleidungsstücke, die darin hingen. Er zog den Vorhang ganz auf, bückte sich als erstes und wühlte in einem Knäul von Schals, die am Boden der Garderobe in einer Klappbox lagen. Außer den Schals und einem Paar Wollhandschuhen fand er nichts. Er richtete sich wieder auf und verschob jetzt die Jacken und Mäntel, die auf der dünnen Garderobenstange hingen. Er musste aufpassen, denn die Stange war auf der rechten Seite ein Stück aus der Halterung gerutscht.

Er war vorsichtig, als er die Taschen der einzelnen Kleidungsstücke durchsuchte, um die Garderobe nicht zum Absturz zu bringen. Erst jetzt fiel ihm die dunkelrote Wellensteyn Jacke mit dem schwarzen Pelzbesatz auf. Eine solche Jacke derselben Marke und derselben Farbe hatte Kerstin noch letzte Woche getragen. Es konnte ein Zufall sein. Thomas schlug die Jacke auf und roch am Innenfutter, in das das Label Belvedere eingenäht war. Ein Hauch Chanel Nr. 5, Kerstins Parfum, was ebenfalls ein Zufall sein konnte.

Thomas dachte an die Ablage im Badezimmer. Welches Parfum benutzte Steffanie Hartfeld? Er konnte sich weder an einen Flakon, noch sonst an irgendein Parfum erinnern. Vielleicht bewahrte sie es im Schlafzimmer auf. Er schloss das Innenfutter der dunkelroten Wellensteyn Belvedere diesmal um seinen Kopf und atmete erneut tief ein. Und da war er, dieser leichte Geruch, den Uneingeweihte vielleicht nicht einmal wahrnahmen.

Thomas testete weitere Kleidungsstücke, die in der Garderobe hingen. Hier nahm er bei zwei Mänteln und einer schwarzen Lederjacke sofort ein anderes Parfum wahr. Es war eindeutig ein anderer Geruch. Kerstins Jacke hing in Steffanie Hartfelds Garderobe. Der Februar war kalt und Kerstin wäre ohne dieses Kleidungsstück niemals freiwillig nach draußen gegangen. Thomas überlegte. Es gab aber noch andere Erklärungen. Kerstin hatte eine zweite Jacke dabei und die Wellensteyn hier nur bei ihrer Freundin Steffanie vergessen. Es gab noch keinen Grund alarmiert zu sein und auch der Zustand der Wohnung, die kaum sichtbare Unordnung, mochte eine einfache Erklärung haben.

Thomas überlegte. Er zückte sein Smartphone und hatte auch den Zettel mit Mareks E-Mail-Adresse zur Hand. Er übernahm die Adresse erst einmal in seinen Kontakten. Dann begann er eine Nachricht zu schreiben. Nach den ersten Worten zögerte er und sah auf die Uhr. Marek würde die Nachricht zur nächsten vollen Stunde abfragen, wenn überhaupt, und wenn er Kai Bokels Handy benutzen konnte. Thomas löschte, was er geschrieben hatte und begann von vorne. »WOHNUNG IN KÖPENICK LEER. NICHTS AUFFÄLLIGES. SUCHE WEITER.«

*

Marek stand draußen vor dem Säulengang und betrachtete die Reliefskulpturen, die die Eingangstür zur Schwimmhalle in der Finckensteinallee zierten. Diese Art der Kunst war noch häufig in Berlin zu sehen. Es waren die Gegenstücke der sogenannten entarteten Kunst. Das ganze Gebäude trug den Stempel der Zeit und dennoch war die Schwimmhalle zweckmäßig und musste von dem ideologischen Gedankengut losgelöst werden. Es war heute eben nur ein Schwimmbad, das seit kurzer Zeit wieder der Öffentlichkeit zugänglich war.

Marek ging ein Stück weiter an die Stirnseite des Gebäudes vorbei hinter die Schwimmhalle. Hier gingen die Sprossenfenster von der Decke bis hinunter zum Boden. Wasser spiegelte sich in den Scheiben. Im Inneren brannte Licht. Marek vermied es, vor eines der Fenster zu treten. Er ging einen kleinen Weg entlang, der von der Schwimmhalle wegführte und hinter einer Hecke verlief. Am anderen Ende näherte er sich wieder dem Gebäude und kam schließlich zurück auf den Parkplatz. Er ging zu seinem Wagen und wollte gerade einsteigen, als ein bulliger Audi Q7 vorfuhr.

Der Wagen bremste zunächst, rollte dann ein Stück weiter, direkt auf Marek zu und kam einige Meter vor ihm zum Stehen. Die Fahrertür öffnete sich. Ein Mann im blauen Anzug mit dunkelblauer Krawatte stieg aus und musterte Marek ein, zwei Sekunden.

»Bist du KOK Marek Quint?«

»Kollege Bokel?«, stellte Marek die Gegenfrage.

Kai Bokel lächelte, schlug die Fahrertür hinter sich zu und streckte Marek die Hand entgegen.

»Sorry, wir haben uns ein wenig verspätet. Wartest du schon lange?«

Marek schüttelte den Kopf. »Kein Problem, ich war extra ein paar Minuten früher hier, um mir die Lokation anzusehen.«

Kai nickte und trat näher an ihn heran. »Ich hätte den Klotz abgerissen, zu viel braune Geschichte und die Architektur ist auch nicht gerade nach meinem Geschmack, aber darauf kommt es heute wohl nicht mehr an.«

»Meinst du die Reliefskulpturen am Eingang?«, fragte Marek und sah sich zur Schwimmhalle um.

»Die auch.« Kai überlegte. »Unser Kunde hat sich allerdings für die Sache hier stark gemacht, dafür, dass die noch mal Geld in das marode Schwimmbad gesteckt haben. Darum ist er jetzt auch Ehrenschwimmer hier.«

»Ehrenschwimmer?«, fragte Marek.

»Der schwimmt hier kostenlos, wann immer er will und heute will er, wie eigentlich jeden Sonntag. Das ist aber nur der erste von sechs Terminen heute. Mir wäre es lieber, der hätte sich einen ruhigen Sonntag gemacht, aber so sind Politiker eben.«

»Verstehe.« Marek nickte.

Dann schaute er über Kais Schulter durch die Windschutzscheibe ins Innere des Q7. Auf dem Beifahrersitz saß ein Mann, den Kopf gesenkt, den Blick auf das Display seines Smartphones gerichtet. Er schien die Umgebung außerhalb des Wagens ausgeblendet zu haben.

»Ist das Harald Prossmann?«, fragte Marek. »Ich habe wie gesagt sein Dossier gelesen. Den Personenschutz nimmt er ja schon länger in Anspruch, oder.«

»Ja schon, aber keine Bange«, sagte Kai lächelnd. »Es gibt zwar ein gewisses Gefährdungspotential, aber bisher ist nichts passiert, außer vielleicht ein paar Buhrufe enttäuschter Wähler, wobei Prossmann sich meines Wissens noch keiner Wahl zu einem öffentlichen Amt gestellt hat.«

»Dann hat er also doch schon einen gewissen Bekanntheitsgrad. Buhrufe muss man sich ja auch erst einmal erarbeiten.«

»Da ist was dran«, sagte Kai nickend. »2016 könnte sein Jahr werden. Manchmal erzählt Herr Prossmann mir über das Hauen und Stechen in seiner Partei und dass die Zeit für den nächsten Schritt reif ist.«

 

»Dann kennst du ihn also schon besser?«

»Geht so.« Kai überlegte. »Ich denke, wir beginnen jetzt mal mit einem kurzen Briefing für den ersten Akt. Nachher haben wir noch Zeit die nächsten Stationen durchzusprechen.«

»Ist mir recht«, sagte Marek.

»Also, Herr Dr. Prossmann geht schwimmen und ich darf ihm im Wasser Gesellschaft leisten. Du wirst im Eingangsbereich warten und dich umsehen, wer so rein und raus will. Oder hast du vielleicht deine Badehose mitgebracht?« Kai grinste erneut.

»Nein, ist mir schon recht, ich bin eigentlich nicht so eine Wasserratte.« Er sah zur Schwimmhalle hinüber. »Da sind aber schon Leute drin.«

»Die Frühstücksrentner«, sagte Kai. »Die sind harmlos. Die sind meistens schon fertig, wenn wir beginnen, unsere Bahnen zu ziehen. Prossmann macht immer exakt achthundert Meter, sechzehn Bahnen.«

»Außer deinen Frühstücksrentnern ist aber mindestens noch eine weitere Person ins Gebäude gegangen, ein Mann, Mitte oder Ende dreißig, hatte es ganz schön eilig, ist eben erst mit dem roten SLK dort drüben angekommen.« Marek deutete auf den Mercedes.

»So etwas können wir natürlich nicht verhindern. Darum sind wir meistens auch zu zweit, damit einer von uns ein wenig aufpassen kann«, erklärte Kai.

»Soll ich den Mann überprüfen, während ihr im Wasser seid?«

»Nein, nein, nicht nötig, außerdem mag Prossmann das nicht, es soll alles ganz natürlich sein.«

»Verstanden«, sagte Marek nickend. »Wie geht es dann heute weiter, soll ich euch später zum nächsten Termin folgen?«

»Nein, ich sagte ja vorhin schon, dass du deinen Wagen hier stehen lassen sollst. Du musst bei uns mitfahren. Herr Prossmann sitzt allerdings immer vorne. Du steigst also hinten ein, aber selbstverständlich auf meiner, also auf der Fahrerseite. Wir sind hier gegen halb zehn fertig ...«

Kai stockte, als sie hörten, wie die Beifahrertür des Audis geöffnet wurde. Sie drehen sich beide um. Harald Prossmann stieg aus dem Wagen. Er warf noch einen letzten Blick auf sein Handy, steckte es dann in die Innentasche seine Jacketts.

»Wir reden später weiter«, sagte Kai schnell und ging auf Harald Prossmann zu, der den beiden Kriminalbeamten jetzt seine Aufmerksamkeit schenkte.

»Herr Dr. Prossmann, das ist für heute unsere Verstärkung, Kriminaloberkommissar Marek Quint vom LKA Berlin.«

Prossmann sah Marek ein paar Sekunden lang an, schien ihn zu mustern. Er nickte schließlich. »Danke für Ihre Unterstützung Herr Kommissar.« Es klang freundlich, aber auch distanziert. Harald Prossmann wandte sich sofort wieder an Kai Bokel. »Ich glaube, wir sind jetzt wirklich etwas spät dran, nicht wahr?«

»Stimmt, Herr Dr. Prossmann.«

Kai betätigte die Fernbedienung am Autoschlüssel. Die Heckklappe des Q7 sprang auf und fuhr langsam in die Höhe. Der Personenschützer ging zum Wagen und nahm zwei kleine Sporttaschen aus dem Kofferraum. Danach schloss sich die Heckklappe wieder automatisch. Harald Prossmann war bereits auf dem Weg Richtung Schwimmhalle. Kai holte ihn wieder ein und öffnete für Prossmann die schwere Holztür, die an den Reliefskulpturen vorbei ins Gebäude führte.

Marek sah sich noch einmal auf dem Parkplatz um. Dann folgte er den beiden Männern. Er betrat kurz nach ihnen den Eingangsbereich der Schwimmhalle. In dem weiß gefliesten Raum roch es nach Chlor. Auf der rechten Seite gab es einen Automaten mit Süßigkeiten und Getränken. Davor standen drei Metalltische mit den zugehörenden Stühlen. Der Kassenschalter mit dem Drehkreuz zu den Umkleidekabinen befand sich auf der linken Seite. Eine junge Frau thronte auf einem erhöhten Stuhl hinter der geöffneten Glasabtrennung des Schalters.

Harald Prossmann blickte kurz zur Seite und grüßte die junge Frau tonlos. Er wollte gerade den Magnetstreifen seiner Dauerkarte durch das Lesegerät des Drehkreuzes ziehen, als er kurz innehielt und sich dann wieder dem Schalter zuwandte. Kai hatte das Drehkreuz bereits passiert. Er blieb ebenfalls stehen. Harald Prossmann lächelte. Er ging zum Schalter und legte seine Arme auf den Tresen.

»Ein neues Gesicht?«, fragte er. Seine Stimme klang anders, schmeichlerischer, als noch vorhin auf dem Parkplatz. »Darf ich erfahren, wie Sie heißen?«

Die junge Frau nickte. Sie schien überrascht zu sein. Bevor sie antworten konnte, hatte Prossmann ihr Namensschild entdeckt.

»Nadine! Ein schöner Name. Und Sie sind neu hier?«

Sie schüttelte den Kopf, wollte etwas erwidern, aber Prossmann war erneut schneller.

»Aber ich habe Sie noch nie hier gesehen. Obwohl, ich komme ja auch nur sonntags zum Schwimmen her. Sie machen bestimmt sonst in der Woche Dienst?«

»Nein, ich bin doch fast jeden Sonntag ... Ich kenne Sie, Herr Dr. Prossmann«, sagte Nadine schüchtern, als wenn es etwas Verbotenes sei.

»Sie kennen mich?«, wiederholte Harald Prossmann ungläubig, aber es klang gespielt.

Kai stand immer noch direkt hinter dem Drehkreuz. Er konnte nicht mehr zurück in den Eingangsbereich. Ein Personenschützer hatte in unmittelbarer Nähe der Schutzperson zu sein. Marek erkannte Kais Unbehagen. Er ging ein paar Schritte auf Harald Prossmann zu, der sich aber sofort umdrehte und ihn drohend ansah. Marek blieb stehen. Prossmanns Gesichtsausdruck entspannte sich erst, als er sich wieder der jungen Frau zuwandte.

»Sie kennen mich wirklich?« Harald Prossmann schüttelte den Kopf. »Ich kann mich aber nicht an Ihr hübsches Gesicht erinnern, das ist natürlich unverzeihlich, liebe Nadine.«

»Das liegt vielleicht daran, dass Sie nicht zu mir an den Schalter zu kommen brauchen, Sie haben ja eine Dauerkarte, Herr Dr. Prossmann.« Nadine lächelte zögerlich.

Harald Prossmann nickte. »Das ist natürlich eine gute Erklärung.« Er hielt der jungen Frau die Karte hin. »Das ist aber keine Dauerkarte, sondern eine Ehrenkarte. Da bin ich sehr stolz drauf, obwohl ich immer sage, dass ich gerne auch Eintritt zahlen würde. Jeder Euro zählt, um das Schwimmbad in Stand zu halten, aber sie lassen mich nicht.« Harald Prossmann zuckte mit den Schultern.

Nadine lächelte, wusste aber anscheinend nicht, was sie darauf erwidern sollte.

»Ich verspreche Ihnen, am nächsten Sonntag aufmerksamer zu sein, meine liebe Nadine. Wir sehen uns.«

Harald Prossmann hielt seine Ehrenkarte noch immer in die Höhe, ging zwei Schritte rückwärts, wandte sich dann um und passierte endlich das Drehkreuz. Er ging an Kai Bokel vorbei, der ihm links in den Gang folgte. Marek ging ebenfalls zum Drehkreuz, blieb stehen, beugte sich vor und blickte den beiden Männern nach, die schließlich durch eine Glastür verschwanden. Nach wenigen Sekunden war im Eingangsbereich der Schwimmhalle nur noch das Knurren der Automaten zu hören.

Marek hatte seine Anweisungen. Er ging zu einem der Automaten, schaute sich das Angebot an und entschied sich für ein Twix. Mit dem Schokoladenriegel in der Hand setzte er sich an den mittleren der drei Tische. Sein Blick fiel auf die große Panoramascheibe, die den Eingangsbereich von der Schwimmhalle trennte. Er erhob sich wieder, zog den Stuhl dichter an die Scheibe heran, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Er biss von seinem Twix ab und begann die Welt hinter der Panoramascheibe zu sondieren.

Er zählte die Startblöcke. Es gab zehn Schwimmbahnen zu je fünfzig Metern Länge. Die Anzahl der Schwimmer war überschaubar. Die Mitglieder der Frühstücksrentnergruppe belegten vier der zehn Bahnen. Zwei Männer mit weißen Gummibademützen machten noch Tempo, lieferten sich anscheinend ein Rennen und waren dabei fast gleich auf. Marek verfolgte die beiden noch eine weitere Bahn lang, ohne einen möglichen Sieger ausmachen zu können. Die Schwimmer verursachten leichte Wellen auf der ansonsten glatten Wasserfläche. Und dann war da auch noch der Bademeister, ein bärtiger, junger Mann, der gelangweilt auf einem Plastikgartenstuhl in der Nähe des Beckenrands saß. Plötzlich erhob er sich, ging einmal die Fünfzig-Meter-Bahn entlang und denselben Weg zurück, bis er sich wieder in seinen Stuhl setzte. Er blieb dort leicht vorgebeugt sitzen, ohne weiter das Gesicht zu verziehen.