Kowalskis Mörder

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Mareks Blick wanderte zu einer Gruppe von Frauen, die sich in einer Ecke in der Nähe des Beckenrands mit ruhigen Armbewegungen über Wasser hielten. Das leichte Nicken ihrer Köpfe verriet, dass sie sich unterhielten. Dann wurden sie von einem Mann angesprochen, der bereits im Bademantel am Beckenrand stand. Die Damen wandten sich zu ihm um und sprachen mit ihm. Zwei weitere Mitglieder der Frühstücksrentnergruppe traten dazu. Einer Dame wurde aus dem Wasser geholfen, man reichte ihr ein großes Handtuch und brachte ihr die Badelatschen. Die Gesichter der Männer und Frauen zeigten, dass sie lachten, eine fröhliche Runde am frühen Sonntagmorgen.

Marek suchte noch einmal nach den Schwimmern, die ihren Wettkampf beendet hatten und jetzt auf dem Rücken schwimmend langsam durchs Wasser glitten. Dann wurde auf der Zuschauertribüne ein Handtuch geschwenkt. Marek nahm die Bewegung war und blickte nach oben. Offenbar hatten sich die übrigen Frühstücksrentner dort versammelt. Ein Mann, der bereits wieder seine Straßenkleidung angezogen hatte, machte die Untenstehenden auf sich aufmerksam, gestikulierte und sprach mit ihnen. Marek konnte nicht genau erkennen, was auf der Zuschauertribüne vor sich ging. Jemand brachte Geschirr und Besteck, ein langer Tisch wurde eingedeckt, Stühle dazugestellt. Einige der Rentner setzten sich.

Dann liefen zwei Männer an der Panoramascheibe vorbei. Sie trugen kleine Handtücher über den Schultern. Marek erkannte den SLK-Fahrer, der seine Badelatschen auszog und kurz ins Wasser sprang, aber sofort wieder über die Leiter aus dem Becken stieg. Der andere Mann kniete sich zur Wasseroderfläche hinunter und benetzte sich Oberkörper und Gesicht. Der SLK-Fahrer hatte bereits einen der Startblöcke betreten und lockerte sich mit schwingenden Armen. Als sein Kontrahent ebenfalls den Startblock betrat, rechnete Marek schon mit einem Wettschwimmen. Die beiden Männer sprangen jedoch nacheinander ins Wasser, tauchten ab, streckten sich und zogen ohne Eile die erste Bahn. Eine Kehre, erneutes Tauchen. Dann zog der SLK-Fahrer an, machte ein paar kräftige Kraulbewegungen und ließ sich schließlich wieder im Wasser gleiten.

Der Schwimmer auf der Nebenbahn tat es ihm nach ein paar Sekunden gleich. Sie wiederholten die Prozedur einige Male, bis sie wieder den Anfang der Bahn erreichten. Mit einer flüssigen Bewegung glitten sie aus dem Wasser, betraten erneut die Startblöcke und dann wurde es ernst. Irgendein Zeichen ließ die beiden schlanken, muskulösen Körper der Männer explodieren. Sie stießen sich kraftvoll von den Startblöcken ab, peitschten ins Wasser und nahmen dort rasch Tempo auf.

Marek verfolgte gespannt das Rennen. Nach zwei Bahnen hatte der SLK-Fahrer das Nachsehen. Die Männer lockerten sich im Wasser, stiegen heraus, gingen auf die Startblöcke und waren mit einem Satz erneut im Wasser. Es ging erneut über zwei Bahnen, wieder schlug der SLK-Fahrer als zweiter an. Erst im dritten Durchgang errang er den Sieg, der den beiden Schwimmern nicht das Wichtigste zu sein schien.

Marek hatte genug gesehen. Harald Prossmann und Kai waren noch nicht in der Schwimmhalle erschienen. Marek nahm sein Smartphone. Er überlegte, öffnete dann die HIKE-App und begann eine Nachricht für Kowalskis Mörder zu tippen. Er beschrieb grob die Personen, die sich in der Schwimmhalle aufhielten und das Harald Prossmann jeden Moment dazu kommen würde. Marek zögerte, stellte dann aber doch die Frage, ob es jemanden gäbe, mit dem er in oder außerhalb der Schwimmhalle Kontakt aufnehmen solle. Er schickte die Nachricht ab. Wenig später betraten Harald Prossmann und Kai das Hallenbad.

Harald Prossmann trug einen blauen Bademantel. Marek sah noch, wie er sein ständig präsentes Smartphone in die rechte Seitentasche gleiten ließ. Kai ging ein paar Schritte vor ihm und hatte lediglich ein weißes Handtuch über den Oberkörper geworfen. Die beiden Männer gingen direkt zu den Duschen. Mareks Handy gab in diesem Moment einen Signalton von sich. Kowalskis Mörder hatte geantwortet.

»Niemanden ansprechen! Bereithalten! Wir melden uns!«

*

Thomas hatte sich auf den einzelnen Stuhl in Steffanie Hartfelds Miniküche gesetzt. Die Analoguhr an der Wand tickte auffallend laut. Es war zwanzig nach acht, als er sein Smartphone zückte und zunächst Kerstins Handynummer wählte. Dann las er Steffanie Hartfelds Handynummer von dem Zettel ab, den Marek ihm aufgeschrieben hatte. Marek hatte die Nummer in Kerstins altem Notizbuch gefunden, das sie in ihrem inzwischen gemeinsamen Arbeitszimmer aufbewahrte. Thomas horchte jeweils angestrengt, ob irgendwo in der Wohnung ein Klingeln zu vernehmen war. Die beiden Frauen und auch ihre Telefone waren nicht an diesem Ort, das schien erst einmal sicher zu sein. Es meldete sich auch keine von beiden auf den Anruf. Thomas ließ es sogar lange genug klingeln, bis jeweils die Mailbox ansprang. Er sah sich in der kleinen Küche um. Er wollte sich gerade in Richtung Kühlschrank erheben, als er selbst einen Anruf erhielt. Kurz blinkte die Weiterleitung von Mareks Festnetzanschluss auf.

»Hallo?«, meldete Thomas sich erwartungsvoll und wurde von einer Männerstimme enttäuscht.

»Hier ist die Polizei, wer ist da bitte?«, fragte der Anrufer mit fester Stimme.

Thomas atmete durch. »KOK Leidtner.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich. Polizeimeister Seemann hier. Sie hatten die Suche nach einem Kraftfahrzeug, einem roten Opel Astra Kombi, Typ K, beauftragt.« Der Polizeimeister nannte das Kennzeichen. »Die Halterin ist eine Frau Dr. Kerstin Sander.«

»Das ist er, haben Sie den Wagen gefunden?«

»Ja, darum rufe ich doch an.«

»Wo?«, fragte Thomas.

»Köpenick, Kladden Straße 27«, antwortete der Kollege.

»Moment!« Thomas stutzte, ging mit dem Telefon in der Hand ans Küchenfenster und blickte hinunter auf die Straße. Zwei Streifenwagen standen quer auf dem Bürgersteig, einer der Beamten beugte sich in seinen Wagen und telefonierte, während sich ein zweiter Beamter das Kennzeichen eines roten Opel Astras notierte und dann um den Wagen herumging.

»Und das zweite Fahrzeug?«, fragte Thomas. »Wir suchen auch noch einen weißen Astra. Halterin ist eine Steffanie Hartfeld.«

»Das ist uns bekannt«, bestätigte Polizeimeister Seemann. »Bislang allerdings Fehlanzeige. Wir konzentrieren uns derzeit noch auf Köpenick oder haben Sie einen Tipp, wo sich das Fahrzeug befinden könnte?«

»Nein, keine Ahnung, das ist ja gerade das Problem.« Thomas überlegte. »Frau Hartfeld kann allerdings überall in Berlin unterwegs sein. Sie sollten ...«

Thomas wurde durch ein Geräusch abgelenkt, das aus dem Flur der Wohnung kam. Er drehte sich in dem Moment um, als die Küchentür aufgestoßen wurde.

»Polizei! Ist da jemand?«

Ein uniformierter Beamter tastete sich einen Schritt in die Küche vor. Er wurde vom Flur aus durch seinen Kollegen abgesichert.

»Hallo, würden Sie bitte vom Fenster wegtreten. Zeigen Sie mir Ihre Hände.«

Thomas gehorchte streckte die Arme etwas in die Höhe, hielt das Telefon mit zwei Fingern und zeigte seine Handflächen.

»KOK Leidtner vom LKA«, gab er sich schließlich zu erkennen.

Mit der freien Hand zog er seine Marke aus der Hosentasche. Der Uniformierte senkte die Waffe und nickte. Thomas führte das Handy wieder ans Ohr.

»Ich bin oben in der Wohnung Kladden Straße 27, ich komme herunter.«

*

Harald Prossmann hatte seinen blauen Bademantel an einen der Haken neben der Dusche gehängt. Er drehte die Armatur auf und stellte sich sofort unter den kräftigen Wasserstrahl. Kai wartete noch, bis Prossmann fertig war, hängte sein Handtuch neben den Bademantel und stellte sich dann ebenfalls unter die Dusche. Anschließend gingen die beiden Männer hinüber zu den äußeren Schwimmbahnen auf der Hallenseite mit den bodentiefen Fenstern.

Marek aß den letzten Rest seines Twix und beobachtete wie Harald Prossmann und Kai die Badelatschen am Beckenrad auszogen. Prossmann lockerte sich mit ein paar Rumpfbeugen. Es sah so aus, als bereite er sich auf einen Wettkampf vor. Kai wandte sich inzwischen um und sondierte zum wiederholten Male die Schwimmhalle. Dann trafen sich seiner und Mareks Blick. Kai nickte unmerklich in Richtung der Frühstücksrentner, die sich sammelten, um gemeinsam die Halle zu verlassen. Ein letzter Schwimmer verließ gerade das Wasser. Während der Mann die Leiter hinauf stieg, sah er zu Harald Prossmann hinüber, der nun neben seinem Startblock ins Becken geglitten war und sich im Wasser mit ausgiebigen Streckbewegungen weiter aufwärmte.

Der verbliebene Frühstücksrentner hatte schließlich wieder festen Boden unter den Füßen und nahm seine Schwimmhaube ab, unter der er volles graues Haar hatte. Er griff sich seinen weißen Bademantel, der feinsäuberlich auf einer flachen Heizung an der Wand zu den Umkleidekabinen lag und zog ihn langsam über. Dabei schaute er weiterhin interessiert zu Harald Prossmann. Der Mann verschnürte sorgsam den Bademantel und es schien so, als wolle er gleich der kleinen Gruppe Frühstücksrentner in den Gang zu den Umkleidekabinen folgen. Dann hielt er aber noch einmal inne, wandte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung.

Marek hatte den Mann beobachtet. Er erhob sich jetzt von seinem Stuhl und stellte sich direkt an die Panoramascheibe. Sein Blick wanderte zu Kai, der gerade seinen Startblock bestieg, kurz in die Hocke ging und dann mit einem eleganten Kopfsprung ins Wasser eintauchte. Harald Prossmann hatte inzwischen mit leichten Kraulbewegungen begonnen und war bis zur Mitte seiner Bahn geschwommen. Kai holte ihn auf der Nebenbahn mit drei kräftigen Zügen ein, drosselte dann aber sein Tempo und hielt sich schräg hinter Prossmann, der jetzt seinerseits anzog. Die erste Bahn war geschafft. Harald Prossmann tauchte zur Wende unter, stieß sich vom Anschlag ab und kam nach vier, fünf Metern wieder an die Oberfläche.

 

Währenddessen war der Rentner im weißen Bademantel auf die andere Seite des Schwimmbeckens geschlendert und blieb genau vor Harald Prossmanns Bahn stehen. Er bückte sich und sah schräg über die Wasseroberfläche. Dann schlug er den Bademantel zurück und setzte sich seitlich auf den Startblock.

Harald Prossmann näherte sich mit kräftigen Kraulbewegungen. Kai war weiterhin schräg hinter ihm, schien dann aber eine mögliche Gefahr zu registrieren. Augenblicklich erhöhte er sein Tempo, zog mühelos an Harald Prossmann vorbei und bremste erst zwei Meter vor dem Anschlag ab.

»Bravo!« Der Mann im weißen Bademantel klatschte. »Jetzt müssen Sie noch die Bande berühren, damit es gilt.«

Kai Bokel antwortete nicht. Harald Prossmann war aus dem Rhythmus gekommen. Er schnaube zweimal ins Wasser, bremste dann ab und erkannte, warum ihn Kai überholt hatte.

»Entschuldigung, ich wollte nicht stören«, rief der Rentner im weißen Bademantel Harald Prossmann zu. »Aber ich habe gerade gedacht, den kenne ich doch.«

»Darf ich Sie auffordern ...«, begann Kai, wurde aber von Harald Prossmann unterbrochen, der mit zwei kurzen Zügen nähergekommen war.

»Lassen Sie mal«, sagte Prossmann zu Kai. »Ist ja ein öffentliches Bad hier.« Er lächelte den Rentner an. »Kennen wir uns denn?«

»Was? Nee, dass wohl nicht so direkt, aber Sie sind doch der Prossmann von den Sozis, äh, sorry, von den Sozialdemokraten?«

»Richtig, dann kennen wir uns also doch«, entgegnete Harald Prossmann während er sich mit Tretbewegungen über Wasser hielt.

Marek hatte seinen Posten verlassen. Er sah sich im Eingangsbereich der Schwimmhalle um. Links neben dem Kassenschalter führte eine Treppe hinauf zu einer Tür, über der das Wort Zuschauertribüne stand. Er nahm immer drei Stufen auf einmal, erreichte das obere Ende der Treppe und zog die Tür auf. Warme Luft strömte ihm entgegen, es roch noch stärker nach Chlor, das Wasserplätschern hallte von den Wänden. Marek blieb am Geländer der Zuschauertribüne abrupt stehen, um nicht sofort aufzufallen. Er sah hinunter auf die Szene, die sich am Beckenrand abspielte. Harald Prossmann und Kai Bokel waren noch im Wasser. Auf den Bahnen fünf und sechs lieferten sich der SLK-Fahrer und sein Gegner ein weiteres stilles Rennen. Sie glitten dynamisch durchs Wasser, ohne übermäßig Wellen zu schlagen. Marek schaute ihnen ein paar Sekunden zu. Die nächste Wende führten sie fast synchron durch.

Dann erhob sich der Rentner im weißen Bademantel vom Startblock. Marek konzentrierte sich wieder auf die Szene am anderen Ende der Schwimmhalle.

»Ich habe da mal eine Frage, wenn es gestattet ist, Herr Prossmann«, sagte er. Seine Stimme hatte jetzt einen provokativen Unterton.

Harald Prossmann schwamm zwei weitere Züge näher an den Beckenrand heran und nickte. »Bitte, nur zu, was kann ich für sie tun?«

»Danke, danke!« Der Rentner deutete eine Verbeugung an. »Vielleicht erinnern Sie sich ja auch gar nicht mehr. Sagt Ihnen die Bordeauxstraße etwas?«

Harald Prossmann hob den Kopf etwas weiter aus dem Wasser. »Da muss ich wirklich überlegen, was Sie meinen.«

»Pankow«, sagte der Mann gedehnt. »Das ist jetzt allerdings schon sieben oder acht Jahre her.«

»Sieben oder acht Jahre«, wiederholte Harald Prossmann. »Ich bin jetzt wirklich etwas neben der Spur, guter Mann.«

»GOBe Bau, da müsste es doch jetzt bei Ihnen Klick machen. GOBe Bau, Gerhard Otto Berlin Bauunternehmung. Na, wie sieht es aus, sagt Ihnen das jetzt etwas?«

»Bordeauxstraße, Sie sprechen von dem Neubauvorhaben in der Französischen Siedlung. Marseille Straße, Toulon Straße, Rennes Straße?«

»Ganz toll, Sie haben es erfasst.« Der Rentner klatschte kurz in die Hände. »Ja, alles hat mit der Bordeauxstraße angefangen. Das war schon eine ganz schöne Schweinerei, was die mit den alten Leutchen da gemacht haben. Und die Politik stand auf Seiten von dieser Heuschrecke, diesem feinen Herrn Otto.«

»Waren Sie dort Mieter?«, fragte Harald Prossmann.

Jetzt konnte er sich tatsächlich an den Fall erinnern. Es war aber bestimmt schon neun Jahre her oder sogar noch länger. Die Neubebauung des Französischen Viertels wurde damals durch alle kommunalen Instanzen gepresst, ohne dabei auf die Interessen der alteingesessenen Anwohner Rücksicht zu nehmen. Er selbst hatte sich für die Neubebauung stark gemacht und die öffentliche Meinung damit beruhigen lassen, dass die alten Mieter nach Fertigstellung des ersten Bauabschnittes in die Bordeauxstraße zurückkehren könnten.

Das Projekt von Gerhard Otto sah aber keine Sozialwohnungen vor und so gab es auch keinen einzigen Rückkehrer in die Bordeauxstraße. Zwei der früheren Mieter hatten geklagt, wurden dann aber mit einer geringen Entschädigung abgefunden. Die meisten der Leute hatten aber schnell aufgegeben und die Öffentlichkeit hatte den Fall im ohnehin großen Bauboom des Berliner Aufbruchs schnell vergessen. In dieser Zeit gab es zudem weit größere Bauskandale.

Der Rentner im weißen Bademantel schüttelte langsam den Kopf. »Ich nicht, ich war kein Mieter der Bordeauxstraße, aber sehr wohl meine alte Frau Mama.«

Harald Prossmann nickte und hätte sich dabei fast im Wasser verschluckt. »Ich verstehe, es ist immer schwer, wenn alte Menschen eine Wohnung verlassen müssen, in der sie Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte gelebt haben.« Prossmann verstellte erneut seine Stimme und sprach jetzt mit einem betroffenen Unterton. »Ich hoffe nur, Ihrer Mutter geht es jetzt wieder gut, ich hoffe, sie ist darüber hinweggekommen, auch wenn es schwer war?«

Der Rentner rieb sich mit der rechten Hand das Kinn. »Sie ist vor zwei Jahren verstorben.«

»Oh, das tut mir leid.« Prossmann geriet mit Mund und Nase unter Wasser, aber er fing sich gleich wieder.

»Nein, nein, schon in Ordnung, sie war neunundachtzig, aber es war natürlich blöd, dass sie mit knapp achtzig aus ihrer Wohnung musste. Dreiundvierzig Jahre, sieben Monate und zwölf Tage, das ist schon mehr als ein halbes Leben.«

»Ich verstehe«, sagte Harald Prossmann nickend und musste erneut aufpassen, nichts von dem Chlorwasser zu schlucken. »Wir haben ja damals darauf gedrängt, dass die Mieter adäquaten Ersatz erhalten. Ich hoffe, das traf auch im Falle Ihrer Mutter zu?«

»Adäquat«, wiederholte der Rentner. »Ein tolles Fremdwort. Meine Mutter hatte es nicht so mit Fremdwörtern. Sie wollte einfach nur in ihrer alten Wohnung bleiben und dort irgendwann mal sterben. Sie hat auch keine neue Wohnung mehr bekommen. Es gab nichts Passendes und sie wollte nicht wieder von vorne anfangen, dreiundvierzig Jahre, da will man nicht mehr. Sie hatte zum Schluss ein fünfundzwanzig Quadratmeter Zimmer in einer Seniorenwohnanlage, natürlich war das eine Sozialwohnung. So richtig glücklich ist sie da allerdings nicht mehr geworden.« Der Mann stutzte. »Sind Sie denn heute noch der Meinung, dass das alles richtig war, mein lieber Herr Prossmann?«

Harald Prossmann überlegte und schüttelte dann langsam den Kopf. »Ich habe mich schon hinterher noch mal erkundigt, was aus den Leuten geworden ist. Einige haben es ganz gut getroffen, wegen der Abfindung und weil es ihnen nichts ausgemacht hat, umzuziehen. Ich habe in der Tat aber auch von anderen Fällen gehört. Man hätte den Leuten mehr Zeit geben müssen. Die Bordeauxstraße ist zu früh gefallen, man hätte bei den freien Flächen beginnen können, die erst viel später bebaut wurden.«

»Also geben Sie zu, dass es ein Fehler war?«

»Fehler?«, wiederholte Prossmann. »Man macht sicherlich immer auch Fehler, wenn man Entscheidungen treffen muss. Hinterher ist man oft klüger, das bleibt nicht aus. Nach meiner damaligen Sicht auf die Angelegenheit war es kein Fehler, das Bauvorhaben zu fördern. Es hat viel Gutes bewirkt, gerade für die Bezirke des ehemaligen Ostberlins, aber heute würde ich die eine oder andere Entscheidung nicht so treffen.«

»Sie geben es also doch zu?«

»Ja und nein. Im Falle Ihrer Mutter würde ich aus heutiger Sicht vielleicht anders entscheiden. Da hätte man sich intensiver kümmern müssen. Was mich allerdings noch mehr betroffen macht, ist die Tatsache, dass Sie mich nach all den Jahren wiedererkannt haben und ich Ihnen in so negativer Erinnerung geblieben bin.«

»Das war nicht schwer, sich an Sie zu erinnern«, sagte der Rentner. »Sie sind ja in letzter Zeit öfters mal in den Medien, wie man so schön sagt. Und verstehen Sie es nicht falsch, ich habe keinen Groll gegen Sie. Meine Mutter hätte ihre große Wohnung in der Bordeauxstraße ohnehin irgendwann aufgeben müssen. Es war nur blöd, dass es dann so schnell ging.«

»Dann kann ich jetzt also wieder meine Bahnen ziehen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen?«, fragte Harald Prossmann.

»Sicher, sicher! Tut mir leid, wenn ich Sie aufgehalten habe. Wenigstens haben Sie sich auf ein Gespräch eingelassen, das spricht schon mal für Sie.« Der Mann erhob sich vom Startblock.

Harald Prossmann nickte. »Keine Ursache.« Er begann mit den Armen zu rudern, um sich wieder aufzuwärmen. »Schönen Sonntag noch.«

»Ihnen auch, Herr Prossmann.«

Harald Prossmann tauchte unter, bis auf den Grund des Beckens und stieß sich dann vom Boden ab. Zurück an der Oberfläche begann er zu kraulen. Kai schloss sich ihm an und blieb dabei wieder zwei Körperlängen zurück. Marek hatte erst jetzt Gelegenheit, sich auf der Zuschauertribüne umzusehen. Er hörte das Klappern von Geschirr. In der Mitte der Tribüne waren die Stuhlreihen verschoben und durch einen langen, schmalen Tisch ersetzt worden. Eine Frau legte Servietten, Teller und Besteck auf, eine andere stellte diverse Marmeladen, Butter und Käse- und Wurstplatten daneben. Tüten mit Brötchen und ein aufgeschnittener Laib Brot wurden ebenfalls serviert.

Marek sah den Bemühungen der Frühstücksrentner mit knurrendem Magen zu. Er glaubte sogar aus der Ferne Brot und Brötchen riechen zu können. Er wollte hier nicht weiter stören und seinen Posten unten im Eingangsbereich wieder einnehmen. Er tat einen letzten Blick nach unten in die Schwimmhalle. Harald Prossmann schwamm weiter voraus, allerdings hatte Kai bis auf eine Körperlänge aufgeholt. Zwei Bahnen versetzt kam ihnen nur einer der Wettschwimmer entgegen. Marek sah sich sofort in der Halle um. Das Rennen war offenbar beendet. Der SLK-Fahrer hatte das Wasser verlassen, war aber nirgends zu sehen. Marek beugte sich vor, versuchte unter die Zuschauertribüne zu blicken. Hier war nur der Rentner im weißen Bademantel zu sehen, der gerade die Halle verließ.

Der bärtige Bademeister war ebenfalls wieder auf den Beinen. Er trug einen weißen Eimer, den er unter einen in die Wand eingelassenen Hahn stellte. Er ließ Wasser in den Eimer laufen, den er dann randvoll zu einer Roste in der Schwimmbeckenbegrenzung trug. Anschließend holte er sich noch einen Feudel und begann mit dem Wasser aus dem Eimer irgendeine Verschmutzung zu beseitigen.

*

Den roten Opel Astra Kombi hatte Kerstin erst vor acht Monaten als Jahreswagen gekauft. Thomas umrundete das Auto, das unauffällig zwischen einem VW-Käfer und einem Renault R5 parkte. Zunächst bemerkte er, dass das Handschuhfach offenstand, dann stellte er fest, dass der Wagen überhaupt nicht verschlossen war.

Thomas wandte sich an einen der uniformierten Beamten. »Wart ihr da schon dran?«

»Wie bitte?«

»Der Wagen ist nicht verschlossen.« Thomas deutete auf die Fahrertür und öffnete sie.

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Das war schon so, als wir ankamen. Hat der Kollege sich notiert. Wir haben aber innen noch nicht nachgesehen.«

Thomas nickte, schob die Fahrertür weiter auf und beugte sich in den Wagen. Er stützte sich auf den Fahrersitz. Das Handschuhfach war leer. An einer Seite klemmte lediglich eine Parkscheibe mit dem Logo der Charité Berlin. In der Ablage der Mittelkonsole lagen ein paar Münzen im Wert von höchstens zwei, drei Euro. Thomas griff unter Fahrer- und Beifahrersitz und förderte ein einzelnes Bonbonpapier hervor. Er stieg wieder aus und nahm sich über die hintere linke Tür die Rückbank vor. Dort lag eine ordentlich zusammengelegte Wolldecke, die ebenfalls das Logo der Charité trug. Mit der Hand fuhr Thomas unter die Decke und anschließend in den Fußraum und unter die Vordersitze. Ein Eiskratzer und ein Scheibenschwamm waren seine Fundstücke.

Er überlegte, wollte die Rückbank umklappen, stieg dann aber wieder aus dem Wagen und ging zur Heckklappe des Kombis. Durch die Scheibe konnte er nichts sehen, weil das Kofferraumrollo zugezogen war. Er öffnete die Heckklappe und starrte ein, zwei Sekunden auf die schwarze Damenhandtasche, die rechts in das Gepäcknetz geklemmt war. Er zögerte, löste die Tasche aus dem Netz und öffnete sie, um festzustellen, dass sie komplett leer war. Keine der üblichen Utensilien und auch kein Portemonnaie, keine Papiere, nichts. Der Uniformierte hatte sich hinter Thomas gestellt.

 

»Und, was gefunden?«

Thomas schüttelte den Kopf und zeigte die leere Handtasche. »Der Wagen war offen, da konnte jeder ran.«

»Glaube ich nicht«, sagte der Polizist ruhig. »Da war keiner an dem Wagen.«

»Wie wollen Sie das wissen?«, entgegnete Thomas.

»Erfahrung, das sähe anders aus. Erstmal ist nicht zu erkennen, dass der Wagen überhaupt aufgebrochen wurde. Und wenn, dann muss es bei den Jungs immer schnell gehen. Die klappen die Rückbank um, die gehen nicht über die Heckklappe nach hinten, wenn die schon im Wagen drin sind. Und dann hätten die die ganze Tasche mitgenommen und den Inhalt später ausgekippt und nur das geklaut, was von Wert ist. Der Wagen ist unberührt. Die Halterin hat nur vergessen abzuschließen ...«

»Und was ist mit dem Handschuhfach, das stand doch offen?«

»Das mache ich auch immer so, um zu zeigen, dass bei mir nichts zu holen ist.« Der Uniformierte zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist das auch der Grund, warum sie gar nicht erst abgeschlossen hat, bevor sie der Versicherung noch eine aufgebrochene Autotür melden muss und am Ende vermutlich doch auf dem Schaden sitzenbleibt. Hier in der Gegend ist das ganz clever, wenn man nicht zu viel abschließt und richtige Wertsachen sollte man ja ohnehin nicht im Auto lassen.«

Thomas überlegte und nickte dann. »Vielleicht haben sie damit recht. Sie hat nämlich bei einer Freundin übernachtet.« Thomas deutete zu dem Wohnhaus. »Sie hatte wahrscheinlich einen kleinen Koffer oder eine Tasche dabei, hat die Wertsachen aus der Handtasche umgepackt und hinterher tatsächlich vergessen ihren Wagen abzuschließen.«

Der Uniformierte schaute Thomas merkwürdig an. »Ist die Dame denn verschwunden?«

»So kann man das nicht sagen.« Thomas überlegte und entschied sich Mareks Version zu verwenden, warum sie nach Kerstin und ihrer Freundin Steffanie Hartfeld fahnden ließen. »Frau Dr. Sander ist Ärztin und in einer medizinischen Angelegenheit, die keinen Aufschub bedarf, wünscht man offenbar ihre fachliche Meinung. Leider konnte niemand sie bisher telefonisch oder sonst wie erreichen und so ...«

»Das haben wir oft, dass wir dringend nach irgendwelchen Personen suchen müssen«, unterbrach der Polizist Thomas kopfschüttelnd. »Und hinterher ist es dann doch nicht so wichtig. Die Leute sind am Wochenende gerne ungestört, warum lässt man sie nicht in Ruhe.«

»In diesem Fall möchten wir Frau Dr. Sander aber gerne finden.«

»Schon gut«, sagte der Streifenpolizist schnell. »Wir sind ja an der Sache dran, keine Bange. Was ist denn jetzt mit dem Koffer oder der Tasche. Sie kommen doch von oben, gibt es da keinen Hinweis, wo sich die Dame aufhält? Haben Sie ihr Gepäck denn in der Wohnung nicht gefunden?«

»Guter Hinweis«, antwortete Thomas. »So wie es aussieht werde ich wohl noch einmal nachsehen müssen.«

*

Marek sah sich auf der Zuschauertribüne der Schwimmhalle in der Finckensteinallee um. Hinter der Frühstücksgesellschaft, am anderen Ende der Tribüne gab es einen weiteren Ausgang. Er überlegte kurz, ging dann am Geländer entlang. Er musste ein paar Stufen hochsteigen, um an dem einladend gedeckten Tisch vorbei zu kommen. Es roch herrlich nach frischem Kaffee. Es machte Klack, als jemand ein Marmeladenglas öffnete. Marek sah sich nach dem Geräusch um. Eine Frau mit einem altmodischen Pagenkopf lächelte ihn an.

»Na, junger Mann, mögen Sie etwas selbstgemachte Quittenkonfitüre. Sie sehen so hungrig aus. Ein oder zwei Brötchen haben wir für solche Fälle immer übrig.«

Zwei andere Damen lachten und zogen gemeinsam einen der Stühle vor. Marek schüttelte den Kopf.

»Ich sehe nicht nur hungrig aus, ich bin es auch.« Er überlegte kurz. »Aber leider keine Zeit. Ich bin verabredet. Wo geht es denn dort eigentlich hin?« Er deutete zu der Tür am anderen Ende der Tribüne.

»Immer haben die jungen Leute keine Zeit.« Die Frau mit dem Pagenkopf und der selbstgemachten Konfitüre schüttelte den Kopf.

»Da können Sie nur hin, wenn Sie Badehose, Latschen und Handtuch dabei haben«, sagte eine andere Dame. »Da geht es zur Umkleide.«

»Danke, ich will nur kurz nachsehen, ob mein Bekannter dort ist«, sagte Marek und schob den angebotenen Stuhl wieder an den Frühstückstisch.

Er nickte den Damen noch einmal zu und strebte der Glastür entgegen. Jemand aus der Frühstücksgesellschaft rief ihm noch etwas hinterher, das er erst verstand, als er die Tür erreichte und feststellte, dass sie sich von der Tribünenseite aus nicht öffnen ließ. Es gab bestimmt einen Schlüssel. Marek wollte schon zurück gehen, als er hinter dem Glas der Tür eine Bewegung wahrnahm. Einen Augenblick später trat ihm der Rentner entgegen, der mit Harald Prossmann gesprochen hatte und immer noch seinen weißen Bademantel trug. Er zog die Tür ganz auf, schlüpfte an Marek vorbei und hielt ihm mit einem freundlichen Nicken die Tür geöffnet.

»Danke!«, sagte Marek.

Der Mann grinste. »Sie gehören doch bestimmt zu Prossmanns Aufpassern? Ich habe wohl gemerkt, dass Sie mich die ganze Zeit im Auge hatten, genauso wie die Frostbeule, die im Wasser gelauert hat.« Der Rentner lachte jetzt.

Marek klopfte ihm auf die Schulter. »Gut erkannt. Wir rufen Sie sofort an, wenn mein Kollege und ich mal freinehmen wollen. Sie verstehen sich ja ganz gut mit unserem Boss.«

Der Rentner lachte noch einmal heftig auf und musste danach seinen Bademantel neu schnüren. »Ja, junger Mann, so machen wir’s.«

Marek trat durch die Tür und ließ sie hinter sich zufallen. Er sah eine Metalltreppe hinunter, die vor einer weiteren Tür mit Glasausschnitt endete. Unten war nur ein schwacher Lichtschein zu sehen. Marek ging die Treppe zügig nach unten. Zum Glück war die zweite Tür nicht verschlossen und führte auf einen kurzen Gang der am Ende in einen zweiten, querverlaufenden Flur mündete. Es roch wieder stärker nach gechlortem Wasser. An der gefliesten Wand vor ihm deutete ein Schild zu den Umkleidekabinen. Rechts ging es zu den Männern.

Marek überlegte nicht lange und schlug diesen Weg ein. Die Geräusche aus der Schwimmhalle wurden lauter. Auf der linken Seite des gekachelten Flurs befand sich eine zweiflüglige Glastür, die in den Badebereich führte. Harald Prossmann verschnaufte gerade am Ende seiner Schwimmbahn, wartete allerdings nur auf den Anschlag von Kai, um sich sofort wieder vom Beckenrand abzustoßen. Mareks Blick wanderte durch die Schwimmhalle. Sonst war niemand mehr dort. Der Überstand der Zuschauertribüne verhinderte, dass er die Frühstücksrentner sehen konnte, dafür war ein gedämpftes Stimmengewirr und Lachen zu hören.

Marek ging den Flur wieder ein paar Meter zurück. Ein Wegweiser neben einer metallbeschlagenen Tür markierte den Zugang zu der Herrenumkleidekabine und zeigte auch noch einmal die Richtung zu der Damenumkleide an und zum Treppenaufgang, der zur Zuschauertribüne führte. Marek schaute auf seine Armbanduhr. Es war fünf nach halb neun. Dann betrat er den Raum, in dem das Licht eingeschaltet war. In der Mitte der Umkleidekabine teilte eine lange Bank den Raum. Rechts und links an den Wänden davor befanden sich die deckenhohen Schließfachschränke. Die Schranktüren im vorderen Bereich waren alle matt weiß lackiert und mit einem einfachen Schloss versehen. In fast allen Türen steckten die Pfandschlüssel mit ihren roten Handgelenkriemen.

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