Morgentod

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Bruckner und ich stiegen die Treppe hinauf und ich erwartete im Haus weitere Merkmale des Jugendstils zu finden. Wir hatten kaum die Tür erreicht, als uns auch schon ein Uniformierter mit aufgeregtem Gesichtsausdruck entgegenkam. Bevor der Mann etwas sagen konnte, hatte Bruckner seine Dienstmarke aufblitzen lassen und wir durften ohne weitere Aufregung passieren. Meine Vermutung, was den Jugendstil betraf, schien sich zu bestätigen. In der großzügigen Diele standen zwei Stühle und ein schwarzes, gusseisernes Kaminbesteck. Die langen Griffe des Schürhakens, der Schaufel, des Besens und der Kaminzange wiesen die typischen Rundungen auf. Der Durchgang von der Diele zur Eingangshalle bestand aus einer Buntglaswand mit einer zweiflügeligen Glastür. Auf alles traf die Stilbeschreibung zu, die mir spontan wieder einfiel: dekorativ geschwungene Linien mit flächenhaften floralen Ornamenten. Eine schöne Umschreibung. Bruckner hatte hierfür keinen Blick. Er wandte sich an den Uniformierten, der ein kleinwenig strammzustehen schien, als er angesprochen wurde.

»Wo ist der Dauerdienst?«

Ich musste selbst überlegen, was Bruckner damit meinte. Der Uniformierte schien aber überhaupt keine Vorstellung zu haben, wonach er gefragt wurde. Der Mann war wirklich sehr jung. Bei einer anderen Gelegenheit hatte Bruckner einmal über seine jungen Kollegen gesagt, dass er nicht verstehe, warum man sie so früh aus der Kaserne der Bereitschaftspolizei herausließe.

»Ich ..., äh ..., meinen Sie die anderen Herren?«, war die durchaus berechtigte Gegenfrage des Polizisten.

Bruckner schüttelte den Kopf. »Wo müssen wir hin?«

Der junge Uniformierte hatte sich wieder gefangen. »Ich bringe Sie.«

Bruckner hatte nichts einzuwenden und wir folgten dem Mann. Er hielt uns einen Flügel der Glastür geöffnet und wir betraten die Eingangshalle. Es war so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein großer, halbrunder Raum, der nach oben die erste Etage durchbrach und in seinem Zentrum durch einen ausladenden Kronleuchter beschirmt wurde. Es gab eine breite, geschwungene Treppe, die sich auf halbem Wege nach oben verjüngte, um dann auf dem Rest des Weges hinauf zur Galerie wieder breiter zu werden. Das Treppengeländer zog sich ebenfalls in einem eleganten, jugendstilhaften Schwung nach oben und wurde schließlich in die Balustrade der halbkreisförmigen Galerie aufgenommen. Ich hoffe diese Beschreibung gibt einen Eindruck der Schönheit.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann war mir wieder bewusst, dass ich nicht zu einer Objektbesichtigung hier war. Rechts von uns öffnete sich eine Tür. Drei Herren stürmten heraus und traten zu uns. Hartmann war mir noch bekannt. Der zweite Polizist in zivil wurde mir als Hermann Seitz vom Kriminaldauerdienst vorgestellt. Hinter ihm stand der dritte Mann. Mir fiel sofort der klassische Arztkoffer auf, den er in der rechten Hand hielt. Es war heutzutage nicht mehr praktisch mit diesen Taschen herumzulaufen, es sei denn, man war kein Arzt. Braunes, glattes Leder mit goldenen Beschlägen. Die Tasche und die gesamte Aufmachung des Mannes passten zu dem Audi, der draußen parkte. Bruckner wandte sich an Hartmann, der sofort mit seinem Bericht begann.

»Die Tote liegt in der Bibliothek. Die Leute aus dem Haus warten im Salon. Udo passt auf.«

Mit Udo meinte Hartmann seinen Kollegen Udo Galler, der ebenfalls beim Erkennungsdienst arbeitete. Hartmann selbst hatte, seitdem ich ihn kannte, immer eine Doppelfunktion gehabt. Bruckner setzte ihn als eine Art Assistenten ein. So war es schon vor ein paar Monaten, als ich das erste Mal mit Bruckner zusammengearbeitet hatte.

»Wie viele sind es?«, fragte Bruckner.

»Im Salon warten vier. Ich habe die Personalien bereits aufgenommen. Und auch schon ans Präsidium weitergegeben.«

»Wer sind die Leute?«

»Drei Hausangestellte und der Hausherr. Frau von Treibnitz ist auf ihrem Zimmer, der Doktor hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.«

Hartmann deutete auf den Mann mit dem Arztkoffer, der jetzt vortrat und Bruckner die Hand reichte.

»Dr. Loos«, stellte er sich vor.

Bruckner musterte ihn ein, zwei Sekunden. »Sind Sie der Hausarzt derer von Treibnitz?«

»Bitte?«, fragte Dr. Loos und er schien wirklich nicht verstanden zu haben.

»Ob Frau von Treibnitz Ihre Patientin ist, sind Sie deswegen hier?« Bruckner sprach bewusst langsam.

»Nein, nein, ich bin wegen der Leichenschau gekommen«, erklärte der Arzt.

Hartmann griff ein. »Der Doktor ist von einer der Angestellten gerufen worden.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Dr. Loos. »Die Köchin, Frau Salbert hat mich angerufen. Ich wohne hier in der Gegend. Frau Salbert und ich kennen uns. Ich sollte Erste Hilfe leisten, aber ich muss sagen, es war natürlich schon zu spät.«

»Dr. Loos hat den Tod der Toten festgestellt«, erklärte Hartmann. »Also die erste Leichenschau vorgenommen.«

»Das alles ist mir etwas unangenehm«, stammelte der Doktor. »Ich bin Hals-Nasen-Ohren-Arzt, leite eine Privatklinik. Das, was da mit der Frau geschehen ist, gehört sozusagen nicht in mein Fachgebiet.«

»Aber Sie konnten wenigstens ihr Ableben feststellen«, warf Bruckner etwas mürrisch ein.

»Es muss ein bisschen mehr gemacht werden«, antwortete Dr. Loos. »Ich bin mir schon meiner Pflicht bewusst.«

»Gut, Sie sind gleich noch dabei, wenn ich mir die Tote ansehe.«

»Ich habe Verpflichtungen«, begann Dr. Loos wieder zu stammeln. »Mir ist das alles wirklich sehr unangenehm. Können Sie nicht Ihre Kollegen von der Gerichtsmedizin hierherholen?«

»Kommt noch!«, sagte Bruckner weiterhin mürrisch. »Sie haben die Leiche als Erster untersucht, Sie bleiben bitte hier.«

Es vergingen zwei Sekunden, dann fügte Bruckner in milderen Worten noch etwas hinzu. »Bitte haben Sie Verständnis dafür, Herr Dr. Loos.«

Bruckner wandte sich wieder an Hartmann. »Ich überlege gerade, soll ich mit den Leuten sprechen oder erst die Leiche ansehen?«

»Die sollten sich noch ein paar Minuten beruhigen«, meinte Hartmann. »Wir haben sie ja regelrecht zusammengetrieben. Den Gärtner musste ich zweimal bitten, wieder ins Haus zu kommen.«

»Den Gärtner«, wiederholte Bruckner. »Da gibt es doch ein Sprichwort.«

»Oh, sonst sind die Phrasen doch immer von mir, Herr Kriminaloberkommissar«, entgegnete Hartmann.

Bruckner zuckte mit den Schultern. »Also zuerst die Leiche. Spurensicherung schon abgeschlossen?«

»Nein, wie gesagt, die Leiche geht vor.«

»Wo ist das, diese Bibliothek?«

Hartmann zeigte auf die Tür, durch die er, Hermann Seitz und Dr. Loos vor zwei Minuten gekommen waren. Bruckner nickte. Hartmann ging voran, wir anderen folgten. Ich betrat das Zimmer als Letzter und schloss die Tür hinter mir. Hartmann und Galler hatten Scheinwerfer aufgestellt, die Hartmann jetzt wieder einschaltete. Ich hatte den Körper der toten Frau erst gar nicht wahrgenommen. Das grelle Licht tauchte alles in eine unwirkliche Welt, in eine Welt aus Sachlichkeit. Dieses Empfinden hatte ich früher auch schon immer im Leichenschauhaus, was es einem einfacher macht, die Grausamkeit des Todes von Gewaltopfern zu ertragen. Erst jetzt spürte ich die Hitze in dem Raum. Hartmann klärte uns gleich auf.

»Der Gaskamin war voll aufgedreht, warum auch immer. Das macht die Sache für den Pathologen nicht einfacher. Wir konnten natürlich nicht lüften.«

Bruckner nickte. »Wie weit ist der Bereich gesichert?«, fragte er.

Hartman zeigte in gerader Linie von der Tür bis zur Leiche. »Wir haben hier einen Korridor von zwei Metern Breite aufgenommen. Und um die Tote herum einen Halbkreis von ebenfalls zwei Metern.«

»Und die Spurenlage?«

»In der Nähe der Leiche vor allem Blut, menschliches Gewebe und verbrannte Stoffreste«, erklärte Hartmann. »Die Stoffreste stammen wohl von der Kleidung der Toten, soweit man das ohne Laboruntersuchung feststellen kann.«

»Sonst nichts?«

Hartmann schüttelte den Kopf. »Wir sind mit unserem Staubsauger über den Teppich gegangen. Ist so gut wie nichts hängengeblieben. Der Raum wird täglich gereinigt. Gibt ja auch genug Personal hier.«

»Wer sagt das?«, fragte Bruckner.

»Die Haushaltshilfe«, antwortete Hartmann. »Eine Frau Lankes. Ich habe mich sehr nett mit ihr über Staubsauger unterhalten. Hier im Hause bevorzugt man einen Vorwerk Kobold.«

»Kobold?«, wiederholte Bruckner.

»Der Mercedes unter den ...« Hartmann sprach den Satz nicht zu Ende, weil Bruckner schon die Hand hob.

»Ich glaube wir lassen die Phrasen«, sagte er mit einem Ton, der allerdings nicht sehr ernst klang.

Bruckner sah erst nach links und dann nach rechts, um die zwei Meter abzuschätzen. Hermann Seitz, der bislang noch überhaupt nicht gesprochen hatte, blieb wie eine Wache an der Tür stehen. Wir anderen gingen auf dem vorgegebenen Weg zur Leiche. Eine gute Minute lang ließen wir das Bild auf uns wirken. Dr. Loos begann schon unruhig zu werden. Bruckner ließ ihn weiter zappeln.

»Was wissen wir über die Dame?«

»Caroline Upp, fünfunddreißig Jahre alt, ledig. Die Information stammt von Herrn von Treibnitz«, erklärte Hartmann.

»Das weiß ich schon alles. Hast du nicht mehr zu bieten? Was ist mit Angehörigen, Eltern, Geschwister, sind Namen von Freunden bekannt und das alles? Mit wem haben wir es zu tun? Was sagt der Polizeicomputer?«

Hartmann pfiff durch die gespitzten Lippen. »Noch gar nichts. Die Überprüfung steht noch aus. Ich kann mich schließlich nicht zerreißen. Ich werde mich aber gleich noch einmal dahinterklemmen.«

Bruckner nickte, gab sich mit der Antwort vorerst zufrieden. »Was waren ihre Aufgaben?«, kam er gleich zum nächsten Punkt.

 

»So wie ich es verstanden habe, war Frau Upp die Hauswirtschaftlerin.«

»Was macht so jemand?«

»Weiß nicht«, sagte Hartmann.

Bruckner gab auch mit dieser Antwort vorerst zufrieden. Bisher hatte er in gewisser Weise nur über die Leiche hinweggesprochen. Jetzt ging er in die Knie. Ich selbst habe immer den Blick von oben bevorzugt. Bruckner hockte direkt vor dem Kopf der Toten, so hat jeder seine eigene Herangehensweise. Die Leiche lag auf dem Rücken vor einem geöffneten Schrank. Das rechte Bein war gerade gestreckt, das Linke leicht angewinkelt. Die Arme waren zu beiden Seiten des Kopfes nach hinten geworfen. Es sah tatsächlich so aus, als wäre die Tote mit großer Wucht umgestoßen worden und hatte dabei mit den Armen gerudert, um den Sturz noch zu verhindern. Dieses Bild täuschte selbstverständlich. Es war vielmehr die heftige Rückwärtsbewegung, die die Arme mit sich gerissen hatte. Es war also keine gewollte oder reflexartige Bewegung, sondern die reine Physik eines leblosen Körpers. Die Ursache für diese plötzliche Leblosigkeit zeichnete sich auf der Brust der Frau ab. Das blutdurchtränkte Kleid verbarg zunächst die schwere Verletzung. Bei genauerem Hinsehen konnte man aber den zerstörten Brustkorb erkennen. Ein gut fünf Zentimeter großes Loch, zerfetztes Fleisch, geborstene Knochen. Alles war bereits in Blut getaucht, sodass es wie eine einzige rote Masse wirkte. Ich blickte jetzt auch in das Gesicht der Toten. Erhebliche Blutspritzer an Kinn und Nase. An einigen Hautstellen gab es Verbrennungsspuren. Die Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Die Gesichtshaut wirkte insgesamt bläulich. Die braunen, halblangen Haare klebten in einer Blutlache am Teppich.

Bruckner gab dem Arzt ein Zeichen. Dr. Loos hockte sich ohne ein Zögern zu ihm auf den Boden.

»Was können Sie mir darüber sagen?«

Dr. Loos überlegte, als wenn er nach den richtigen Worten suchen musste. Dann legte er los.

»Schussverletzung aus nächster Nähe, vielleicht zehn, höchstens zwanzig Zentimeter«, war die erstaunlich knappe und präzise Antwort.

Dr. Loos war aber noch nicht fertig. Bruckner und er blieben in der Hocke, während der Arzt auf den Körper der Toten zeigte, um seine Erklärungen anschaulicher zu machen.

»Schrotmunition. Das Brustbein wurde aufgesprengt, hoher Blutverlust in relativ kurzer Zeit. Ich vermute auch gravierende innere Verletzungen.« Er machte eine Pause und sah Bruckner an. »Die Schrotkörner können an den Knochen abgeprallt und nach innen gedriftet sein. Daher vermute ich auch Verletzungen an weiteren Organen.«

»Was ist mit der Gesichtsfarbe?«, fragte Bruckner, dem der blaue Teint der Leiche ebenfalls aufgefallen war.

»Wie gesagt, es sind sehr wahrscheinlich weitere Organe vom Schrot durchsiebt worden«, antwortete Dr. Loos. »Und so vermutlich auch die Lunge. Die Schussverletzung muss nicht sofort tödlich gewesen sein. Die Verletzung und das viele Blut haben die Lunge außer Funktion gesetzt. Die Frau kann durchaus erstickt sein, bevor sie verblutet ist.«

Bruckner nickte. Er und Dr. Loos erhoben sich fast gleichzeitig. Bruckner wandte sich an Hartmann und mich. Ich ging um die Leiche herum, stellte mich Bruckner und Hartmann gegenüber. Gemeinsam sahen wir uns den Rest des Arrangements an. Dieses Wort ist sehr passend, finde ich. Nach dem Ereignis, das heißt nach dem Sturz und dem Tod der Frau, haben alle Gegenstände einen bestimmten Ort eingenommen. Die Feststellung, ob sich diese Orte physikalisch erklären lassen, oder künstlich hervorgerufen wurden, gehört zur wichtigsten Arbeit der Polizei und der Spurensicherung. Hartmann hatte sich bereits eine Meinung gebildet. Er ließ Bruckner und mir aber genug Zeit, damit wir selbst zu einem Bild kamen.

Der Schrank aus dunklem, poliertem Mahagoniholz, war etwa zwei Meter hoch und hatte zwei teilverglaste Türen, die auch den Unterschrank abdeckten. Beide Türen waren bis zum Anschlag geöffnet. Im Unterschrank befand sich eine Art Tresor. Bruckner zog an dem Metallgriff, der Tresor war aber verschlossen. Über dem Unterschrank, auf dem massiven Trennboden, standen drei Gewehre aufrecht in ihren Halterungen. Ein viertes Gewehr war nach vorne gekippt. Der Lauf zeigte schräg nach oben. Die Gewehre waren an den Abzugsbügeln durch ein kunststoffummanteltes Stahlkabel gesichert, das bei allen Waffen allerdings oberhalb des Abzugs verlief. Die Schlaufe am Ende des Sicherungskabels war über einen Riegel geschoben, der wiederum mit einem stabilen Vorhängeschloss versehen war. Bruckner betrachtete sich die Anordnung. Er beugte sich in den Schrank und prüfte das Vorhängeschloss, dessen Bolzen eingerastet war. Der Kolben des schräg nach vorne ragenden Gewehrs hatte die Innenwand des Schrankes gespalten.

»Rückschlagskraft!«, kommentierte Bruckner.

Er befühlte das Holz und kratzte am Gummiabrieb, den der Kolben hinterlassen hatte. Er zog den Kopf aus dem Schrank. Dann fiel sein Blick auf den kleinen Schlüssel, der auf dem Teppich, unmittelbar vor dem Mahagonischrank lag. Er deutete darauf.

»Das ist ein Bohrmuldenschlüssel«, erklärte Hartmann. »Der könnte für das Kabelschloss passen.«

»Nicht für den Schrank?«, fragte Bruckner.

»Den Schrank kann man nicht abschließen, hat kein Schloss und keinen Riegel.«

»Und! Passt der Schlüssel für das Sicherungskabel?«

»Wir haben ihn noch nicht angerührt«, antwortete Hartmann. »Wegen der Fingerabdrücke. Wir hatten noch keine Zeit, uns um die Fingerabdrücke zu kümmern.«

»Handschuh!«, forderte Bruckner.

Hartmann nickte und zog einen blauen Venylhandschuh aus seiner Jackentasche. Er reichte ihn Bruckner, der ihn sich über die rechte Hand streifte.

»Aber nichts verwischen«, warnte Hartmann.

Bruckner schüttelte verächtlich den Kopf, ging in die Hocke und nahm den kleinen Schlüssel vom Boden auf. Er hielt ihn vorsichtig am Schlüsselbart fest. Hartmann war schon zu seinem Koffer gegangen und kam mit einem feinen Pinsel und einem Fläschchen Rußpulver zurück. Bruckner hielt ihm mit spitzen Fingern den Schlüssel hin und Hartmann strich das Rußpulver auf. Anschließend pustete er und schüttelte gleich den Kopf.

»Ist wohl kaum brauchbar.«

»Nimm den Abdruck trotzdem«, forderte Bruckner ihn auf.

Hartmann hatte auch schon einen Klebestreifen dabei und fixierte das Reißpulver. Nachdem die Prozedur beendet war, wischte Bruckner über den Schlüssel, setzte sich wieder auf die Knie und beugte sich in den Schrank hinein. Er probierte es, ohne das Schloss des Sicherungskabels ganz zu öffnen.

»Passt!«, war die knappe Aussage.

Hartmann nickte. Bruckners Blick richtete sich auf den Tresor im Unterschrank. Er setzte den Schlüssel an, drehte ihn und öffnete die Tresortür.

»Na bitte!«

Er bückte sich noch ein Stück tiefer und blickte ins Innere des Tresors. Er griff hinein und holte eine angebrochene Packung Schrotmunition hervor.

»Da haben wir ja die Übeltäter«, kommentierte Bruckner seinen Fund. »Es fehlen allerdings sechs Patronen.« Er griff noch einmal in den Tresor und zog eine zweite Packung heraus. »Und da haben wir auch Kugelmunition.«

Bruckner schob die Patronenpackungen zurück in den Tresor, schloss den Tresor aber nicht wieder ab, sondern zog nur den Schlüssel und gab ihn Hartmann.

An dieser Stelle hätte man die ersten Spekulationen über die Geschehnisse vornehmen können, doch das war noch zu früh. Es waren noch nicht alle Fakten zusammen und so schwiegen Bruckner und Hartmann und ließen Spuren Spuren sein. Bruckners Blick richtete sich jetzt vielmehr auf die Gewehre.

»Was sind das für Waffen?«, fragte er nach kurzer Überlegung.

Hartmann schüttelte den Kopf. Dr. Loos, der noch immer am Kopf der Leiche stand, hob zaghaft den Arm.

»Entschuldigen Sie, ich kenne mich da aus.«

»Was heißt das, Sie kennen sich aus?«, rief Bruckner.

Dr. Loos kam ein paar Schritte näher zum Schrank. »Ich kenne nicht diese Waffen, aber ich kenne mich mit solchen Jagdgewehren aus.«

Bruckner nickte zustimmend. »Und das sind Jagdgewehre?«

»Jagdflinten, um genau zu sein«, bestätigte Dr. Loos beinahe eifrig. Er deutete in den Schrank. »Die Erste, das ist eine Bernadelli, eine Blockflinte. Das sieht man an den übereinanderstehenden Flintenläufen. Ein wirklich schönes Stück.« Er räusperte sich. »Daneben haben wir eine Beretta Perennia, auch eine Blockflinte. Und daneben, die Dritte, das ist ein Drilling, eine Sauer & Sohn 3000 Luxus. Wissen Sie, was ein Drilling ist?«

»So in etwa«, antwortete Bruckner.

»Also der Drilling ist eine kombinierte Waffe mit zwei Schrot- und einem Kugellauf. Darum auch die Kugelmunition im Tresor. Wer in seinem Revier mit verschiedenen Wildarten zu tun hat, wird immer mit einem Drilling unterwegs sein. Er wird die klassische Kugelmunition vor allem für Schalenwild einsetzen, während für das Niederwild Schrotmunition benötigt wird.«

Bruckner hatte sich wieder zum Schrank umgewandt, während Dr. Loos sein Wissen preisgab. »Gut, gut, ich glaube ich habe verstanden.« Er zeigte auf die Waffe ganz Rechtsaußen, die weiterhin nach vorne gezogen war.

»Und diese hier?«

»Eine Blaser F3 Competition. Die Competition hat einen sehr langen Lauf. Das Projektil erfährt dadurch eine höhere Beschleunigung.« Dr. Loos zögerte einen Moment. »Es passt sehr gut zu den Verletzungen der Toten. Hohe Auftreffgeschwindigkeit der Schrotkugeln, bei geringer Streuung.«

»Was sagten Sie noch, aus welcher Entfernung wurde geschossen?«

Dr. Loos überlegte. Er wandte sich zu der Toten, als wenn er seine vorherige Aussage noch einmal überprüfen wollte. Dann sah er Bruckner wieder an.

»Ich bin davon überzeugt, dass die Mündung der Flinte nicht auf der Brust lag. Es gibt nämlich keine unmittelbaren Verbrennungsspuren und es ist auch eine ganz leichte Schrotstreuung zu erkennen. Ich bleibe dabei, zehn Zentimeter, auf keinen Fall mehr.«

»Und weiter?«, fragte Bruckner.

Dr. Loos nickte. »Sie muss den Lauf mit der rechten Hand gehalten haben, und zwar ziemlich weit oben. Sie hat die Mündung zu sich herangezogen.«

»Moment, das verstehe ich nicht, wie kommen Sie darauf?«, fragte Bruckner. »Die Waffe kann doch auch herausgekippt sein, während unser Opfer im Schrank hantierte?«

Dr. Loos trat vor die Tote, beugte sich über sie, nahm ihren rechten Arm hoch und drehte die Handfläche nach oben. »Hier können Sie die Verbrennungsspuren sehen. Das kommt vom Mündungsfeuer.«

»Alle Achtung«, sagte Bruckner, »da nehmen Sie ja die Arbeit des Gerichtsmediziners vorweg.«

»So etwas ist wohl nicht sehr schwer zu erkennen«, entgegnete Dr. Loos mit einem Achselzucken.

Er legte den Arm der Toten wieder behutsam auf dem Fußboden ab und erhob sich.

»Was glauben Sie, was passiert ist?«, fragte Bruckner weiter.

Dr. Loos räusperte sich erneut. »Sie hat den Lauf der Flinte zu sich gezogen, ihn wie gesagt mit der rechten Hand gehalten und dann muss sich der Schuss gelöst haben.«

»Wie meinen Sie das, der Schuss muss sich gelöst haben?« Bruckner sah mich kurz an, wartete aber auf Dr. Loos’ Antwort.

»So etwas kann schnell passieren, wenn die Waffe noch geladen war. Es ist natürlich unverantwortlich, eine geladene Flinte im Schrank abzustellen.«

»Also das ist Ihre Theorie«, fasste Bruckner zusammen. »Das Opfer geht an den Schrank, öffnet ihn, nimmt das Gewehr mit der rechten Hand und zieht es am Lauf heraus. Daraufhin löst sich ein Schuss. Warum hat sich der Schuss gelöst?«

Es war Bruckners Art zu fragen, denn genau wie ich, wusste er die Antwort bereits. Dr. Loos ließ sich auf das Spiel ein.

»Das Sicherungskabel«, antwortete er und ging an den Schrank heran. »Es ist aber absolut gefährlich, wenn man das Sicherungskabel so verlegt wie hier.« Der Arzt sah Bruckner wieder an. »Sie wissen schon, was ich meine. Das Kabel sollte eigentlich unterhalb der Abzüge laufen.«

Bruckner verzog keine Mine. »Also, sie hat die Flinte aus irgendeinem Grund mit der rechten Hand am Lauf angefasst, den Lauf zu sich gezogen. Das Sicherungskabel hat sich gespannt und den Abzug ausgelöst. Dann ergeben sich mehrere Fragen für mich.«

Bruckner schien kurz zu überlegen. Jetzt sprach er nicht mehr zu Dr. Loos, sondern zu Hartmann und mir.

»Warum hat sie die Waffe angefasst? Wollte sie sich umbringen oder war alles nur eine Verkettung unglücklicher Umstände? Warum war der Abzug nicht gesichert, denn sonst hätte sich kein Schuss lösen können? Hat sie die Waffe selbst geladen? Hat sie die Waffe selbst entsichert?«

 

Bruckner wandte sich direkt an Hartmann, der gleich verstand und den Kopf schüttelte.

»Moment, Moment, wir haben den Schrank noch nicht untersucht. Wann denn auch.«

Hartmann holte ein zweites Paar Venylhandschuhe hervor, streifte es sich über die Hände und beugte sich in den Schrank.

»Vorsicht!«, rief Dr. Loos, der einen Schritt zurückgetreten war. »Erst den Abzug sichern, das ist ein Doppelläufer, da kann noch eine zweite Patrone im anderen Lauf stecken.« Er blieb auf seiner sicheren Position stehen, reckte sich etwas und dirigierte mit den Händen. »Einfach den Schlossbügel oben auf der Flinte nach rechts drücken und den Lauf brechen, das heißt den Lauf herunterkippen.«

Hartmann ging mit dem Oberkörper ein Stück zur Seite und zeigte auf den Bügel der ganz rechts stehenden Waffe. »Hier drücken?«

»Ja, und den Lauf beim Brechen festhalten.« Dr. Loos näherte sich einen Schritt.

Hartmann nickte und klappte den Lauf der Flinte nach vorne. »Nicht schlecht«, sagte er und deutete auf die beiden Patronen, die beim Öffnen der Waffe ein Stück aus ihren Läufen geschoben wurden.

»Einsammeln!«, rief Bruckner.

Hartmann zog einen Plastikbeutel aus seiner Jackentasche. Die Patrone im unteren Lauf hatte noch ein glänzendes Zündhütchen und war unversehrt. Von der im oberen Lauf war nur noch die Kunststoffhülse übriggeblieben. Hartmann tütete beide Patronen ein. Bruckner kam wieder auf seine Fragen zurück.

»Wollen wir ein kleines Fazit ziehen«, schlug er vor. »Ein vorläufiges Fazit, meine ich. Die Frage ist nämlich, Selbstmord oder Unfall, suizidal oder akzidentell.«

Dr. Loos fühlte sich wieder angesprochen und nickte. »Soll ich das so in meinen Bericht schreiben?«

Bruckner wandte sich zu ihm und schüttelte den Kopf. »Ja Herr Doktor, jetzt sind Sie hier doch schneller fertig, als wir gedacht haben. Sie müssen nur noch den Totenschein ausfüllen, das ist Ihre einzige Pflicht. Ich erkläre das hier nämlich offiziell zu einer polizeilichen Angelegenheit und entbinde Sie von der Leichenschau.« Bruckner zögerte einen Moment. »Ich bedanke mich bei Ihnen, war gute Arbeit.«

»Soll ich noch einmal nach Frau von Treibnitz schauen?«

»Das kann ich natürlich nicht entscheiden, Sie sind hier der Arzt«, antwortete Bruckner.

»Ich werde nach ihr sehen«, entschied Dr. Loos, ohne zu zögern.

Bruckner nickte. Er deutete zur Tür. »Kollege Seitz soll Sie nach oben begleiten. Bitte bedenken Sie, dass Frau von Treibnitz eine Zeugin ist. Vielleicht können Sie ihr auch etwas geben, damit Sie wieder auf die Beine kommt.«

Dr. Loos hatte Bruckner verstanden. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«

Hermann Seitz hatte bereits die Tür geöffnet. Dr. Loos und er verließen die Bibliothek. Hartmann, Bruckner und ich blieben bei der Leiche. Es gab noch ein paar Punkte, über die wir uns austauschten, die uns aber zunächst nicht weiterbrachten.

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