Kreatives Schreiben

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1.1.1. Was ist KreativitätKreativität?

In seiner heute vertrauten Alltagsbedeutung hat sich der deutsche Ausdruck ›Kreatives Schreiben‹ also als Lehnübersetzung aus dem Englischen herausgebildet. Der wortgeschichtliche Vergleich der beiden Ausdrücke ›KreativitätKreativität‹ und ›Schreiben‹ bzw. ursprünglich Creativity und Writing lässt dabei eine Spannung deutlich werden: Kreativität kann, im 19. Jahrhundert vom lateinischen creare (hervorbringen/er-schaffen, zeugen/gebären, schaffen/ins Leben rufen, verursachen/bewirken) herkommend, wovon sich u.a. das deutsche aktive ›Neu-Schöpfen‹ herleitet, auch ein passives Geschehen-Lassen (lat. crescere) bezeichnen.33 Gegenüber der Nicht-Kreativität werden darunter bestimmte Kriterien gefasst, die die bereits oben erwähnten Faktoren Originalität/Neuartigkeit, aber auch Flexibilität, Einfallsreichtum und OffenheitFlexibilität, Einfallsreichtum und Offenheit betreffen. Paul J. GuilfordGuilford, Paul J. spricht beispielsweise in einem stark beachteten Vortrag aus dem Jahr 1950 von Creativity als einem ›Arbeitsbegriff‹ und versteht darunter ein Verhaltensmuster, unter das ein Sensorium für aufkommende Probleme, d.h. Einfühlungsvermögen, ebenso fällt wie ›flüssiges‹ Denken, d.h. geistige Flexibilität beim – mühelosen – Wechseln von Bezugssystemen, oder analytische Fähigkeiten, die zur Umorganisation respektive Neudefinition des Wahrgenommenen anleiten; zudem zählt er das Verstehen der Komplexität begrifflicher und symbolischer Strukturen sowie individuelle Motivationsmöglichkeiten zu diesem Bereich.34Guilford, Paul J. Der Begriff ›Kreativität‹ verweist auf eine grundsätzliche kulturelle Problematik: auf den Wunsch eines jeden innerhalb der GegenwartskulturGegenwartskultur [23]kreativ sein zu wollen, einerseits und andererseits auf den Umstand, nicht kreativ sein zu können; Lösungsperspektiven bietet jedoch die in dieser Diskussion immer mitgedachte Überzeugung, solche Schwierigkeiten mit Hilfe von Training und Übung zu überwinden.35Kreativität

Andreas Reckwitz, der diesen sozialen ProzessKreativitätKreativität als sozialer Prozess aus kultursoziologischer Sicht ausführlich beleuchtet hat, betont noch einmal zusammenfassend die hierfür enorm wichtigen Momente des Neuen, der Innovation sowie der Schöpfung und weist der Kreativität eine doppelte Bedeutung zu:

Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen. KreativitätKreativität bevorzugt das Neue gegenüber dem Alten, das Abweichende gegenüber dem Standard, das Andere gegenüber dem Gleichen. Diese Hervorbringung des Neuen wird nicht als einmaliger Akt gedacht, sondern als etwas, das immer wieder und auf Dauer geschieht. Zum anderen nimmt Kreativität Bezug auf ein Modell des ›Schöpferischen‹, das sie an die moderne FigurFigur des Künstlers, an das Künstlerische und ästhetische insgesamt zurückbindet. Es geht um mehr als um eine rein technische Produktion von Innovationen, sondern um die sinnliche und affektive Erregung durch das produzierte Neue. Das ästhetisch Neue wird mit Lebendigkeit und ExperimentierfreudeLebendigkeit und Experimentierfreude in Verbindung gebracht, und sein Hervorbringer erscheint als ein schöpferisches Selbst, das dem Künstler analog ist. Das Neuartige im Sinne des Kreativen ist dann nicht lediglich vorhanden wie eine technische Errungenschaft, es wird vom Betrachter und auch von dem, der es in die Welt setzt, als Selbstzweck sinnlich wahrgenommen, erlebt und genossen.36Kreativität

Dass die KreativitätKreativität, wie sie hier erklärt wird, heute das Zentrum eines dominanten »sozialen Kriterienkatalogs« darstellt, der einen »ästhetischen Kapitalismus«37 innerhalb von Creative Class,38 Creative Industries und deren Creative Cities,39 ein »Kreativitätsdispositiv[24]«40KreativitätDer Imperativ des Kreativen hervorgebracht hat, ist mit Blick auf das Kreative Schreiben eine wichtige Beobachtung: Die Orientierung der GegenwartskulturGegenwartskultur an der Kreativität betrifft Arbeitstechniken des Schreibens in gleicher Weise wie Organisationen und Institutionen des Kulturbetriebs, des literarischen Lebens, des Bildungssektors oder der MassenmedienMassenmedium und des DesignsDesign.41Kreativität Das kritische Potential einer »universalisierten Kreativitätsorientierung« einschließlich deren »Imperativen«,42Kreativität worauf bereits Niklas Luhmann Ende der 1980er Jahre hingewiesen hat,43Kreativität darf für die Bestimmung und Abgrenzung des Konzepts ›Schreiben‹ nicht unterschätzt werden; vom Impuls der Kreativität lässt sich ein kritischer Bogen zu dessen näherer Begriffsbestimmung schlagen.

1.1.2. Was ist Schreiben?

Die SchreibforschungSchreibforschung hat eine Vielzahl an Bestimmungsmöglichkeiten vorgeschlagen, die in ihrer linguistisch-pragmatisch orientierten Ausprägung ›Schreiben‹ und ›TextproduktionTextproduktion‹ gegeneinander diskutieren44Ludwig, Otto und in ihrer literaturwissenschaftlich-medienkulturtheoretischen Erscheinung die Frage, was ›Schreiben‹ (tatsächlich) ist, in verschiedenen Phänomenologien philosophischer Provenienz ausführen.45Stingelin, Martin Während die erstgenannte das Schreiben in vier DimensionenDimensionen des Schreibens bestimmt – als Handwerk (technologische Dimension), ZeichenproduktionZeichenproduktion (semiotische Dimension), sprachliche HandlungHandlung (linguistische Dimension) und Integration in einen Handlungszusammenhang (operative Dimension) –, hebt zweitgenannte dessen »handwerkliche, technologische Dimension [25]als unabdingbare Voraussetzung« hervor.46 Diese Hervorhebung gewinnt vor dem Hintergrund der etymologischen Herkunft des Begriffs ›Schreiben‹ weiteres Gewicht. Das Wort ›Schreiben‹ stammt, wie Vilém FlusserFlusser, Vilém medientheoretisch erläutert hat, vom lateinischen scriberescribere heißt ritzen; graphein heißt graben, das ›ritzen‹ bedeutet, wobei das griechische graphein als weitere Wortherkunft zunächst einmal ›graben‹ meint:

In diesem Sinn sind etwa die von einem Stilus in Lehm hinterlassenen SpurenSpur ›Typographien‹. Wie wir aber wissen, meint das Wort ›graphein‹ im allgemeinen Sprachgebrauch ›schreiben‹. Es meint das Graben von Schriftzeichen – eben dieser Spuren, welche klassifizieren, vergleichen und unterscheiden sollen. Somit ist das Wort ›Typografie‹ im Grunde ein Pleonasmus, der mit ›Grubengraben‹ oder ›Schriftzeichenschreiben‹ übersetzt werden könnte. Es genügt vollauf, von ›schreiben‹ zu sprechen.47Flusser, Vilém

Demnach »war Schreiben« nach FlusserFlusser, Vilém »ursprünglich eine GesteGeste, die in einen Gegenstand etwas hineingrub und sich dabei eines keilförmigen Werkzeugs (›stilus‹) bediente«.48 Zur Begriffserläuterung des Schreibens ist Flussers Theorie nicht nur einschlägig; vornehmlich seine IdeeIdee dieser ›Geste‹Die »Geste des Schreibens« (V. Flusser) leitet dessen diskursive Verortung bis heute. Während Flusser in seinem Werk Die Schrift aus dem Jahr 1987, aus der oben zitiert worden ist, seine Gedanken zur ›Geste des Schreibens‹ eingeführt hat, demonstriert ein gleichnamiges Kapitel aus seinem Versuch einer PhänomenologiePhänomenologie von 1991 diese ausführlich. Darin kommt er erneut auf den etymologischen Kontext zurück, den er metaphorisch fasst. Zu Beginn heißt es:

Es handelt sich darum, ein MaterialMaterial auf eine Oberfläche zu bringen (zum Beispiel KreideKreide auf eine schwarze TafelTafel), um FormenForm zu konstruieren (zum Beispiel BuchstabenBuchstaben). Also anscheinend um eine konstruktive GesteGeste: Konstruktion = Verbindung unterschiedlicher Strukturen (zum Beispiel Kreide und Tafel), um eine neue Struktur zu formen (Buchstaben). Doch das ist ein Irrtum. Schreiben heißt nicht, Material auf eine Oberfläche zu bringen, sondern an einer Oberfläche zu kratzen, und das griechische Verb graphein beweist das. Der Schein trügt in diesem Fall. Vor einigen tausend Jahren hat man damit begonnen, die Oberflächen mesopotamischer Ziegel mit zugespitzten Stäben einzuritzen, und das ist der Tradition zufolge der Ursprung der Schrift. Es ging darum, Löcher zu machen, die Oberfläche zu durchdringen[26], und das ist immer noch der Fall. Schreiben heißt immer noch, Inskriptionen zu machen. Es handelt sich nicht um eine konstruktive, sondern um eine eindringende, eindringliche Geste.49Geste

Vilém FlusserFlusser, Vilém


wurde am 12. Mai 1920 in Prag als Sohn einer jüdisch-tschechischen Akademikerfamilie, deren Mitglieder er alle in Konzentrationslagern verlor, geboren. Nach dem Beginn eines Philosophiestudiums an der Karls-Universität flüchtete er 1939 vor den Nationalsozialisten; nach einer Station in London emigrierte er 1940 mit der Familie seiner späteren Ehefrau Edith Barth nach Brasilien. Bis 1950 war er im Im- und Export tätig, bevor er – nach intensivem Studium, Lehr- und Vortragstätigkeiten – 1962 Mitglied des Brasilianischen Philosophischen Instituts und 1967 Professor für Kommunikationstheorie an der Universität São Paulo wurde. Aufgrund der politischen Situation unter der Militärregierung verließ er 1972 Brasilien in Richtung Meran (Südtirol) und Robion (Provence). Flusser schrieb seine Texte in Englisch und Französisch, vor allem in Portugiesisch und Deutsch, seltener in seiner Muttersprache Tschechisch. 1991 war er auf Einladung von Friedrich KittlerKittler, Friedrich A. Gastprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, wo er Vorlesungen hielt, um seine Kommunikologie weiter zu denken. Nach einem Vortrag am Prager GoetheGoethe, Johann Wolfgang von-Institut starb Vilém Flusser am 27. November 1991 an den Folgen eines Autounfalls kurz vor der deutschen Grenze.

 

Die Metapher der Durchdringung, der Eindringung (Inskription) und Eindringlichkeit des Schreibens dominiert so dessen Begriff à la FlusserFlusser, Vilém; der etymologische Zusammenhang des deutschen Worts ›Schreiben‹ mit dem englischen Writing wird von Flusser dabei ausdrücklich herausgestellt:

Das englische »to write« (das zwar, wie das lateinische »scribere«, auch »ritzen« bedeutet) erinnert daran, daß »ritzen« und »reißen« dem gleichen Stamm entspringen. Der ritzende Stilus ist ein Reißzahn, und wer Inschriften schreibt, ist ein reißender Tiger: Er zerfetzt Bilder. Inschriften sind zerfetzte, zerrissene Bildkadaver, es sind Bilder, die dem mörderischen Reißzahn des Schreibens zu Opfern wurden.50Flusser, Vilém

[27]Diese bildstürmerische Begriffsbestimmung des Schreibens ist für ihn mit der Geschichte gesellschaftlicher Mechanismen konform. FlusserFlusser, Vilém konstatiert für seine Gegenwart, dass so genannte Script writerScript writer »am Ausgang der Geschichte und am Eingang der Apparate« stehen:

Sie beschleunigen den Output der Geschichte, um den Apparaten den von ihnen benötigten Input zu liefern. Sie liefern die Geschichte an die Apparate aus und überliefern ihnen damit den Sinn alles Geschehens. […] Die Script writers, diese Gladiatoren, die im Medienzirkus die Schrift in Netze fangen, um sie abzuwürgen, und die dabei selbst abgewürgt werden, erwecken in uns nur darum keine Empörung, weil wir, die wir bewußtlos und ohnmächtig sind, sie hinter den Bildern überhaupt nicht wahrnehmen können. Wir nehmen den Beitrag nicht wahr, den das Alphabet den Bildern noch immer leistet. In diesem sehr entscheidenden Sinn sind wir bereits Analphabeten geworden.51

Letztendlich erfüllt eine solche SchreibweiseSchreibweiseDie »Schreibweise« (R. BarthesBarthes, Roland) die von Roland Barthes scharf gestellte gesellschaftliche Funktion des Schreibens, dass sie die »Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft« sei, d.h. die »durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische Ausdrucksweise«, die »in ihrer menschlichen Intention ergriffene FormForm«, die »somit an die großen Krisen der Geschichte gebunden ist«.52Barthes, RolandSchriftsteller Diese im Zuge einer Begriffsbestimmung des Schreibens hin und her zu wendende Schreib- und Schrift-Debatte53KulturtechnikHandschriftKittler, Friedrich A.Aufschreibesystem berührt in nuce eine politische Frage.54 Mit FlusserFlusser, Vilém formuliert: »Texte schreiben« ist in einer Gesellschaft die »eigentlich politische GesteGeste«:

[28]Alles übrige politische Engagement folgt auf Texte und befolgt Texte. Wird obige Frage im konkreten Kontext des Textuniversums (und nicht »in vacuo«) gestellt, dann zeigt sich, daß ich, der Schreibende, nicht für alle Menschen, sondern für die von mir erreichbaren Empfänger da bin. Die Vorstellung, ich schreibe für jemanden»[D]er Text [wird] für den Vermittler geschrieben.«, ist nicht nur megaloman, sie ist auch Symptom eines falschen politischen Bewußtseins. Erreichbar sind für den Schreibenden nur jene Empfänger, die mit ihm durch seinen Text übermittelnde Kanäle verbunden sind. Daher schreibt er nicht unmittelbar an seine Empfänger, er schreibt vielmehr an seinen Vermittler. Er ist in erster Linie für seinen Vermittler da, wobei »in erster Linie« buchstäblich zu nehmen ist: Von der ersten Linie des Textes bis zur letzten wird der Text für den Vermittler geschrieben. Der ganze Text ist von der Tatsache getränkt, daß er in erster Linie für einen Vermittler geschrieben wurde.55Flusser, Vilém

Die Vermittlungsfunktion des Schreibens, die es, wie Konrad EhlichEhlich, Konrad sagt, möglich macht, von ihr als ›Zerdehnung‹ einer KommunikationssituationKommunikationssituation zu sprechen,56Ehlich, Konrad konstituiert zugleich dessen hier mit FlusserFlusser, Vilém kurz umrissene Begriffsdimension. Das Schreiben für einen Vermittler impliziert, dass man, bevor man ein Schriftstück liest, wissen muss, welches Codes es sich bedient hat: »Man muß es«, erklärt Flusser, »zuerst dekodifizieren, bevor man darangeht, es zu entziffern«, und EntziffernEbenen der kodifizierten BotschaftBotschaft bedeute »ein Auseinanderfalten dessen, was der Bezifferer in sie hineingelegt, impliziert hat« – »nicht nur auf der Ebene der einzelnen Ziffer, sondern auf allen Ebenen der kodifizierten Botschaft.«57Flusser, Vilém Schriftstücke seien an Entzifferer gerichtet: »Der Schreibende streckt seine HandHand dem anderen entgegen, um einen Entzifferer zu erreichen. Seine politische GesteGeste des Schreibens geht aus, nicht um Menschen schlechthin, sondern um Entzifferer zu ergreifen.«58 Noch einmal:

Die Leser, an die man schreibt, sind Kommentatoren (die das Geschriebene zerreden) oder Befolger (die sich wie Objekte ihm unterwerfen) oder Kritiker (die ihn zerfetzen) – falls überhaupt Leser gefunden werden. Daher ist das Gefühl der Absurdität des Schreibens, das viele Schreibende erfaßt und ihnen im Nacken sitzt, nicht nur auf äußere Tatsachen wie Textinflation und Emportauchen geeigneterer Codes zurückzuführen. Es ist vielmehr eine [29]Folge des Bewusstwerdens des SchreibensBewusstwerdens des Schreibens als Engagement und als ausdrückende GesteGeste.59

Das Bewusstwerden des Schreibens als kulturell-gesellschaftliche Teilhabe wie als gestische Expression bringt eine für die Begriffstheorie des Kreativen Schreibens prägende Annahme ein: Die IdeeIdee, kreativ zu schreiben, fußt auf den Vorstellungen von Schreiben als einem Ensemble heterogener Faktoren, die eine ›Schreib-SzeneSchreib-Szene‹ bzw. ›SchreibszeneSchreibszene‹ konstituieren: »Auch und gerade wenn ›die Schreib-Szene‹ keine selbstevidente Rahmung der Szene, sondern ein nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und GesteGeste bezeichnet, kann sie«, so Rüdiger CampeCampe, Rüdiger, »dennoch das Unternehmen der Literatur als dieses problematische Ensemble, diese schwierige Rahmung kennzeichnen«60Campe, RüdigerSchreibszene – eine Rahmung, die in einem Projekt Zur Genealogie des SchreibensGenealogie des SchreibensZur Genealogie des SchreibensGenealogie des Schreibens von Martin StingelinStingelin, Martin aufgegriffen und komplettiert worden ist. In einem programmatischen Beitrag mit dem Titel ›Schreiben‹. Einleitung zeigt er die sich im, beim und durch Schreiben grundlegend bildende Szene als Inszenierung auf:

1 Das Schreiben hält sich bei und an sich selbst auf, indem es sich selbst thematisiert, reflektiert und problematisiert, und schafft so einen Rahmen, durch den es aus dem Alltag herausgenommen, gleichsam auf eine Bühne gehoben ist, auf der es sich präsentiert und darstellt;

2 dabei stellen sich verschiedene Rollenzuschreibungen und Rollenverteilungen ein; diese wiederum werfen

3 die Frage nach der Regie dieser Inszenierungen auf.61Stingelin, Martin

1.1.3. Was meint Kreatives Schreiben?

Zur Begriffsdiskussion des Kreativen Schreibens bieten sich die von StingelinStingelin, Martin im Anschluss an CampeCampe, Rüdiger getroffene Unterscheidung zwischen einer ›SchreibszeneSchreibszene‹ und einer ›Schreib-SzeneSchreib-Szene‹»Schreibszene« und »Schreib-Szene« an; unter der zweitgenannten versteht dieser »die historisch und individuell von AutorinAutor und Autor zu Autorin und Autor veränderliche Konstellation des Schreibens«, die sich innerhalb des von der Sprache (SemantikSemantik des Schreibens), der Instrumentalität (TechnologieTechnologie des Schreibens) und der GesteGeste (KörperlichkeitKörperlichkeit des Schreibens[30]) gemeinsam gebildeten Rahmens abspiele, »ohne daß sich diese Faktoren selbst als Gegen- oder Widerstand problematisch würden«; und »wo sich dieses Ensemble in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität an sich selbst aufzuhalten beginne« spricht Stingelin von erstgenannter:

Die Singularität jeder einzelnen ›SchreibszeneSchreibszene‹ entspringt der Prozessualität des Schreibens; die Singularität jeder einzelnen ›Schreib-SzeneSchreib-Szene‹ der Problematisierung des Schreibens, die (es) zur (Auto-)Reflexion anhält (ohne daß es sich gerade in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität gänzlich transparent werden könnte). Hier wie dort versuchen die Begriffe der ›Schreibszene‹ wie der ›Schreib-Szene‹ jeweils ein (literatur-, medientechnik- und kulturell)historisches und ein systematisches Moment in einem integrativen Modell des SchreibensEin integratives Modell des Schreibens zusammenzufassen.62

Theoretische Grundlage dieses Modells sind u.a. wiederum die phänomenologischen Ausführungen Vilém FlussersFlusser, Vilém. Aus ihnen lässt sich mit Hilfe des Schreib(-S)zenen-Konzepts eine Einsicht in das Verständnis der Erscheinung des Kreativen Schreibens ableiten: »Um Schreiben zu können«, erläutert Flusser, werden u.a. »eine Oberfläche (BlattBlatt, PapierPapier)«, »ein Werkzeug (FüllfederFüllfeder)«, »Zeichen (BuchstabenBuchstaben)«, »eine Konvention (Bedeutung der Buchstaben)«, »Regeln (OrthographieOrthographie)«, »ein System (GrammatikGrammatik)«, »ein durch das System der Sprache bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache)«, »eine zu schreibende BotschaftBotschaft (IdeenIdee)« und »das Schreiben« selbst benötigt.63Flusser, VilémGeste Für diese verschiedenen Elemente des Schreibakts nimmt der von Flusser herausgestellte Punkt der ›zu schreibenden Botschaft‹ oder ›Idee‹Die zu schreibende Botschaft, die Idee eine Sonderstellung ein, denn wer sich von dieser, so erneut StingelinStingelin, Martin,

erfüllt sieht, mag sich bei seiner ›Be-Geisterung‹, diese mitzuteilen, nicht lange beim Automatismus semantischer, grammatischer oder orthographischer Regeln aufhalten, geschweige denn bei der Mechanik, sich eines Werkzeugs im Zusammenspiel mit seiner Oberfläche bedienen zu müssen, um überhaupt ein Zeichen zum Ausdruck bringen zu können, zeichnet sich die ›IdeeIdee‹ in ihrem emphatischen Wortsinn doch gerade dadurch aus, daß sie [31]durch den Umstand unangefochten bleibt, ob sie tatsächlich zu PapierPapier gebracht worden ist oder nicht.64Stingelin, Martin

Eine ›IdeeIdee‹ sei eine ›Idee‹, »selbst wenn es keinem Schreibwerkzeug gelingt, den Schädel aufzumeißeln, in dem sie geboren ist«,65Idee und diese ist für die hier begrifflich zu versuchende Zuschreibung des Kreativen Schreibens deshalb so wichtig, weil erstens das zum Schreiben notwendige, »erhebliche Übung voraussetzende Zusammenspiel von Oberfläche, Werkzeug und Zeichen«, beispielsweise von »PapierPapier, Füllfederhalter und BuchstabenBuchstaben«, aus pädagogisch-didaktischer Sicht durch die gängigen Methoden des SchriftspracherwerbsSchriftspracherwerbMethoden des SchriftspracherwerbsSchriftspracherwerb prinzipiell erlern- wie vermittelbar ist;66Schriftspracherwerb hinzu kommt, dass zweitens der Begriff der ›Idee‹ naturgemäß mit dem der ›KreativitätKreativität‹ korreliert, der wiederum mit demjenigen der ›ÄsthetikÄsthetik‹ aufs Engste verbunden ist.67ÄsthetikKreativität Kreativität bedingt auf ästhetischem und künstlerisch-gestalterischem bzw. genuin literarischem Gebiet jede Schreib-SzeneSchreib-Szene, auch wenn es nicht explizit um ein zu schaffendes Produkt, sondern um Wahrnehmungsprozesse oder neue Problemlösungsstrategien geht.68Kreativität

Im, beim und durch Kreatives Schreiben entsteht eine ›Kreative Schreib-SzeneSchreib-Szene‹,69Poetik die diesen Aspekt des Ästhetischen betont, bei dem auch der »Modus des Verhaltens zur Welt«70 im Vordergrund steht, und lässt sich so im Rahmen Ästhetischer Bildung auf die Entdeckung, Wertschätzung und Erweiterung der eigenen ästhetischen Fähigkeiten des Schreibens im Zuge eines emotional-sinnlichen Zugriffs auf die Wirklichkeit hin beschreiben: In der [32]Kreativen Schreib-Szene erschließt, versteht und eignet sich das schreibende Subjekt literarisch-poetische bzw. generell textgestalterisch-narrative Ausdrucksformen in deren Vielschichtigkeit, in ihrer kulturtragenden Funktion und ihrer Symbolkraft ästhetisch erfahrend an.71Spinner, Kaspar H.Ästhetische Bildung KreativitätKreativität wird hier nicht allein entfaltet; Kreativität ist der notwendige KatalysatorKreativität als Katalysator, um eine solche Schreib-Szene überhaupt zu initiieren.

Die Frage, die den Begriff des ›Kreativen Schreibens‹ leitet, lautet somit: Wie kann KreativitätKreativität – didaktisch, pädagogisch, anleitend – für den Schreibenden durch den »Erwerb von Wissen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten« gefördert werden, damit dieser »neue und ungewöhnliche Leistungen entwickeln« kann?72ÄsthetikKreativität Für diese Grundfrage der Kreativen Schreib-SzeneSchreib-Szene gewinnen die »zu Gebote stehenden SchreibwerkzeugeSchreibwerkzeuge, Schreibgewohnheiten Schreibblockaden (in der Regel PapierPapier, Feder und Tinte, Bleistift, Kugelschreiber, SchreibmaschineSchreibmaschine oder ComputerComputer)« und die »Schreibgewohnheiten (Anlaß, Ort, Zeitpunkt, Dauer)« an Gewicht; in ihr werden die »Stimulantien und Surrogate der InspirationInspiration zur Überwindung der oft beklagten Schreibblockaden« sowie auch die »soziale Situation«, die »biographische Lebenslage« und das (womöglich bereits ausgebildete oder auszubildende) ästhetische »Selbstverständnis« hervorgehoben.73Stingelin, Martin

 

Der Begriff der ›Kreativen Schreib-SzeneSchreib-Szene‹ verdeutlicht so denjenigen des ›Kreativen Schreibens‹, indem beide auf Dasselbe abzielen: Durch die, wie Kaspar H. SpinnerSpinner, Kaspar H. es formuliert, »Aktivierung der Imaginationskraft« ist es möglich, etwas »Neues« respektive »zumindest eine neue Sicht auf Bekanntes« entstehen zu lassen,74Spinner, Kaspar H. indem gewohnte, im Alltag eingeschliffene Vorstellungsmuster schreibend durchbrochen werden können.75 Bei der Kreativen Schreib-Szene und damit auch beim Kreativen Schreiben spielen intensive Wahrnehmungsmöglichkeiten ästhetischer RezeptionserfahrungenÄsthetische Rezeptionserfahrungen eine große Rolle, wie sie wiederum die [33]Ästhetische BildungÄsthetische Bildung stark zu machen vermag, und zwar hier durch die Möglichkeit des schreibenden Subjekts, sich probeweise die Art der Welterschließung zu eigen zu machen, die die Literatur als ästhetisches Objekt präsentiert.76Spinner, Kaspar H.Ästhetische BildungÄsthetikSemiotik

Ausgangspunkt dieser Erfahrung ist die spezifische Gestalt des literarischen Objekts, von dem aus kreativ schreibend Gestaltungs- und Ausdrucksformen für die Wahrnehmungen und Eindrücke gesucht und gefunden werden, die zugleich »Hilfe zur Verarbeitung, zur Klärung und zum Verstehen« der jeweiligen Lebenswirklichkeit bieten; im Produktionscharakter der Kreativen Schreib-SzeneSchreib-SzeneProduktionscharakter der Kreativen Schreib-SzeneSchreib-Szene wird Erlebtes bzw. Rezipiertes in ästhetischer FormForm zum Ausdruck gebracht; es gelangt »vom nicht kommunikablen Inneren nach außen und wird damit für den intersubjektiven Austausch verfügbar«: »Das Hervorgebrachte wird auf diese Weise zu einem Gegenüber, das mit Distanz betrachtet und reflektiert, geteilt und miteinander besprochen werden kann.«77Spinner, Kaspar H.Ästhetische Bildung In der Kreativen Schreib-Szene fallen die wahrnehmend-rezeptive (Aisthesis), die gestaltend-produktive (Poiesis) und die urteilend-kommunikative Dimension (Katharsis) der Ästhetischen BildungÄsthetische Bildung im Sinne von Hans Robert Jauß zusammen.78Ästhetische Erfahrung In ihr ist die Literatur von Anfang an präsent; diese bietet die IdeeIdee, die InspirationInspiration, den Katalysator der KreativitätKreativität, der durch die noch näher vorzustellenden Methoden des Kreativen Schreibens,79Böttcher, Ingrid insbesondere durch Verfahren des antizipierenden, Text erweiternden wie verändernden, analogen und zu Textvorlagen freien Schreibens80Spinner, Kaspar H. zu etablieren ist.

Abb. 1:

Modell der Kreativen Schreib-SzeneSchreib-Szene (GestaltungGestaltung: Verf.)

Im Vordergrund stehen damit sowohl explizit literarische Schreibübungen wie SchreibverfahrenSchreibverfahren, d.h. schriftlich fixierte, fiktionale Erzählformate, ohne zu übersehen, dass das Kreative [34]Schreiben auch im Bereich des wissenschaftlichen oder professionell-konzeptionellen bzw. journalistischen Schreibens kreative Anwendung findet.81 Das Schreiben in der Kreativen Schreib-SzeneSchreib-Szene fungiert, mit Joachim Fritzsche gesagt, als Lerngegenstand und Lernmedium gleichermaßen:82 Die Textproduktionskompetenz ist für sie und in ihr ebenso zentral wie die Persönlichkeitsentwicklung als Schreibender, der bei der von ihm ausgeübten kulturellen Praxis nicht nur Textsortenwissen und SchreibfertigkeitenTextsortenwissen und Schreibfertigkeiten entwickelt, sondern auch »sich selbst«.83Abraham, UlfMaiwald, Klaus Indem er dies tut, gerät er gleichzeitig in einen Prozess vor allem literaturästhetischer Bildung. Was heißt das explizit?

Volker FrederkingFrederking, Volker hat vorgeschlagen, im Rahmen literaturästhetischer Fragestellungen George Herbert MeadMead, George Herbert zum Ausgangspunkt einer »theoriegeschichtlichen Spurensuche«84Frederking, VolkerÄsthetische Bildung zu machen – [35]eine Fragerichtung, die für das vorliegende Thema allein dadurch einsichtig wird, dass Mead sich an der Philosophie John DeweysDewey, John orientiert,85Dewey, JohnFrederking, VolkerÄsthetische Bildung die für das Kreative Schreiben seit dessen Ursprüngen eine schreibpädagogische Basis darstellt.86Glindemann, Barbara Mit Frederking lässt sich Meads Begriff der »ästhetischen Haltung«87Mead, George Herbert für eine ArchäologieArchäologie der Kreativen Schreib-SzeneSchreib-Szene und des Kreativen Schreibens im Rahmen literaturästhetischer Bildung zu Hilfe ziehen, eine Haltung, die sich »in einem verändernden Blick auf sich und die Welt«88Frederking, VolkerÄsthetische Bildung realisiert. Dabei wird der Dichter zum »Musterbeispiel für die potentielle Autonomie des Individuums gegenüber gesellschaftlichen Zugriffen« und sein schreibend geschaffenes literarisches Kunstwerk »zum Beleg für die potentielle Veränderbarkeit von Welt – jenseits aller konventionellen Vorgaben.«89

Dadurch lässt sich das Schreiben eines literarischen Textes »nicht nur als künstlerische Verarbeitung ästhetischer Erfahrungen verstehen, sondern auch als individuelle und kreative FormForm kultureller SelbstkonstruktionSchreiben als kreative Form kultureller Selbstkonstruktion jenseits kollektiver Passformen«; und wenn sich das Schreiben dann hierbei innerhalb einer Kreativen Schreib-SzeneSchreib-Szene abspielt, wird einmal mehr verständlich, was MeadMead, George Herbert meint, wenn er erklärt, dass »Genusswerte« zu ziehen sind, wenn »wir Werke großer Künstler ästhetisch verstehen«, Genusswerte, »die unsere eigene Lebens- und Handlungsinteressen erfüllen und interpretieren«, da die Menschen in Kunstwerken »den Sinn ihrer eigenen Existenz ausdrücken können.«90Mead, George Herbert

[36]George Herbert MeadMead, George Herbert


war ein US-amerikanischer Soziologe, Sozialpsychologe und Philosoph, der sich neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit intensiv für sozialreformerische Projekte engagierte. Während seines Philosophiestudiums ab 1887 an der Harvard University hörte er Vorlesungen bei Josiah Royce, George H. Palmer und Francis Bowen. Mit Hilfe eines Stipendiums studierte er 1888/89 zeitweilig in Deutschland bei Wilhelm Wundt an der Universität Leipzig und bei Wilhelm Dilthey, Hermann Ebbinghaus, Gustav Schmoller und Friedrich Paulsen in Berlin. 1891 wurde er Dozent an der University of Michigan, wo er Charles H. Cooley und vor allem John DeweyDewey, John kennen lernte, mit dem ihm eine lebenslange Freundschaft verband; 1894 wechselte er mit diesem als Assistenzprofessor an die University of Chicago. Dort setzte sich Mead für die Reformpädagogik ein, die wiederum auch wichtigen Einfluss auf sein sozialpsychologisches Werk ausgeübt hat, in dessen Zentrum die Entstehung der menschlichen Identität und die Genese des Bewusstseins steht.

Werke u.a.: Mind, Self, and Society (1934) – The Philosophy of the Act (1938) – The Philosophy of the Present (1932) – Movements of Thought in the Nineteenth Century (1936).

Die Kreative Schreib-SzeneSchreib-Szene ist mehr noch als die generelle, von Schreiber zu Schreiber individuell divergierende Schreib-Szene durch die ihr inhärente ästhetische Tätigkeit in einer Art kultureller Situation situiert; im Akt des durch Literatur kreativ geprägten Schreibens ist der Akt des Lesens wie des Gelesen-Werdens stets vorhanden: Jede Rezeption ist, literaturästhetisch gesagt, »Ausgangspunkt symbolvermittelter kultureller Selbstvergewisserung«, wodurch »sich auch das Selbst- und Weltverhältnis des Lesenden« und des Schreibenden verändert,91Frederking, VolkerÄsthetische Bildung mithin des Literatur-Produzenten wie des Literatur-Rezipienten (fallen sie in einer Person zusammen oder nicht). Dieses erfährt in der so eigens beförderten ästhetischen ErfahrungÄsthetische ErfahrungÄsthetische Erfahrung eine »grundlegende Wandlung.«92