Kreatives Schreiben

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[37]Durch die Kreative Schreib-SzeneSchreib-Szene und das Kreative Schreiben wird so auch eine Integrationshilfe zur Findung kultureller Identität vermittelt. Der literarisch Schreibende wie auch der genuin literarische AutorAutor beobachten sich selbst im Prozess des Schreibens und aus der Perspektive dessen, was Schreiben und dann auch Sprache und Literatur als künstlerisch-ästhetischer Ausdruck unter verschiedenen (technischen, kulturellen, sozialen, medialen etc.) Bedingungen für sich selbst und die reale oder fiktionale Welt jeweils evoziert und bedeutet; gemacht wird eine ästhetische Erfahrung, die sich »auf eine transzendente Dimension von Wirklichkeit hin öffnen«93Spinner, Kaspar H.Ästhetische Bildung kann.

1.2. Schreibprozesse und kulturelle Praxis

Der so zum Ausdruck kommende Charakter des Schreibens als (nochmals nach FlusserFlusser, Vilém) »Ausdruck eines eindimensionalen Denkens, und daher auch eines eindimensionalen Fühlens, Wollens, Wertens und Handelns«, »eines Bewußtseins, das dank der Schrift aus den schwindelnden Kreisen des vorschriftlichen Bewußtseins emportaucht« – als »Schriftbewußtsein«»Schriftbewußtsein«94Flusser, Vilém zeigt zugleich an, dass dieses Schreiben weich sein kann, d.h. »plastisch, manipulierbar«.95Papier Denn schreibt man auf PapierPapier, wird ein Text, so Flusser, Zeilen bilden, die einem Schlusspunkt entgegen laufen; er wird ›diskursiv‹ sein und so wird »sein diskursiver Charakter, sein eindeutiges Hinzielen auf einen Schlußpunkt, den auf Papier geschriebenen Text als ein in sich geschlossenes und abgeschlossenes ›Werk‹ […] erscheinen lassen.«96

Schreibt man hingegen nicht zwangsläufig nur auf PapierPapier, ist das Schreib-Produkt, der Text, oft nicht mehr allein »das Resultat eines kreativen Prozesses, sondern er ist selbst dieser Prozeß, er ist selbst ein Prozessieren«.97 Die Frage, die sich an die Schlussfolgerung FlussersFlusser, Vilém anschließt, ist die »nach der Differenz, aber auch nach dem Verhältnis von Schreiben (als Prozeß) und Schrift [38](als Prozeßspur)«98Spur bzw. dann auch nach demjenigen von SchreibprozessSchreibprozess und Kreativem Schreiben. Vor allem zwei eng miteinander verbundene Strömungen der Forschung, die je eigene Verfahren hervor bringen,99Hoffmann, E.T.A. haben sich der Prozesshaftigkeit des SchreibensSchreiben als Prozess und Prozessspur näher angenommen und Modelle zu deren Erhellung entwickelt. Sie bieten geeignete Anschlussmöglichkeiten, den Prozess des Kreativen Schreibens aus zwei trotz ihrer disziplinären Divergenz und der gegeneinander in Stellung gebrachten Kritik einsichtigen Stoßrichtungen beispielhaft zu beleuchten: aus der Sicht kognitionswissenschaftlich-entwicklungspsychologischer Studien wie sie eine Reihe anglo-amerikanischer ›Klassiker‹ der SchreibwissenschaftSchreibwissenschaft anbieten und auf der Basis textgenetisch-editionstheoretischer Ansätze, wie sie die französische Critique GénétiqueCritique Génétique betreibt.100Hayes, John R.Flower, Linda S.Bereiter, CarlHandschriftDeutungAutor Die Differenz zwischen beiden Disziplinen der SchreibprozessforschungSchreibprozessforschung betrifft u.a. die Betrachtung der SchreibsituationSchreibsituation: Einmal wird diese in Feld- und Laborversuchen ins Auge fasst, um die Zusammenhänge zwischen Wissen, Denken und Schreiben aufzudecken, während dann die eigentlichen (literarischen) Schreibspuren in ihrer Vielfalt und Verflochtenheit im Zentrum stehen.

1.2.1. Entwicklungsaspekte beim Schreiben

In seinem Aufsatz Development in Writing von 1980 hat Carl BereiterBereiter, Carl mit Bezug auf die Arbeiten von John R. HayesHayes, John R. und Linda S. FlowerFlower, Linda S. sowie auch Marlene Scardamalia ein Stufenmodell des [39]SchreibvorgangsEin Stufenmodell des Schreibvorgangs erläutert,101Bereiter, CarlHayes, John R.Flower, Linda S.SchreibprozessBecker-Mrotzek, MichaelBöttcher, IngridSchreibkompetenz das es möglich macht, die Interferenzen zwischen einzeln zu lokalisierbaren Schreib-Entwicklungen empirisch-experimentell mittels Daten zu verfolgen. Schreiben wird von Bereiter in Überarbeitungsprozessen beobachtet und es wird seine Modellierung in der Integration dreier Aspekte gefordert:

[…] die Organisation der kognitiven Schritte, die das Schreiben bestimmen; die Abstufungen des Vorgangs, vom hochbewußten und beabsichtigten zum unbewußten und automatischen Schreiben; schließlich die Frage, wie es möglich ist, die individuellen Fähigkeiten so einzusetzen, daß der Schreibprozeß fortgesetzt werden kann.102Bereiter, Carl

Die Bestimmung und Abgrenzung des Konzepts ›Kreatives Schreiben‹ muss sich – so betrachtet – mit Zweckvorgaben und Einschränkungen befassen, die ein Wissen103Hoffmann, E.T.A.Spur generieren können, das für den kreativ Schreibenden verfügbar ist, um, wie es BereiterBereiter, Carl ausdrückt, »auf eine bestimmte Art zu schreiben.«104Bereiter, Carl Ein Beispiel gibt Bereiter selbst, indem er auf das Konzept, einen Kriminalroman zu schreibenWas tut man, um z.B. einen Kriminalroman zu schreiben?, hinweist – eine SchreibpraxisSchreibpraxis, die in abstrahierter Hinsicht exemplarisch für jedes Vorhaben des Kreativen Schreibens ist. »Selbst eine Person, die noch nie einen Kriminalroman geschrieben hat«, so Bereiter, werde ein »Kriminalroman-Konzept bereit haben«, das »auch einen Anfänger« dazu bringe,

an ein Verbrechen zu denken, an einen Ermittler, an eine Möglichkeit, den Ermittler in Kontakt zum Verbrechen zu bringen, an ein rätselhaftes Element etc., das einfordert, die Identität des Täters bis zum Schluß geheimzuhalten [40]und vielleicht sogar auf bestimmte stereotype Ereignisse, FigurenFigur, Ausdrücke zu rekurrieren.105

Und der erfahrene AutorAutor von Kriminalromanen werde »ein ausgefeilteres Konzept mit komplexeren Anforderungen ans Schreiben zur Verfügung haben, das kompliziertere Suchbewegungen und Entwicklungen« ermögliche.106 Wird diese Vorstellung eines integrativen SchreibmodellsSchreibmodell an Vorstellungen des Kreativen Schreibens angebunden, ergibt sich eine Bestimmung dessen, was linguistisch oft Textsortenmusterwissen107Fix, Martin und medienpädagogische Genrekompetenz108HandlungFigurLesekompetenzTextsortenwissen und Genrekompetenz genannt wird. BereiterBereiter, Carl führt fünf Elemente an, die seiner Meinung nach in einem solchen SchreibprozessSchreibprozess enthalten sind:

1 Ein beschränktes Ensemble an ziemlich spezifischen Intentionen […].

2 Ein Ensemble an Strategien, die es ermöglichen, diese Absichten umzusetzen. Eine Strategie wird schließlich folgendes einschließen:

Inhaltskategorien, die nötig sind, damit das Ziel erfüllt, der Plan ausgeführt werden kann. […]

Suchverfahren, deren es bedarf, um den nötigen Inhalt zu finden. Diese Verfahren können explizit sein, etwa wenn bestimmte Dokumente eingesehen oder Informanten angerufen werden. Oder es handelt sich um implizite, gedächtnisgestützte Strategien.

Anforderungen zur Feinabstimmung des sprachlichen Outputs.109Bereiter, Carl

Zu diesen ›Intentionen‹, ›Strategien‹, ›Inhaltskategorien‹, ›Suchverfahren‹ und ›Anforderungen zur sprachlichen Feinabstimmung‹ kommt, so BereiterBereiter, Carl, ein weiteres Element hinzu: »Unterhalb des Textsortenkonzepts« finde »die Verarbeitung von Inhalten [41]statt«, bei der »semantisches MaterialMaterial aus dem Gedächtnis hervorgeholt und den Anforderungen des Textsortenkonzepts gemäß organisiert« werde.110 In der Ausdeutung dieses Befundes für das Kreative Schreiben lässt sich eine einfache These formulieren, die weitreichende Konsequenzen birgt und an das bereits im vorherigen Kapitel Ausgeführte anknüpft: Ohne das ›Gedächtnismaterial‹ –Ohne »Gedächtnismaterial« kein Kreatives Schreiben ohne Gelesenes/Rezipiertes oder Erlebtes, ohne Tradition oder Geschichte, mithin ohne ästhetische Erfahrung – entwickelt sich auch kein Kreatives Schreiben, das gleichzeitig an Schreib-Fähigkeiten gebunden bleibt, an »Flüssigkeit im geschriebenen Ausdruck« wie an »Leichtigkeit in der Entwicklung von IdeenIdee«, an »Beherrschung von Schreibkonventionen« wie an »soziale Kompetenz (verstanden als Fähigkeit, Leseerwartungen zu berücksichtigen)«, an »literarisches Unterscheidungsvermögen« wie an die »Fähigkeit zur Reflexion«.111Bereiter, Carl

Bereits deutlich wurde allerdings bereits, dass die Prozesse des Kreativen Schreibens nicht derart eindeutig schematisch abbildbar sind, da der kreative Schreiber nicht zwangsläufig vollkommen zielgerichtet, zweckentsprechend, strategisch und adressatengerecht gedanklich plant, sprachlich formuliert oder seinen ›Text‹ in allen Schreibphasen jeweils progressiv überarbeitet; vielmehr verfertigt er diesen allmählich beim Schreiben, um einen Satz Kleists112 mit Almuth GrésillonGrésillon, Almuth abzuwandeln,113Grésillon, Almuth die die bereits erwähnte ›Schule‹ der Critique GénétiqueCritique GénétiqueCritique GénétiqueCritique Génétique maßgeblich anhand von Forschungen an literarischen HandschriftenHandschrift (als Fallstudien) vorgestellt hat.

1.2.2. Vom freien Gedanken zum geschriebenen Wort

GrésillonsGrésillon, Almuth Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben distanziert sich ausdrücklich von den Schreibprozessmodellen der Kommunikations-, Kognitions- und auch der SprachwissenschaftSprachwissenschaft, wie sie BereiterBereiter, Carl vertritt und die darin ausführlich [42]kritisiert sind.114Grésillon, AlmuthLudwig, OttoTextproduktion Plädiert wird für ein »Zusammenspiel der betroffenen Disziplinen«, um die »Viefalt von Schreibsituationen tatsächlich ins Auge« zu fassen;115Grésillon, Almuth Grésillon stört sich an jenen »Feld- und Laborexperimenten, die mit Schreiberinterviews und Eigenkommentaren, mit VideoVideo-Aufnahmen, Fehler- und Pausenanalysen arbeiten.«116 Der Zugang, den die Critique GénétiqueCritique Génétique im Gegensatz dazu anbietet, thematisiert weniger »Gedanken und EinfälleEinfall ›im Rohzustand‹« als »geschriebene EntwürfeEntwurf, Pläne, MaterialsammlungenEntwürfe, Pläne, Materialsammlungen des Schreibens sowie weitere Phasen des Entstehens und der Überarbeitung«.117 Von Grésillon unterschieden werden sechs Untersuchungsstandpunkte »schwarzer SpurenSpur auf weißem Grund«:118Spur (1.) Zeitverhältnisse, (2.) Raumverhältnisse, (3.) Schrift und Schreibwerkzeug, (4.) SchriftstellerSchriftsteller als Subjekt des SchreibprozessesSchreibprozess, (5.) Teilprozesse literarischen Schreibens, (6.) Ecriture à processus bzw. literarische bottom up-Schreibprozesse.119Grésillon, Almuth

 

Ad 1.) Die Betrachtung des aus Biographien, Korrespondenzen, PapierPapier- oder Wasserzeichenforschungen zu rekonstruierenden Entstehungsdatums eines literarischen Werkes birgt das Problem, dass der genaue zeitliche Ablauf wie auch die Dauer einzelner Schreibphasen kaum konkret festzustellen sind – GrésillonGrésillon, Almuth nennt dies die »gefrorene Zeit« einer HandschriftHandschriftDie »gefrorene Zeit« einer Handschrift.120 In der Konsequenz dieser Perspektive wird deren enorme Bedeutung für die Erforschung des SchreibprozessesSchreibprozess klarer:

Im Sinne objektiver, historischer Zeit können literarische HandschriftenHandschrift Epochen zugehören, für welche Informationen über die konkrete SchreibsituationSchreibsituation nicht spontan zur Verfügung stehen: Man denke nur an Beschaffung und Preis des PapiersPapier, an die Umständlichkeit abgeschliffener Gänsefedern [43]und die Unbeständigkeit der Tinte selbst sowie auch der Tintenfässer; all dies gehörte im 19. Jahrhundert noch zum Schreiberalltag. Im Sinne kulturhistorischer Gesetzlichkeiten ist weiterhin klar, daß literarische Handschriften nicht systematisch aufbewahrt wurden. So existieren in Deutschland und Frankreich relativ wenige Arbeitshandschriften, die über das 18. Jahrhundert zurückreichen, während dies in Italien […] schon viel früher bezeugt ist. Zum zweiten ist das Prestige, das ein AutorAutor im literarischen KanonKanon einer Nation erwirbt, ausschlaggebend dafür, daß seine Handschriften nicht nur privat, sondern auch staatlich überliefert werden. Wenn dies der Fall ist, so verfügt man tatsächlich über ein MaterialMaterial von faszinierendem Reichtum.121

Heute stellt sich vor diesem Hintergrund dieselbe Frage umso dringlicher, wie nämlich im ›Zeitalter‹ elektronischer MedienHandschriftenHandschrift im digitalen Zeitalter die Zeitverhältnisse der ComputerComputer-Handschrift die temporalen Phänomene des Schreibens zu bestimmen sind? Auch deshalb hat das ›Deutsche Literaturarchiv Marbach‹ mit seinem ›Literaturmuseum der ModerneLiteraturmuseum der Moderne‹ als wichtigste Institution in Deutschland längst damit begonnen, nicht nur wie eh und je ManuskripteManuskript und Typoskripte auf PapierPapier, sondern auch DiskettenDiskette, CDs, CD-RomsCD-Rom, FestplattenFestplatte bzw. digitale/digitalisierte DatenträgerDatenträger u.ä. zu archivieren, auszuwerten und kuratorisch auszustellen.122HandDerrida, Jacques

Ad 2.) Problematisch ist es in gleicher Weise, zu untersuchen, in welcher Schreibersituation – mit welcher Körpersprache (Gestik, Mimik) und mit welchen metasprachlichen Kommentaren (simultan oder retrospektiv) – jemand einen Text verfasst hat. Und »[u]m so mehr« sei man, so Grésillion, »angewiesen auf die räumlichen Indizien des PapiersPapier«123Grésillon, AlmuthDie »räumlichen Indizien des Papiers« in ihrer schriftlichen Zweidimensionalität:124Semiotik

HeftHeft oder fliegende BlätterBlatt? Nur recto oder recto und verso beschrieben? Große oder kleine Blattränder, beschrieben oder nicht? Zwischenzeiliger Raum [44]beschrieben oder nicht? Lineare, horizontales Fortlaufen der Schrift (dem Schriftbild einer Druckseite vergleichbar) oder freieres Spiel der Schriftzeichen mit dem graphischen Raum (an das Raumspiel der Graphik erinnernd und besonders für schreibvorbereitende Phasen bezeichnend, wenn die Gedanken- und Spracharbeit sich relativ umstrukturiert in alle Richtungen hin entwickelt)? Format der Blätter: klein wie gewisse Taschennotizblöcke […] oder groß (heutiges A3-Format) […]?125Grésillon, Almuth

Jedem Schreiber geläufig sei die »Tatsache, daß sich gegen das untere Ende einer Seite der Zeilenabstand sowie die Schrift selbst verkleinern«, und dies werfe ein »Licht auf den Zusammenhang zwischen gedanklicher Einheit des zu Schreibenden und materieller sowie visueller Einheit des SchreibraumsSchreibraum«; der »Griff zu einem neuen BlattBlatt« unterbreche »nicht nur den Schreibfluß, sondern auch den visuellen Überblick über das Geschriebene.«126 Auf diesen visuellen Aspekt des SchreibensDer visuelle Aspekt des Schreibens bzw. genauer: des Auf-Schreibens, der für die verbale Kommunikation der GestaltungGestaltung eminent bedeutend ist, wird an späterer Stelle nochmals – schreibpraktisch – zurückzukommen sein.127Handschrift

Ad 3.) Damit nahe verwandt ist die Betrachtung der geschriebenen ›Zeichen‹, die nicht unmittelbar zum Text-Produkt gehören,128BlattHandschriftPapierSchreibprozessGrésillon, Almuth sowie diejenige der benutzten Schreibwerkzeuge, was [45]FlussersFlusser, Vilém Schrift- und MedientheorieMedientheorie schon erwiesen hat; es macht einen enormen Unterschied, ob man mit Federkiel, Schreibkugel/SchreibmaschineSchreibmaschine, Bleistift/Filzstift, Kugelschreiber/Füller, mit Windows-ComputerComputer oder iMac schreibt.129Stingelin, Martin

Ad 4.) Eine weitere Möglichkeit, dem (literarischen) SchreibprozessSchreibprozess auf die SpurSpur zu kommen, besteht nach Grésillion darin, »natürliche Daten«130Grésillon, Almuth»[N]atürliche« Daten des Schreibens zu erheben – in dem Verständnis, den Schreiber als SchriftstellerSchriftsteller direkt (über Werkstattgespräche/Interviews)131 oder indirekt (über Poetikvorlesungen o.ä.)132 zu befragen, nicht ohne das Risiko dieses Vorgehens zu berücksichtigen, d.h. die Ergebnisse mit Vorsicht auszuwerten.133Grésillon, Almuth

Ad 5.) Nicht unterschätzt werden darf, dass für eine solche Textgenetik Sprache weniger als »Informationsträger« denn als »Kunst in statu nascendi« gilt: Schreiben wird dynamisch »in actu«, d.h. in seiner Entstehung rekapituliert – als »Produktionsschritte«Produktionsschritte des Schreibens bzw. »Teilprozesse«, nicht als, wie Grésillion sagt, »›Laborprodukt‹«:

Es geht also darum, diesen Schreibspuren so bis ins letzte Detail nachzugehen, daß die Statik der überlieferten BlätterBlatt als dynamischer Schreibprozeß interpretierbar wird. Konkret gesprochen, bedeutet dies, daß materielle Indizien, insbesondere solche des zweidimensionalen Raumes und des Schriftbildes, zu verwandeln sind in temporale Indikatoren, die ihrerseits etwas auszusagen vermögen über Prozesse und so der Zweidimensionalität der Schrift die dritte Dimension hinzufügen: die Zeit des Schreibens.134

Ad 6.) Wie Sylvie Molitor-LübbertMolitor-Lübbert, Sylvie fasst Grésillion das Schreiben als ein ›Schreiben im Schreiben‹ auf; empfohlen wird, nicht von einem »schemageleiteten ›top-down‹-Modell«, sondern von einem »textgeleiteten ›bottom-up‹-Verfahren«bottom-up-Verfahren statt top-down-Modell auszugehen.135Molitor-Lübbert, Sylvie Hierbei weiß der Schreiber nicht, wohin ihn das Schreiben gleichsam [46]treibt, was mit »Strategien und ziel- wie adressatenorientierten Schemata, die dem Schreiber helfen sollten, sein SchreibproblemSchreibproblem zu lösen«,136Grésillon, Almuth nicht mehr viel zu tun hat.

Damit ist das Element der KreativitätKreativität im Kreativen Schreiben direkt angesprochen; basierend auf den Ausführungen Grésillions muss für dessen Gesamtbestimmung veranschlagt werden, dass sein Prozess zwar deutlich zu initiieren, keineswegs aber eindeutig planbar ist. Mit Gerhard NeumannNeumann, Gerhard gesagt: »[D]ie Festschreibung erst bringt die Wucherung, die Normierung den Exzeß in Gang.«137Neumann, Gerhard Durch die Praktik, IdeenIdee buchstäblich fest zu schreiben, können sie erst wuchern; die Methode, – zunächst – der Norm zu folgen bzw. sie zumindest (auch in der Destruktion) zu bedenken, lässt exzessives Kreatives Schreiben erst entstehen.

1.3. »Wie werde ich ein verdammt guter SchriftstellerSchriftsteller?«

Jürgen LinkLink, Jürgen gibt jedem Schreibenden einen Tipp diskurstheoretischer Prägung:

Abschied vom Ideologem des prädiskursiven, schöpferischen Tiefen-Subjekts; kreativ ist nicht dieses Phantasma, kreativ ist das generative Spiel der Diskurse›How to Write a Damn Good Novel?‹, kreativ sind unsere wechselnden, widersprüchlichen, vielleicht auch gespaltenen Subjektivitäten (im Plural!) des historischen Augenblicks, wie sie auftauchen und zuweilen wieder verlöschen – in Abhängigkeit nicht zuletzt von den Diskursen, die wir leben und die wir, sie lebend, gerade dann am ehesten ändern können, wenn wir sie als unser ›historisches Apriori‹ (FoucaultFoucault, Michel) begriffen haben.138Link, Jürgen

Und Josef HaslingerHaslinger, Josef und Hans-Ulrich TreichelTreichel, Hans Ulrich stellen im Vorwort ihres Suhrkamp-Bandes, der dem vorliegenden Kapitel den Titel leiht139Haslinger, JosefTreichel, Hans UlrichSchriftsteller und seinerseits den Titel eines SchreibratgebersSchreibratgeber James N. FreysFrey, James N. zitiert,140Frey, James N. fest:

[47]Es gibt keinen Königsweg, um SchriftstellerSchriftsteller zu werden. Es gibt noch nicht einmal wirklich brauchbare Rezepte, an die sich derjenige halten kann, der das Schreiben erlernen, der Gedichte, ErzählungenErzählung, Romane oder Theaterstücke schreiben möchte. Ratschläge freilich gibt es viele, sinnvolle und weniger sinnvolle, und darunter auch einige von schlagender Simplizität, gegen die man sich einfach nicht wehren kann […].141Haslinger, JosefTreichel, Hans Ulrich

Beide Zitate geben einen Eindruck von jenen intuitiven Vorstellungen, die der Begriff des Kreativen Schreibens aufzurufen weiß, selbst dann, wird er nur beiläufig genannt. Sind es bei LinkLink, Jürgen die Diskurse, die das Subjekt des Schreibers ablösen, identifizieren HaslingerHaslinger, Josef/TreichelTreichel, Hans Ulrich »literarische Begabung« als »dynamische Größe«: »Wo keine zu sein scheint, kann sich gegebenenfalls noch eine zeigen. Und wo eine zu sein scheint, kann diese sich möglicherweise niemals so produktiv entfalten, wie sie es verdient hätte.«142 Beiden Zitaten gemeinsam ist die Negierung der genieästhetischen Vorstellung vom ›geborenen SchriftstellerSchriftsteller‹Der MythosMythos vom »geborenen Schriftsteller«,143Dichtkunst wobei eine Selbstverständlichkeit und drei Grundvoraussetzungen nicht unterschlagen sind: Selbstverständlich ist es, dass die »Wege künstlerischer und literarischer Entwicklung […] von vielen Umständen und Einflüssen« abhängen und »in der Regel nicht planvoll organisiert und organisierbar« sind; für eine schriftstellerische Entwicklung vorauszusetzen ist (a) »ein starker SchreibwunschSchreibwunschSchreibwunsch, Begabung und BiographieBiographie, wenn nicht gar ein Schreibzwang«, der allerdings »keine Garantie« für gelingendes/erfolgreiches Schreiben darstellt; (b) [48]dasjenige, was »gemeinhin literarische Begabung genannt wird, auch wenn dies schwer zu fassen und zu definieren ist«; und (c) die (wiederum unplanbare, schicksalhafte) »Biographie« als »entscheidende[] Ressourcen literarischer Imagination und Produktivität« (»[s]elbst und natürlich auch dann, wenn nichts davon in einem Werk auftauchen oder jemals thematisch werden sollte«): »Wenn Begabung, Biographie und Schreib-Wunsch auf günstige Weise miteinander kommunizieren, dann hat der Schreibende eine Chance, Schriftsteller zu werden, wenn er es denn unbedingt möchte.«144Haslinger, JosefTreichel, Hans Ulrich

Es gibt, um ein Wort von HaslingerHaslinger, Josef/TreichelTreichel, Hans Ulrich nochmals aufzugreifen, keinen ›Königsweg‹ des Kreativen Schreibens – auch jenseits literarischer Ambitionen. Es gibt stattdessen, wie Fritz GesingGesing, Fritz stellvertretend für viele Schreib-Lehrer sagt, »FormenForm erlebender Darstellung und nacherlebender Rezeption«, »Techniken der Darstellung«: »das Handwerk des Schreibens«Das »Handwerk des Schreibens«.145Gesing, Fritz In Form einer programmatischen Ankündigung des Folgenden lassen sich zwei Implikationen sowohl dieser Behauptung wie der Ergebnisse dieses ersten Buchteils nennen, mit denen das Kreative Schreiben weitere Kontur gewinnt. Erste Implikation: Das Kreative Schreiben entzieht sich der Festlegung; indem es eine Vielzahl an Themen, Begriffen, Theorien und Konzepten berührt, erweist sich seine Komplexität; und indem es so oft uneindeutig und entzogen erscheint, hat es viele Vorurteile auf sich gezogen, die seine Ernsthaftigkeit erschüttern. Zweite Implikation: Das Kreative Schreiben ist kein Phänomen, das sich auf eine Nationalkultur oder -literatur festlegen ließe; es ist global und hat historisch ›gewachsene‹ Transformationen regelrecht durchlebt.