Kreatives Schreiben

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2.1.3. Associated Writing ProgramsAssociated Writing Programs (AWP)/National Writing ProjectNational Writing Project (NWP)

Es zeigt sich, dass die Grenzen zwischen ›Composition‹, dem ursprünglich expositorischen Schreiben, und ›Creative Writing‹, dem literarischen Schreiben, in den Vereinigten Staaten im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr aufgelöst werden – eine Tendenz, die verschärft wird, als beide Bereiche in der Ende der 1960er Jahre aufkommenden Bewegung des Writing Across the CurriculumWriting Across the Curriculum (WAC) (WAC)Writing Across the CurriculumWriting Across the Curriculum (WAC) (WAC) noch näher zusammengebracht werden sollen. GlindemannGlindemann, Barbara führt aus:

Von nun an kommen dieselben Methoden über die Kursgrenzen hinaus zum Einsatz. Kreatives Schreiben wird zum Leitbegriff einer auf persönliche Erfahrung der Studierenden ausgerichteten Pädagogik, die die schriftliche Geläufigkeit zunächst einmal generell fördert. Die zugrundeliegende These lautet, daß ein gutes schriftliches Ausdrucksvermögen dem Menschen in jedem künftigen BerufsfeldBerufsfeld zugute kommt. Zunächst wird das Lernen individualisiert. Die Studenten werden zum persönlich experimentellen Umgang mit dem Lehrmaterial angehalten. Die neue pädagogische Tendenz wendet sich ab vom faktisch-unpersönlichen Reproduzieren der Lehrinhalte als Leistungskontrolle und stellt die individuelle Verarbeitung des Fachwissens in den Vordergrund. Schriftliche Geläufigkeit verbessert die soziale Kommunikationsfähigkeit in umfassender Hinsicht.196

Der soziale Aspekt des Kreativen SchreibensDer soziale Aspekt des Kreativen Schreibens sei, so GlindemannGlindemann, Barbara weiter, hier rein methodologisch zu verstehen und nicht mehr an bestimmte Inhalte – schon gar nicht an literarische – gebunden; es zeige sich erneut diskursbildender Einfluss der Schriften DeweysDewey, John:

DeweyDewey, John betont das kognitive Moment der SchreiblehreSchreiblehre, das besagt, daß akademische Inhalte besser verinnerlicht werden können, wenn sich der Lernende ihrer schriftlichen Ausformulierung widmet. Der Student erlebt seine Erkenntnisaneignung als Prozeß und lernt Inhalte besser begreifen durch die persönliche Erfahrung der Verschriftlichung. Deweys umfassendes pädagogisches System stellt eine Theorie bereit, aus der zwei unterschiedliche Schienen des Kreativen Schreibens hervorgehen. Die themenübergreifenden, auf kreativen Selbstausdruck ausgerichteten Kurse verstehen Schreiben als Lernmedium [61]der sozialen Kommunikation. […] Die gleichen personalisierten Lehrmethoden kommen in den stärker literarisch, rhetorisch und kritisch orientierten Programmen zum Einsatz. Allerdings verschiebt sich hier die Zielsetzung in Richtung themenabhängiger literarischer Kommunikation.197

Schreib-Zentren (Writing CentreWriting Centres) werden jetzt immer häufiger an Universitäten gegründet, nicht zuletzt auch zu dem Zweck, ein ums andere Mal die allgemeinen Schreibfähigkeiten der StudierendenAllgemeine Schreibkompetenzen verbessern zu verbessern.198 Weiterführende Schreibseminare ergänzen die Basiskurse in KompositionslehreKompositionslehre und Kreativem Schreiben; Organisationen und Konferenzen bauen ein Netzwerk auf, um die unterschiedlichen Interessen und neuen Erkenntnisse dieser Schreibförderungs-›Welle‹ auszutauschen und zu verbreiten – Gerd BräuerBräuer, Gerd hat dieses Gefüge näher beschrieben und festgestellt, wie neben der oben bereits erwähnten WAC-Bewegung auch universitäre WAC-Programme aufgekommen sind, die 1967 in der Dachorganisation Associated Writing ProgramsAssociated Writing Programs (AWP) (AWP, gegründet 1967) und 1974 im Lehrerfortbildungsinstitut National Writing ProjectNational Writing Project (NWP) (NWP) münden, die mit der jährlich stattfindenden Conference for College Composition and CommunicationConference for College Composition and Communication (CCCC) (CCCC)Conference for College Composition and CommunicationConference for College Composition and Communication (CCCC) (CCCC) eine neue US-amerikanischer Schreibpädagogik auf den Weg gebracht haben.199Bräuer, Gerd

Daran wird der Fluchtpunkt der Geschichte des Kreativen Schreibens in den USA ersichtlich: Gestartet aus dem Bedürfnis, eine grundlegende Reform der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft zu erreichen, hat dieses eine wechselhafte Karriere in der dortigen Hochlandschaft hinter sich gebracht; das Schreiben für jedermann wurde ebenso sein Thema wie die literaturhistorisch fundierte Hervorbringung [62]von literarischen AutorenAutor; auf seiner Basis zudem ausgebildet haben sich letztendlich pädagogische Tendenzen, die ganz im Geiste DeweysDewey, John eine Lernforschung für die schulische und die universitäre Didaktik bedingen, zu der das Kreative Schreiben mitunter als Unterbereich hinzu gezählt wird – ein Unterbereich, der, so GlindemannGlindemann, Barbara mit BräuerBräuer, Gerd, ein breites Spektrum von Bildungsfunktionen therapeutischer NaturBildungsfunktionen (auch kunst- bzw. poesietherapeutischer Natur) umfasst:200Glindemann, BarbaraBräuer, GerdPoesie

Eine derartige didaktische Methodik minimiert den Unterschied zwischen kreativen und expositorischen Texten. Andere Bereiche, in denen die selben produktions- und erfahrungsorientierten personalisierten Methoden zum Einsatz kommen, sind z.B. Psychologie, Malen, Musik, Theater, PerformancePerformance und die übrigen bildenden und darstellenden Künste.201Glindemann, Barbara

Eine Konsequenz dieser Erfolgsgeschichte ist seit den 1960er und 1970er Jahren die Konstruktion solitärer Literaturseminare an Hochschuleinrichtungen in den USA, die ausschließlich literarische Schreibstudiengänge anbieten.202 An den Universitäten bildet sich dadurch auch eine neue literarische KulturLiterarische ZirkelLiterarische Zirkel und literarische Szene, indem SchriftstellerSchriftsteller und Publizisten Dozentenstellen und sogar Lehrstühle besetzen, die das künstlerische Moment des Kreativen Schreibens mit professionellen Ansprüchen und Forderungen in Hinsicht auf formale und adressatenorientierte Qualitäten präferieren.203 Literarische Zirkel und eine literarische Szene entfaltet sich und blüht [63]dort gleichsam bis heute, durch Lehraufträge und Lesungen wie durch so genannte poet in residence-Programme.204

Der professionelle Charakter dieser Studiengänge lässt sich mit der Gleichberechtigung von handwerklicher Schreib-Methodik, rhetorisch-stilistischen Techniken und literaturwissenschaftlicher Theorie auf den Punkt bringen. Wie GlindemannGlindemann, Barbara prognostiziert, muss dieses Gleichgewicht unbedingt gegeben sein, um literarischen Standards wie akademische Erwartungen in gleicher Weise zu entsprechen, mithin Literatur-Praktiker und Literatur-TheoretikerLiteratur-Praktiker und -Theoretiker versöhnen miteinander zu versöhnen; dies garantiere die Ausgewogenheit der Beschäftigung mit eigenen und fremden kreativen Texten im Studium,205Glindemann, Barbara was aber auch bedeutet, dass das Kreative Schreiben keine ›Spaß‹-Disziplin, sondern ein ernst zu nehmendes Studienfach mit ›harten‹ Studieninhalten geworden ist. Die, wie Greg KuzmaKuzma, Greg sie nennt, ›Katastrophe des Kreativen Schreibens‹206Kuzma, GregThe Catastroph of Creative Writing tritt dann ein, wenn es zu einem Ungleichgewicht zwischen den genannten ›Säulen‹ des Kreativen Schreib-Studiums kommt:

Die hastige Einrichtung von immer mehr Schreibprogrammen an allen möglichen Universitäten konfrontiert die Lehrenden mit administrativer Arbeitslast – sie verlieren Zeit für ihre eigene kreative Arbeit und den Kontakt zur außeruniversitären literarischen Welt. Die Studenten eines hastig eingerichteten Studiengangs driften in die Selbstreferentialität ab und sind vornehmlich an ihren eigenen Texten interessiert, ohne ein allgemeines Literaturverständnis zu entwickeln. Es besteht die Gefahr, daß Lehrende und Studierende unter diesen ungünstigen Bedingungen sogenannte »workshop poetry« verfassen. Es handelt sich um selbstreferenzielle Texte, die den kreativen Akt thematisieren und die offenen Optionen, mit denen der Schreibende sich verzweifelt konfrontiert sieht. Solchen Texten fehlt jedoch die Essenz, die Literatur ausmacht, sie sind nicht an sich einzigartig, sondern formelhaft simpel und imitierbar. Die unmittelbare Reaktion des Lesers auf diese workshop poetry ist: »Das kann ich auch!«»Das kann ich auch!«.207Glindemann, Barbara

Jegliches Kreatives Schreiben bildet den Höhenkamm zwischen Kunst und Kitsch mit geradezu gefährlichem Risiko ab: Entweder [64]man erreicht als Könner die andere, die ›gute‹ Seite, – oder man stürzt unhaltbar ab.

2.2. Creative Writing in Großbritannien

›Creative Writing‹ erscheint im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als Schlüsselbegriff der praxisorientierten literarischen Studienfächer – hauptsächlich im anglo-amerikanischen Raum: Ab 1970 übernehmen die Universitäten von East Anglia und Lancaster in Großbritannien zum ersten Mal den diesem mittlerweile immanenten Grundzug als eigene, studierbare Disziplin; bis 1992 entstehen vereinzelt sechs weitere Masterstudiengänge und im Zusammenhang mit der Umformung der britischen polytechnischen Hochschulen zu Universitäten (was einen neuen Anwendungsschub bedeutet) werden noch mehr SchreibstudiengängeNoch mehr Schreibstudiengänge gegründet.208 Ihnen liegt die Einsicht zugrunde, den Literaturdiskurs in diejenigen der Pädagogik, Psychologie, Linguistik, RhetorikRhetorik und KompositionslehreKompositionslehre im Sinne der New RhetoricNew Rhetoric nochmals zu integrieren:209

Diese Neue RhetorikRhetorik erst erlaubt die Betrachtung von Creative Writing zugleich als repräsentative Kunstform und als Methode, soziale Strukturen und Agenten zu untersuchen. Sie ermöglicht eine SchreiblehreSchreiblehre, die sich auf den Schreibprozeß in allen seinen Aspekten bezieht. Creative Writing ist umfassender als die herkömmliche Schreiblehre, die eine korrekte Anwendung von GrammatikGrammatik und OrthographieOrthographie betont und auf Thesensätzen, Absätzen und dem Dreigestirn »unity, coherence, and emphasis« basiert […]. Die traditionelle Schreiblehre geht davon aus, daß lediglich StilStil, Organisation und »usage« lehrbar seien, während bestimmte Aspekte des Kompositionsprozesses mysteriös und daher nicht lehrbar seien. Diese Ansicht ist in den britischen Schreibstudiengängen überholt. Hier hat man erkannt, daß ein Schreibstudium neben dem akademisch-rationalen Lernen auch das personal-individuelle Lernen gezielt fördern muß. Neben der Intelligenz als praktisches Lerninstrument gelten auch Instinkt und Zweifel als Stimulus und Lernhilfe. Die kritisch-kreative Doppelnatur macht das Fach eklektisch, [65]sowohl im Hinblick auf die Lehrinhalte als auch auf die Ansätze und Methoden.210Glindemann, Barbara

 

In der Konsequenz wird in Großbritannien eine KompostionstechnikKompositionstechnikKompositionstechnik als Teil des Kreativen Schreibens als immanenter Teil des Kreativen Schreibens gelehrt; FormForm und Inhalt sollen dabei eine strukturelle Einheit bilden, bei der sich Bedeutung und Effekt der entstehenden Texte erst im Kompositionsprozess anhand des sprachlichen Ausdrucks herausbilden, in jedem Schreib-Stadium verändern, revidiert und neu in Form gebracht werden kann: »Das Zusammenwirken von kritischen und kreativen Fakultäten führt zur Annäherung von intendierter Bedeutung und sprachlichem Ausdruck.«211 GlindemannGlindemann, Barbara verweist auf David LodgeLodge, David, der hierfür das Bild einer ›chemischen‹ oder gar ›alchemistischen‹ Reaktion zwischen Form und Inhalt verwendet, die die Qualität eines Romans ausmache.212Lodge, David In dieser Privilegierung des SchreibprozessesSchreibprozess, der keinem Selbstzweck dient, sondern an dessen Ende ein literarischer bzw. literarisch ambitionierter Text steht, macht sich bemerkbar, wie sehr das Kreative Schreiben in Großbritannien von Anfang an sehr vehement die Professionalisierung im Hinblick auf den literarischen Markt in den Fokus genommen hat, ohne der Organisation in den einzelnen Lehrveranstaltungen ein all zu starres Korsett vorzugeben, ihnen Unabhängigkeit hinsichtlich der Lehrinhalte wie der Methodenwahl zu gewährleisten; die britischen Schreibseminare bieten ein »unterstützendes Lernumfeld«Ein »unterstützendes Lernumfeld«.213Glindemann, Barbara

2.2.1. Composing – Creating –EnablingEnabling

Hin und her gerissen zwischen zwei extremen und noch immer vorherrschenden Überzeugungen, die auf der einen Seite besagen, literarische Fähigkeiten könnten nicht weitergegeben werden, und auf der anderen Seite verkünden, jeder könne schreiben,214 lässt sich das Schreiblehrkonzept in Großbritannien in einem Schlagwort [66]zusammenfassen: Es lautet ›befähigen‹ (enabling)›Befähigen‹ (enabling), was bedeutet, dass die Schreibstudierenden zum Schreiben angeleitet und ermutigt werden sollen; »ihre Texte werden diskutiert, kritisiert und lektoriert.«215 Zur Erläuterung dieser Entwicklung zitiert GlindemannGlindemann, Barbara u.a. folgende Positionen:

One cannot teach a person to write but one can enable their writing and I think you do that by creating the right circumstances, a supportive atmosphere with time to write and you have, above all, to encourage. […]

The course is about enabling people to push their work out, to cut the cord. […]216

Was genau unter diesem ›Befähigen‹ zu verstehen ist, wird einsichtiger, wenn man sich die didaktische Situation vergegenwärtigt, die bis heute Creative Writing-Kurse (über alle Landes- und Kulturgrenzen hinweg) prägen: Man lernt nicht allein, indem ein Lehrender Wissen an einen Lernenden weitergibt, sondern indem Lehrende und Lernende sowie die Lernenden untereinander voneinander lernen. Dadurch entsteht eine kooperative wie produktive ArbeitsgemeinschaftEine kooperativ-produktive Arbeitsgemeinschaft, in der eigene und fremde Texte vorgestellt, besprochen, analysiert, ggf. auch interpretiert werden – dies allerdings nicht primär im Hinblick auf eine bestimmte LesartLesart des jeweiligen Textes. Vielmehr steht der Austausch über die individuellen Schreibbedingungen und -strategien sowie über deren allgemeinen Rahmen (das literarische Um-Feld) im Mittelpunkt, um die Förderung individueller Fähigkeiten und/oder Begabungen zu intensivieren.217

Ein solches Lehr- und Lernprogramm vollzieht sich in Großbritannien neben der curricularen Lehre mittels Einsatz von Gastdozenten aus dem Literatur- und bzw. allgemeinen Schreib-Betrieb; konzentriert wird sich in diesem »Course Writing«218 vor allem auf »technischen Fertigkeiten«.219Glindemann, Barbara Damit ist das britische Schreibstudium weit davon entfernt, zu vermitteln, jeder könne SchriftstellerSchriftsteller werden (oder dies sogar zu garantieren), eine Ansicht, die [67]hier auch gar nicht diskutiert wird.220Glindemann, BarbaraForm Vielmehr setzen die dortigen Schreiblehrer auf die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer LiteraturAuseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur, damit die Studierenden ihre eigenen Fähigkeiten in Konfrontation mit einem vertiefenden, mithin insbesondere kritischen literarischen Verständnis im Sinne eines »creative criticism« verbessern:

Jede Schreibarbeit geht notwendig aus dem Zusammenspiel kritischer und kreativer Fakultäten hervor, die Schreibstimme ist daher rational-akademisch und persönlich zugleich – und dies gilt für alle Texte. In akademischen EssaysEssay ist die persönliche Meinung und Bewertung durchaus erwünscht und angebracht. Auch beim literarischen Schreiben geht es nicht um das reine Vermitteln abstrakter Techniken und Methoden, die zur Teilnahme an einem bestehenden Diskurs befähigen. Statt dessen wird im praktischen Studium von zeitgenössischen Beispieltexten die abstrakte Technik mit konkreten Inhalten gefüllt, um sie fühlbar und nachvollziehbar werden zu lassen. Kritisches Lesen und Kreatives Schreiben sind im Schreibstudium komplementär zu verstehen […].221Glindemann, Barbara

Die Überzeugung, dass die Kenntnis von literarischen Genres, rhetorischen FigurenFigur, narratologischen Grundlagen und poetischen Möglichkeiten zur Ausprägung eines eigenen »Handwerksstil«»Handwerksstil«222 führt, geht davon aus, dass literarische respektive lyrische, erzählerische oder dramatische Techniken am Besten durch das Studium literarischer respektive lyrischer, erzählerischer oder dramatischer Beispiele erlernt werden können. Dieser Lernprozeß führe in Großbritannien zur Entwicklung einer persönlichen PoetikPoetik, die das Ziel dieses Creative Writing-Studiums ausmache:

Es ist kein rein kreativer Lernprozeß, sondern eine dialektische Schwingbewegung des kritischen Umgehens mit Vorgaben und deren kreativer Umsetzung: Möglichkeiten dazu bieten z.B. Analyse, Kombination, Spiegelung, Umkehrung, Verdoppelung, Fragmentarisierung, Übertreibung, Untertreibung, etc. Das literarische Schreiben gilt in Großbritannien nicht als »Sprache«, die zu erlernen wäre wie etwa die Fachsprache der Juristen. Unter dieser Voraussetzung entstünden lediglich standardisierte, formelhafte Texte. Britisches Creative Writing bedeutet immer kritischen, reflektierten [68]Umgang mit vorhandenen Regeln und Techniken in einem praktischen und aktiven Prozeß des Zu-Eigen-Machens. Handwerkliche Techniken sind vor allem »Inspirationshilfe«»Inspirationshilfe«, sie stellen Anknüpfungspunkte bereit und intensivieren die Lust am Schreiben. Derartige Anknüpfungspunkte erlösen den Schreibenden von dem hohen Anspruch, alles selbst neu erfinden zu müssen und befähigen ihn, sich beruhigt hinzusetzen und vom Bestehenden auszugehen.223

Neben dem in dieser Beschreibung zum Ausdruck kommenden Befund, Kreatives Schreiben als eine Kombination aus »Selbst-Lesen, Andere-Lesen-Sehen, Selbst-Schreiben und Andere-Schreiben-Sehen, Besuchen von Lesungen, Diskussionen über das Schreiben und Diskussionen über Literatur«224Glindemann, Barbara zu verstehen, entwickeln sich in Großbritannien darauf rekurrierende berufspraktische Studieninhalte, die hervorheben, wie sehr ein angehender AutorAutor auch als eine Art Geschäftsmann und damit als Selbstvermarkter handeln muss.225Lodge, David

Damit werden jene Aspekte konkreter BerufsperspektivenBerufsperspektiveAspekte konkreter BerufsperspektivenBerufsperspektive angesprochen, die zum ›Leben‹ eines SchriftstellersSchriftsteller seit der Ausdifferenzierung eines literarischen Marktes immer schon dazu gehören226BuchBuchhandel und gerade auch hinsichtlich einer Konkurrenz um Aufmerksamkeit bis heute nicht an Bedeutung eingebüßt haben:227 Kontakt und KooperationKooperation mit literarischen Verlagen und Medien, Verhandlungsgeschick für Vorschüsse, Honorare und Verträge, Organisation und GestaltungGestaltung von Lesungen der eigenen Werke und anderweitigen öffentlichen Auftritten.228Glindemann, Barbara Für die akademische Implementierung des Kreativen Schreibens in Großbritannien wird darauf dadurch reagiert, dass an den jeweiligen Hochschulen literarische Veranstaltungen und Wettbewerbe entstehen, dass studentische Literaturzeitschriften gegründet und die Zusammenarbeit [69]mit literarischen bzw. allgemein kulturellen Institutionen bereits im Studium gesucht wird.

2.2.2. Kritische Positionen

GlindemannGlindemann, Barbara weist in ihrer historischen Darstellung des Kreativen Schreibens zu Recht darauf hin, dass dessen skizzierte Entwicklung in Großbritannien zu einer wenn nicht vollends kommerzialisierten, dann doch zumindest zu einer auf kommerziellen Erfolg abzielenden universitären Ausprägung zuläuft. Damit sind Konflikte mit den bestehenden PhilologienKonflikte mit den bestehenden Philologien vorprogrammiert, da deren Erforschung literarischer Traditionen sich lange Zeit auf kanonische literarische Werke konzentriert hat. Nur solche Texte, die Eingang in einen literaturwissenschaftlich begründeten KanonKanon gefunden haben, werden als relevant und d.h. als forschungswürdig akzeptiert.229

Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass nicht nur ursprünglich in Deutschland, sondern vor allem auch in Großbritannien kanonisierte ›Groß‹-AutorenAutor wie ShakespeareShakespeare, William oder Jane AustenAusten, Jane die Lehrpläne dominieren und wiederum auch nur dieser literarische Höhenkamm akademische Anerkennung findet. Das Kreative Schreiben mit seiner Infragestellung eines eigentlichen KanonsKanon und seiner Stärkung gegenwärtiger Literatur läuft diesem Wissenschaftsdiskurs naturgemäß entgegen. Dessen Ablehnung seitens der britischen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaftAblehnung seitens der britischen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft fußt zugleich darauf, dass die Kompetenz der britischen Schreibdozenten angezweifelt wird, da sie sich, so die Sicht ihrer Kritiker, »Shakespeare oder Jane Austen ebenbürtig zu halten« scheinen, »sonst würden sie nicht schreiben«, dabei seien »sie ganz offensichtlich (bisher) völlig unbedeutend«; wenn ein Literaturprofessor »wahrhaftig« zum Schreiben berufen sei, was mache er dann »immer noch an der Universität«?230

Der Grundkonflikt, der sich hinter derartigen Vorbehalten und Vorwürfen gegenüber dem hochschulisch institutionalisierten [70]Kreativen Schreiben verbirgt, liegt in einem Streit um Zu- und Abhängigkeiten begründet. Die Hochschulentwicklung in Großbritannien ist hierfür das beste Beispiel, denn wenn die Vertreter kreativen Schreibens hier dasselbe Lehrgebiet wie die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft bzw. der Literary CriticismLiterary Criticism beanspruchen und dabei aber über deren Inhalte in praktischer Hinsicht hinausgehen, sich als unabhängig von diesen erklären, entsteht zwangsläufig eine konfliktgeladene Situation. Wie kann sich ein Student des Kreativen Schreibens auf eine literaturgeschichtlich verbürgte literarische Tradition beziehen und zugleich mit dieser brechen, sie in Frage stellen und sich auf sich selbst fixieren? Die Antwort vieler Creative Writing-Lehrer lautet, es handele sich lediglich um einen Perspektivenwechsel; betrachtet werde die LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte mit den Augen der Literaturproduzenten, wobei jeder Schreibende der Literaturtradition notwendigerweise kritisch gegenüberstehen müsse, um seine eigene Position als Literaturschaffender klar zu definieren.231Glindemann, Barbara

 

Daneben stellt es auch in Großbritannien ein Problem innerhalb des akademischen Lehrsystems dar, dass mit dem Kreativen Schreiben und dessen den SchreibprozessSchreibprozess entauratisierenden Strukturen gleichsam das Allerheiligste der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaftDas Allerheiligste der Literaturwissenschaft (das Numinose der Literatur) unwesentlich wird. Gefragt wird gegen das Kreative Schreiben nach der Authentizität des Geschriebenen:

Woher genau nimmt der literarisch kreativ schreibende Mensch seinen StoffStoff und ist dieser aus dem Leben gegriffen oder frei erfunden? Diese Frage wird immer wieder an die Lehrenden und Studierenden des Creative Writing gerichtet, genau wie sie auf jeder Autorenlesung unvermeidlich die Diskussion einleitet. Wie hat in der Literatur überhaupt das Verhältnis von Realität und Fiktion auszusehen? Inwieweit befindet die zeitgenössische Gesellschaft das Erfundene moralisch fragwürdig oder zumindest verdächtig? Und inwieweit gilt das Reale als zu persönlich, um archetypische Bedeutungen zu transportieren? Ein Text, in dem Objektivität und überprüfbare Fakten überwiegen, gilt als journalistisch, während ein fiktiver Text von subjektiv-imaginativer Färbung als literarisch gilt. Dennoch gibt es fließende Übergänge zwischen diesen Bereichen.232Glindemann, Barbara

[71]Zu den diskursiven Verfahren, die einen AutorAutor hervorbringen, gehört auch die Erwartung, dass dieser etwas Authentisches, Ehrliches, Glaubhaftes hervorbringt – eine Tendenz, mit der GlindemannGlindemann, Barbara die immer weiter zunehmende Popularität narrativer »Non-fiction«Popularität narrativer »Non-fiction«,233Glindemann, Barbara d.h. von Autobiographien und Memoiren, sowie die abnehmende Nachfrage nach rein fiktiver Erzählliteratur begründet, da diese erfinde bzw. lüge.234 Ob dies allerdings tatsächlich ein Vorwurf ist, der gegenüber dem Kreativen Schreiben geäußert werden kann (oder eher ein Trend, der gesellschaftliche Umorientierungen aus rezeptionsorientierter Sicht widerspiegelt) bleibt zu hinterfragen. Letztendlich handelt es sich bei dem »Schreibstudium nach britischem Modell« in jedem Fall um eine wichtige Weiterentwicklung gegenüber seinen US-amerikanischen Ursprüngen: Indem hier nicht die Erziehung »zur Unabhängigkeit von der Literaturtradition, sondern zum selbstbestimmten Umgang mit literarischen Techniken und Genres« im Mittelpunkt steht,235 können handwerkliche und literaturwissenschaftliche Herangehens- bzw. Umgangsweisen mit Literatur und literarischem Schreiben stärker miteinander verbunden werden. Sie bereiten das vor, was den Erfolg des Kreativen Schreibens in Deutschland avant la lettreKreatives Schreiben avant la lettre vorbereitet.