Orest im deutschen Herbst

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Und manchmal, wenn ich mich morgens nach der Dusche mit dem Handtuch abtrockne und mir vorstelle, wie Kameras im Rahmen eines Forschungsprojektes aufzeichnen, welche Teile des Handtuchs ich für den Prozess des Abtrocknens verwende, man findet heraus, dass ich nahezu täglich und mit zuverlässiger Regelmäßigkeit die Seite, die ich zum Abtrocknen verwende, abwechsle, weißbekittelte Menschen mit einem Clipboard in der Hand zeigen mir Filmausschnitte und stellen mir Fragen, „Warum wechseln Sie an dieser Stelle die Handtuchfläche,“ „Warum fassen Sie das Handtuch an dieser Stelle an,“ „Warum haben Sie Ihre …“

Mutter zeichnete sich vor allem durch ihre komplette Unfähigkeit zur Selbstbeobachtung aus, sie würde während des Essens zwanzigmal aufstehen, um hier noch einen Salzstreuer, da noch die vergessene Leberwurst zu holen, es fehlt ein Gäbelchen, um den Aufschnitt aufzuspießen, sie springt auf, um es zu holen, schließlich, ein Gespräch kommt unter diesen Bedingungen natürlich nicht zustande, fragt sie mich, „Möchtest du Tee?“ – „Ja, gerne.“ – „Er steht neben der Spüle, hol’ ihn dir,“ und während ich mir den Tee hole, beschämt, wie einer, der gerade geneppt wurde, doch sie isst freudlos ihre Schnitte, und damit schließe ich auch Schadenfreude aus, oder blitzt da so etwas wie Triumph aus ihren eisgrauen Augen, ich weiß es nicht, vielleicht bildete ich mir das alles nur ein, jedenfalls würde sie nie merken, welche Widersprüche sich in ihrem Leben auftaten, unvergessen die vielen Male, wenn sie über andere Leute sprach und sie als harmlos abtat, mit schöner Regelmäßigkeit ihr finales Diktum, „Der denkt doch Sex wäre eine Zahl,“ garniert noch von einem überlegenen Lächeln, während sie ihren Mann nie geneckt, geschweige denn angemacht hätte, zumindest nicht in den Jahren, in denen ich einigermaßen bewußt Zeuge dessen wurde, was selbst als Zweckgemeinschaft noch eine zu positive Bezeichnung fände, Kosenamen kannte sie nicht, selbst die einfachsten Berührungen waren ihr ein Greuel, und manchmal, wenn Kiesel unter meinen Sohlen knirschen und kalter Lufthauch an Efeublättern zupft, an dem Ort, an dem nur noch die Namen bleiben und selbst diese keine Erinnerung mehr auslösen, wenn ich vor dem Grab einer Frau stehe, die ich nie kannte und Zwiesprache halte mit der, die mir immer als ein Genie des Leidens begegnet war und die ich, als sie schließlich ihr Leben lieben lernte, nicht mehr als Mutter erkannte.

Und mich ihrer entledigte.

3 Vater

Dein Vater war ein gedankenloser Egoist, dem seine Bequemlichkeit über alles ging. Als wir uns kennenlernten, hatte er gerade eine Lehre als Fotolaborant abgeschlossen. Sein damaliger Ausbilder und Chef, Herr Clemens, war bereits sehr alt und hatte keine Kinder. Meinst du, dein Vater wäre auf die Idee gekommen, sich als Nachfolger für das Geschäft zu positionieren? Nein, dein Herr Vater wollte viel lieber Fußball spielen! Wieviele Sonntage habe ich bei Wind und Regen am Spielfeldrand gestanden und darauf gewartet, dass ich endlich nach Hause komme. Damals habe ich mir die Bronchien erkältet, jahrelang habe ich Antibiotika geschluckt deswegen. Aber meinst du, dein Vater hätte das registriert? Keine Spur! Weißt du, was er mir während unseres ersten gemeinsamen Ausgangs erklärt hat? „Ich lebe nur für meinen Sport!“ Am liebsten hätte ich schallend gelacht. Bezirksliga Süd. Das muß man sich mal vorstellen. Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre er nach den Spielen mit seinen Teamkollegen in die nächste Kneipe gegangen und hätte dann irgendein Flittchen geheiratet. Ich habe ihm ganz klar erklärt: Wenn du mich heiraten willst, mußt du dein eigenes Fotogeschäft haben! Da hat er aber mal ganz schön gekuckt. Einmal, da waren wir schon einige Jahre verheiratet, waren wir bei den Clemens zum Abendessen eingeladen. Zu dieser Zeit ging es dem alten Herrn Clemens bereits nicht mehr so gut, er ist ja dann auch wenig später gestorben. Nach dem Abendessen bei den Clemens hat mir dein Vater berichtet, dass Herr Clemens zu ihm gesagt hat, Herr Rest, hat er gesagt, mit dieser Frau an Ihrer Seite werden Sie es weit bringen. Aber als sie dann einen Nachfolger suchten, haben sie sich schließlich doch für einen anderen entschieden. Die Frau von Herrn Clemens war übrigens Jüdin, aber das habe ich erst später erfahren, über so etwas spricht man ja nicht. Ich habe sofort zu deinem Vater gesagt: „Otto, du kündigst und machst dein eigenes Geschäft auf.“ Da hättest du deinen Vater mal sehen sollen, der hätte am liebsten die nächsten 40 Jahre als Fotolaborant weitergemacht. Am Marktplatz stand gerade ein Geschäft leer, „Das nehmen wir,“ habe ich deinem Vater gesagt. „Das ist viel zu teuer, woher sollen wir das Geld nehmen, weißt du, was so eine Einrichtung überhaupt kostet,“ da mußte ich deinem Vater erst einmal erklären, wie man einen Kredit aufnimmt. Ich hatte ja immerhin ein Jahr lang eine Lehre als Buchhalterin gemacht, ich konnte die Lehre nur deswegen nicht beenden, weil ich deinen Vater kennenlernte. Meine Mutter erklärte mir, jetzt brauchst du keine Ausbildung mehr, du hast ja einen Mann. So war das damals.

Als wir das Geschäft eröffneten, warst du gerade in den Kindergarten gekommen. Ich hatte also morgens drei Stunden Zeit, um deinem Vater beim Aufbau des Geschäfts zu helfen. Dein Vater hat sich angestellt, als hätte er noch nie eine Kartei gesehen. Anfangs haben die Kunden immer nachgesehen, ob es auch ihre Fotos waren, die sie da bezahlt hatten, weil dein Vater nicht in der Lage war, den Film und den Kundennamen zusammenzuhalten. Nebenher mußte ich waschen, einkaufen, putzen, kochen und zum Arzt mußte ich ebenfalls, weil meine Bronchien ständig entzündet waren. Wenn dein Vater auf mir lag, bin ich fast jedesmal erstickt, bis ich ihm irgendwann erklärt habe, dass das nicht geht. Da meinte der doch tatsächlich, „Dann dreh’ dich doch um!“ Als ob ich ein Loch wäre. Ich kann dir garnicht sagen, wie sehr mich das gekränkt hat. Diese Rohheit und diese derbe Gefühllosigkeit. Dein Vater war ein sehr bequemer Mann. Als wir uns mit unserem Geschäft etabliert hatten, wäre er am liebsten nur noch auf den Tennisplatz gegangen. Meistens hat er bis drei Uhr Fotos entwickelt und war dann spätestens um vier auf dem Tennisplatz. Später, du bist noch zur Grundschule gegangen, habe ich ihm gesagt, er müsse in L.dorf eine Filiale eröffnen. Mir war aufgefallen, dass wir über 100 Kunden aus L.dorf hatten, die hätten sich den Weg in die Stadt sparen können. „Was?!“ hat dein Vater gezetert, „Die sollen nach N. kommen wenn sie Fotos entwickeln wollen, kommt doch überhaupt nicht in Frage, dass ich mich dort wieder mit diesem ganzen Behördenkram rumärgere,“ undundund. Also langer Rede kurzer Sinn, irgendwann habe ich deinen Vater gefragt, ob er wüßte, wieviele Kunden wir aus L.dorf hätten. Nein, das wußte er natürlich nicht. „Siehst du,“ habe ich ganz ruhig gesagt, „Es sind mehr als 100 Kunden. Und wenn wir 100 Kunden haben, dann haben deine früheren Kollegen in der Zwerchgasse ganz bestimmt auch 100 Kunden.“ Da hat er aber mal gekuckt! „Ja, wenn das so ist,“ hat er auf einmal gesagt, „da hast du natürlich recht.“ Leider ist deinem Vater der Erfolg zu Kopf gestiegen, das heißt um genau zu sein in den Schwanz, bei Männern staut sich das Blut ja bekanntlich woanders. In L.dorf hat er nicht nur eine Filiale eröffnet, sondern sich zusätzlich ein Fotoatelier eingerichtet und begann, die Dorfschönheiten abzulichten, und dabei ist es natürlich nicht geblieben. Das hat mir soviel Leid verursacht, ich kann es dir nicht sagen, wie sehr mich das alles bedrückt hat. Ich bin jahrelang zum Psychiater gegangen, weil ich nicht wußte, was ich falsch mache. Irgendwann hat mein Psychiater zu mir gesagt, „Frau Rest, mit Ihnen ist alles in Ordnung, Ihr Mann ist ein sehr gefühlskalter Mensch, Sie selbst haben sich nichts vorzuwerfen.“ Wie oft habe ich deinen Vater darum gebeten, doch wenigstens einmal mit zum Psychiater zu gehen. Ausgelacht hat er mich, „Ich laß’ mir doch nicht im Hirn rumklempnern,“ hat er gesagt. Der Herr ist natürlich viel lieber in seinem dicken Citroën durch die Gegend kutschiert und hat Tennis gespielt. Womit hatte ich das nur verdient? Ich wollte doch nur alles richtig machen. Und dann das Geschwätz im Tennisclub, dieses primitive Tuscheln hinter meinem Rücken. Natürlich haben sich die Frauen ihre Mäuler zerrissen über deinen Vater, das war ja stadtbekannt, was da passierte. An manchen Tagen bin ich nur mit einer riesigen Sonnenbrille und Kopftuch auf die Straße gegangen, weil ich nicht erkannt werden wollte. Meine Bronchiengeschichte wurde immer schlimmer, ich bin fast erstickt, selbst im Sommer. Ein Arzt hat mir doch glatt erklärt, dass ich mir das alles nur einbilde und dass ich zum Psychiater gehen solle. Als ich ihm erwiderte, dass ich das bereits tue, hat er tatsächlich die Frechheit besessen zu sagen, dass er bei Simulanten mit seinem Latein am Ende ist. Diese Leute sind doch einer wie der andere. Wenn nur mal irgendwas aus dem Rahmen fällt, kommen gleich die dümmsten Sprüche. Dass es mir hundeelend ging, dass mir täglich zum Heulen war, das war denen doch egal. Und Schuld an allem hat immer die Frau, das mußt du dir mal wegstecken, mit dem Finger haben sie auf mich gezeigt. Deinen Vater hat das überhaupt nicht interessiert, der hat immer so getan, als ob ich mir das alles nur einbilde. Jahrelang bin ich mit deinem Vater zum Stammtisch im Tennisclub gegangen, nur damit die sich dort nicht in unserer Abwesenheit das Maul zerreißen konnten. Und was wurde dort gelästert, du machst dir keine Vorstellung davon. Wer mit wem, was die zu der gesagt hat, wer sich scheiden läßt, das geht auf keine Kuhhaut, was die nicht alles durch den Kakao gezogen haben. Ich konnte das einfach nicht mehr aushalten. Wie oft lag ich morgens im Bett und betete, „Herr, gib mir die Kraft aufzustehen,“ so elend war mir zumute. Ich wollte und konnte einfach nicht mehr.

 

Weißt du, deine Generation vergißt, wie gut es ihr geht. Wir mußten eine halbe Stunde zu Fuß zur Schule gehen, barfuß, weil sich unsere Eltern keine Schuhe für uns leisten konnten. Wenn wir krank waren, dann mußten wir im Haushalt helfen, so war das damals. Mein Vater kam 1947 aus einem französischen Gefangenenlager, meinst du, wir hätten ihn erkannt? Ich bin schreiend weggelaufen, als ich ihn zum ersten Mal sah. Meine älteren Geschwister haben ihm die Hand geschüttelt wie einem Fremden. „Guten Tag Herr Schreiber,“ so haben meine Geschwister ihren eigenen Vater begrüßt. Meine Mutter hat ihrem Mann dann ein Festessen gekocht und der arme Mann hat alles gegessen und ist ein paar Tage später gestorben. Das ist übrigens in vielen Familien so passiert. In den ersten Jahren sind wir regelmäßig hungrig vom Tisch aufgestanden, dein Vater hat jahrelang nachts Kartoffeln gestohlen. Dein Vater war so dreist und hat die auch noch verkauft, bis die Bauern ihm eines Tages dahinter gekommen sind. Da haben die ihn aber verprügelt, da konnte er froh sein, dass er mit dem Leben davon gekommen war. Aber das war typisch Otto. Er konnte einfach nie den Hals voll kriegen. Meinst du, er hätte das Geld, das er von den gestohlenen Kartoffeln eingenommen hatte, seiner Mutter gegeben? Doch nicht dein Vater, da kennst du deinen Vater aber schlecht. Der hat sich auf dem Schwarzmarkt Zigaretten gekauft und ist damit zu den Damen gegangen, die es ihm für ein paar Kippen besorgten. Man muß ja schließlich Prioritäten setzen, und dein Vater hatte in der Hinsicht noch nie Probleme.

Ich hatte natürlich schon die eine oder andere Vermutung und war jahrelang darüber hinweggegangen, schließlich waren das ja nur irgendwelche Flittchen, deretwegen es sich nicht lohnte, sich zu enervieren. Erst als er den neuen Citroën zu Schrott fuhr, wurde mir klar, dass er in einer richtigen Beziehung steckte. Das war zu der Zeit, als er diese Monika Becker kennengelernt hatte, da hat an nichts anderes mehr denken können. Am hellichten Tag ist er über Rot gefahren. Ich habe nichts gesagt. Erst als die Wogen geglättet waren habe ich einen gemeinsamen Abend abgewartet und zu ihm gesagt, „Mein lieber Mann, ich möchte gerne mit dir reden,“ habe ich gesagt. Ich bin mir ja schon vorgekommen wie ein Bittsteller, als nächstes muß ich einen Termin ausmachen, um mit meinem Mann zu reden. Das habe ich ihm auch gesagt. Und nachdem sich dein Vater herbeibequemt hatte, um mit mir zu reden, habe ich ihn zur Rede gestellt. „Ich habe bisher absichtlich nichts zu deinem Verkehrsunfall gesagt, weil ich auf einen ruhigen Moment warten wollte, um mit dir darüber zu sprechen.“ So habe ich unser Gespräch eingeleitet. „Meinst du nicht, dass du mir eine Erklärung schuldest.“ Da hättest du aber mal deinen Vater sehen sollen. Wie ein HB-Männchen ist der hochgegangen. Hat rumgeschrien, als ob ich das Auto kaputt gemacht hätte. Als er sich wieder eingekriegt hat, habe ich ganz ruhig gesagt: „Das Auto, lieber Otto, das interessiert mich überhaupt nicht. Ich spreche von etwas ganz anderem.“ „Von was sprichst du denn,“ hat er ganz patzig gefragt. „Ich spreche davon, dass du bei der Polizei angegeben hast, du bist privat auf dem Weg zu einer Monika Becker, davon spreche ich.“ „Das geht dich doch nichts an,“ hat er gezetert und so getan, als würde ich ihm in seiner Privatsphäre rumschnüffeln, das muß man sich erst mal ausdenken so was. „Das geht mich sehr wohl etwas an,“ habe ich erwidert, „falls du dich daran erinnerst, wir sind verheiratet.“ Ich mag garnicht daran denken, wie bösartig und gemein mich dein Vater von dieser Zeit an behandelt hat. Du warst gerade 15 geworden, als dein Vater und ich uns scheiden ließen. Es war eine harte Zeit, ich bin mit dir in eine kleine Wohnung gezogen, 42 qm, nach all den Jahren, und da wollten diese Betonköpfe bei den Behörden erst einen Nachweis, dass Otto und ich bereits ein Jahr lang getrennt leben, bevor mir Unterhalt zustünde. Dieser ganze kleinkarierte Morast von Briefen und Erklärungen und immer wieder diese Bittstellgespräche bei irgendwelchen Sesselfürsten, die dich behandeln, als wärest du der letzte Abschaum. Dein Vater hat sich ja dann umgehend in H. eine neue Wohnung gekauft und was ich ihm nie verzeihen werde, nicht nur, dass er sich die ganzen Möbel in seine Wohnung karren ließ, jawohl, nicht ein einziges Möbelstück hat er mir gelassen, nein, er hat auch sämtliche Fotoalben mitgenommen. Ich habe nicht ein Foto von unseren Urlauben, von dir, unserer Hochzeit, nichts.

Das war eine furchtbare Zeit, die Hölle auf Erden, auf ein Mal lernst du deine wirklichen Freunde kennen, oder auch, wie wenig wirkliche Freunde man doch eigentlich hat. Wie oft lag ich stundenlang in diesem Bett unseres Vormieters, das ich mir mitsamt den übrigen Möbeln, die der arme Mann hinterlassen hatte, von dem bißchen Geld, das ich noch hatte, gekauft hatte, ein altmodisches Doppelbett mit einer Matratze, deren ausgeleierte Federn bei jeder Bewegung quietschten, stundenlang lag ich da und diese ganzen Schmähungen, die ich tagtäglich zu hören bekam, liefen wie ein Film vor mir ab, nach einiger Zeit konnte ich nur noch mit der Hilfe von Schlaftabletten einschlafen. Wie oft habe ich bis ein, zwei Uhr nachts wach gelegen und versucht, einzuschlafen, bevor ich schließlich doch wieder eine Pille schluckte, es ging einfach nicht anders.

Wer mir damals wirklich über die Maßen geholfen hat, war meine liebe Freundin Kerstin Nilrek, die sich ja dann wenig später selbst das Leben nahm. Sie hat mich immer aufgebaut und mir gesagt, die Trennung sei das Beste, was mir je passieren konnte. Und die Kerstin war eine patente Frau, die stand mitten im Leben, war beruflich sehr erfolgreich und mußte sich eigentlich von ihrem Mann nichts gefallen lassen. Irgendwas muß da vorgefallen sein, was sie völlig aus der Fassung gebracht hat. Jedenfalls hat sie sich eines schönen Tages in die Badewanne gelegt, hat heißes Wasser einlaufen lassen und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Deren Mann war auch so ein primitiver Typ, hat in seiner Firma Karriere gemacht, saß mit 35 auf dem Chefsessel und hat dann zuhause nur noch die Füße hochgelegt und ferngesehen. Die Kerstin hat ihm einmal gesagt, er soll sich doch ein Loch in die Kiste machen, dann hätte er alles, was er braucht. Ich hatte die Kerstin immer bewundert, weil sie so robust und selbstbewußt war, die ist immer ihren Weg gegangen. Ich weiß bis heute nicht, was diese Kurzschlußhandlung bei ihr ausgelöst hat. Wir haben fast jede Woche miteinander telefoniert, die Kerstin und ich, manchmal auch öfter. Erst als sie zwei Wochen lang nicht ans Telefon gegangen war und auch nicht mal selbst angerufen hat, hat der Mann von ihr abgenommen und mir ganz lapidar erklärt, seine Frau hätte sich das Leben genommen. Ich war fassungslos, noch heute wird mir ganz übel, wenn ich nur an dieses Gespräch denke. Schweigen wir von etwas anderem.

Und natürlich hast du mir geholfen, mein lieber Sohn, wie hätte ich ohne dich weitermachen können? Unsere vielen Spaziergänge haben mir so unendlich wohl getan, endlich konnte ich mir meine Sorgen von der Seele reden, du glaubst ja garnicht, wie wichtig mir das war. Die Kerstin hatte zwei Söhne in deinem Alter, aber der eine hatte nur sein Motorrad im Kopf und der Jüngere hatte jede Woche eine andere Freundin. Wenn sie mit denen über ihre Probleme sprechen wollte, haben die nur gesagt, „Mutter nerv’ mich nicht.“ Ja, jetzt nervt sie niemanden mehr, das haben sie nun davon. Ich weiß, ich habe dich gewiss überfordert und das tut mir auch von Herzen leid, aber zu dieser Zeit habe ich mich an jeden Strohhalm geklammert.

4 Spaziergang

Solange die Autos an uns vorbeifuhren konnte ich mich nicht darauf konzentrieren, was sie sagte, jeder Wagen heischte Aufmerksamkeit, ich versuchte die Fahrer der entgegen kommenden Autos zu erkennen, Gesichter, die mir in Steno eine Lebensgeschichte zuschrieen, in Falten gemeißelte Hoffnungslosigkeit, in der Mundlinie verewigter Hochmut, und manchmal, wenn ich in unverhofften Reflektionen ungünstig beleuchteter Glasscheiben des Unglücks meines eigenen Gesichtes gewahr werde, holt sie mich ein, die Geschichte, sehe ich wieder die trostlos an kahlen Bäumen hängenden vergilbten und trockenen Blätter, die lustlos über dem Burgweg rauschten, Herbst, der Beginn meiner Winterdepression, aber auch eine Zeit des Aufatmens, wenn die in Frühjahr und Sommer bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Hormonausschüttung wieder abflaute, wenn es mir wieder möglich wurde, einen halben oder sogar einen ganzen Tag ohne die von den Wallungen meines Geschlechtsteils inspirierten schwülstigen Phantasien zu verbringen, wanderte ich an der Seite meiner Mutter in den Kübelweg einbiegend über Felder und Weinberge, meistens auch in den Wald, wo gedämpfte Stille die Schritte unserer Schuhe dumpf verstärkte, und wo ich auch endlich in der Lage war, ihren Ausführungen zu folgen.

Es waren im Wesentlichen immer wieder dieselben Bruchstücke eines zerplatzten Traums, nur hie und da blitzte eine neue Beleidigung auf, die man ihr zugefügt hatte, eine Kränkung, die sich durch neue Gemeinheit und in ihrer finsteren Grausamkeit schillernd und kreativ auszeichnete, von eigentlich ganz normalen, auf jeden Fall phantasielosen Bürgern, die kraft eines Amtes oder einer Funktion befugt waren, meine Mutter zu quälen, und die ich umgehend, noch während meine Mutter die erlittene Schmach beschrieb, zur Rechenschaft zog, indem ich vor meinem inneren Auge sah, wie ich in ihre Büros schritt, wie ich sie mit Stichworten und Anspielungen an das erinnerte, was sie meiner Mutter angetan hatten, wie ich in ihren Augen den Augenblick abwarte, der mir signalisiert, dass sie sich voller Schuld erinnern, und wie ich genau in diesem Moment das Urteil vollstrecke, schuldig, aufgerissene Augen, in denen in Bruchteilen von Sekunden Schulderkenntnis und Exitus einander ablösten, bis sie gläsern ins Leere blickten, und ich sie zurück in ihre Sessel schleudere, oder einfach nur fallen lasse, aufgeblasene Körper, an deren Torso willenlos Kopf und Gliedmaßen baumeln, die Kopfhaare häufig von einer pulsierenden roten Flüssigkeit schrecklich verdreckt, ich werde verhaftet, noch am Tatort, Menschen befragen mich, ich hülle mich in stolzes und scheues Schweigen, niemand soll wissen, dass ich meine Mutter gerächt habe, es geht niemanden etwas an, Mutter, du kannst wieder aufatmen, es ist alles wieder so, wie es sein sollte, „… und dann hat dein Vater doch tatsächlich gesagt, ich solle doch bitte …“ hörte ich sie neben mir, sie war bereits bei einer neuen Schmähung, ein Mistkäfer zerplatzte unter dem Gewicht meines rechten Schuhs, ich spürte einen Moment der Trauer, das wollte ich nicht, der Wind schüttelt einige Regentropfen von letzter Nacht von den Bäumen, ihre Schritte waren stramm, fast marschierend, während ich blicklos den Kopf Richtung Boden hielt, ich dachte an meine nächste Zigarette, die ich bereits gedreht hatte und die Seite an Seite mit einem Stück Apfel in meiner Tabaktasche lag.

Die Herbstsonne blitzte durch die Bäume, ungefragt höre ich die Melodie eines Lieds von 10cc, das ich bei Socke gehört hatte, der Refrain ist mir auf einmal wieder im Ohr, „Ooh, you’ll wait a long time for me,“ sang es in mir, „… ich habe übrigens mit deinem Klassenlehrer gesprochen und Herr Moritz hat mir mitgeteilt, deine Leistungen seien merklich zurückgegangen …“ hörte ich sie weiterreden, sie wartete einen Moment, ob ich etwas dazu zu sagen habe, ich erwiderte nichts außer einem „Hm …“, sie verzog die Enden ihrer schmalen Lippen in einer bitteren Linie fast senkrecht nach unten und machte verschiedene Bemerkungen über mein Alter, über die Pubertät, die Schwierigkeit, mit mir zu kommunizieren, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht als dass ich mich ihr öffnen würde, dass sie leidet, weil sie nicht weiß, wie sie an mich herankommen kann, ich dachte wieder an meine Zigarette und daran, wie Bert Simm seine Zigaretten raucht, mit Daumen und Mittelfinger die Zigarette zwischen die Lippen haltend, die Mundwinkel zeigen steil nach oben, was ihn pfiffig und souverän aussehen läßt, der inhalierte Rauch, verstärkt von dem einen oder anderen Gramm abenteuerlicher Zusatzstoffe, die ich mir nicht leisten konnte, deren Wirkungen aber erahnt werden konnten, wenn man wie ich beobachtete, wie er mit geschlossenen Augen den Rauch ausatmet, ein kurzer Blick auf den Stummel, der verworfen wird und mit einer schnellen Schnipsbewegung auf der Straße landet.

 

Mutter blieb plötzlich stehen, ich erwartete eine Rüge, weil ich ihr nicht zuhörte, aber sie wendete sich dem Ausblick auf die Stadt zu, die sich aus den Wäldern in die Ebene zu ergießen scheint, rote und gelbe Farbtupfer schaffen eine fast fröhliche Atmosphäre, der Herbst ist nach einem heißen Sommer noch ohne den Biß der Kälte und manchmal, wenn von kahlen Ästen herabfallende Regentropfen mich überraschen und ich verwundert aufblicke, Grabsteine säumen den Weg, wo ich gerade eben noch ganz deutlich Hausdächer vor meinem inneren Auge gesehen hatte, Hausdächer unserer Stadt, die zwischen Wald und Ebene ganz eigentümlich ihren Platz gefunden hatte, ich versuchte, das Dach des Hauses zu finden, in das wir vor einigen Tagen eingezogen waren, es gelang mir nicht, grimmig ließ sie die schöne Aussicht auf sich wirken, schließlich atmete sie tief ein und sagt, „Ist das schön!“ und ich wunderte mich, ob diese Aussage zu ihrem Vorsatz gehörte, positiv zu denken, ob es ernst gemeint war, oder ob sie mich in ein Gespräch verwickeln wollte, wir standen beide da und blickten auf die Stadt, es war still und friedlich, die Sonne stand bereits tief über den Wäldern, schließlich gingen wir weiter.

Sie nahm wie immer die Abkürzung durch den Wald, Äste knacken unter unseren Schritten, links und rechts waren immer mal wieder Bombenkrater aus dem zweiten Weltkrieg, in denen sich das Laub gesammelt hat, ich hasste diese Abkürzung durch den Wald, ich fand sie würdelos, aber sie marschierte munter durch diesen Teil des Waldes, kicherte sogar ein bißchen und fühlte sich wohl wie ein ungezogenes Mädchen. Wie ich diese Anzüglichkeiten hasste, dieses in eine Intimität hinein gezogen werden, die ich nicht gesucht hatte und auf die ich gerne verzichten hätte. Dann waren wir wieder auf einem Weg, wunderschön gepflegte Gärten tauchten auf einmal vor uns auf und nach der chaotischen Strecke quer durch den Herbstwald wirkte die Aufgeräumtheit dieser Gärten jung und lebensfroh, Wein rankte sich verspielt um vereinzelte Türbögen, mit bereits rötlich gefärbten Blättern und nicht geernteten Trauben, die bereits schrumpelig kleiner wurden, es war wie Frieden, unangestrengt und trotzdem eine Aura jugendlicher Frische verbreitend, vieles lud dazu ein darüber zu sinnieren, wie schön das Leben sein kann, aber ich mußte an unsere neue Wohnung denken, die wir bezogen haben, an die Möbel, die wir vom verstorbenen Vormieter übernehmen konnten, Möbel, die eine Tristesse verbreiteten, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte.

Sie hatte ihr Haushaltsgeld dafür ausgegeben und einen Kleinkredit aufgenommen, der ihr nur bewilligt worden war, nachdem ihr Mann als Bürge unterschrieben hatte, was sie auch nur deshalb erreichte, weil sie ihm auf offener Straße das Papier vor die Nase hielt, er wollte gerade in seinen Citroën einsteigen und dem Möbelwagen vorausfahren, sie hatte einen Kredit über 2.000 DM aufgenommen, eine Menge Geld, das uns nichtsdestoweniger sehr schnell ausgehen sollte, ihr Mann schrie und fragte, was sie mit soviel Geld wolle, stieg wieder in seinen Wagen und machte Anstalten, loszufahren, sie stellte sich vor das Auto, er setzte zurück und machte Anstalten, um sie herum zu fahren, sie legte sich dramatisch auf die Straße, er kam nicht an ihr vorbei, er stieg aus und machte Anstalten, sie weg zu ziehen, sie fing an zu schreien und auf ihn einzuschlagen, nie hatte ich sie so authentisch gesehen. Nachdem er auf der Wagenhaube unwillig unterschrieben hatte, hatte auch sie wieder ihre Contenance zurück erlangt, die Nachbarn zogen sich von den Fenstern zurück, ich stand im leeren Haus, in dem nicht mehr viel war außer unseren Kleidern und Schuhen, meiner Zimmereinrichtung, die sie mir vor zwei Jahren gekauft hatten, aus einer mir nicht klar gewordenen Notwendigkeit, vielleicht war das Bett, in dem ich schlief, zu klein geworden, vielleicht hatte ich Geburtstag, vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich seit zwei Jahren aufs Gymnasium ging, „Mit Ihrem Sohn läuft alles bestens,“ hatte die Grundschullehrerin gesagt, eine nichtssagende Abwimmelphrase, die sie nichtsdestoweniger gerne und immer wieder zitierte, sie selbst hatte ja nicht einmal die Mittlere Reife, ein schwarzer Fleck in ihrer bürgerlichen Existenz, den sie dadurch zu kompensieren suchte, indem sie zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ein Fremdwort verwendete, so hatte sie nie eine Erkältung, das hatte ja die Plebs, sondern immer nur eine Influenza, ansonsten noch der eine Stuhl oder der andere Tisch, selbst das Bügeleisen hatte er mitgenommen, sie kamen völlig überraschend, ohne Vorankündigung, fünf Mann, die alles einpackten, sie war aschfahl, als ihr Mann mit den Möbelpackern das Haus betrat, sie wußte, was das bedeutete, sie ging fast umgehend zur Sparkasse und brauchte geschlagene vier Stunden, um den Kredit zu erbetteln, sie ließen sie während der Mittagspause warten, sie war ja ohne Arbeit, nicht einmal arbeitslos, in den Augen der Bank eigentlich ein Niemand, nur weil sie vor 12 Jahren einen Kredit für das Geschäft ausgehandelt hatte, ließ man sie überhaupt mit einem leitenden Angestellten sprechen, er machte die Bürgschaft ihres Mannes zur Bedingung, womit sie gerechnet hatte, sie war nicht auf den Kopf gefallen, sie konnte schnell und richtig handeln, wenn es die Situation erforderte, wir standen am Wegesrand und blickten auf die Häuserfront vor uns, rote und gelbe Farbtupfer der Bäume, die erst im letzten Jahr entlang des Bürgersteigs gepflanzt worden waren lockerten die Atmosphäre auf, die Sonne schien auf die letzten Dächer und es war immer noch nicht kalt, wir gingen weiter, es wurde schattig und andeutungsweise frisch.

Ich wollte eine Zigarette rauchen, die ich inzwischen mit großer Präzision zu drehen imstande war, leider nicht mit einer Hand in der Hosentasche wie Kalle, der mit der anderen Hand am Wizard weiterspielte, einem sensationellen Flipperspiel, das auch seinen Platz im Haschmich gefunden hatte und das mich daran hinderte, mich auf den Evel Knievel zu konzentrieren, der Flipper, den ich immer spielte und der sich vor allem dadurch auszeichnete, dass ich meistens binnen weniger Minuten ohne weiteren Spielkredit war und wieder den anderen zusah, „… wenn ich nur wüßte, wie wir die nächsten Monate auskommen, dein Vater hat noch keine einzige Mark an uns überwiesen, aber lieber sterbe ich, als dass ich aufs Sozialamt gehe …“, ich merkte an, dass ich zwei Nachhilfeschüler hätte, die ich in Mathe und Latein unterrichtete, „Dann kannst du ja demnächst ohne Taschengeld auskommen,“ quittierte sie meine vertrauensselige Mitteilung, ich ärgerte mich, das bißchen Geld reichte gerade für Zigaretten und täglich ein bis zwei Spiele am Evel Knievel, früher bekam ich monatlich 30 Mark Taschengeld, seit sie sich getrennt hatten, bekam ich nur noch 20, wir mussten kleine Brötchen backen, die Kaution für die Miete war doppelt so hoch wie normal, weil, wie der Vermieter sagte, nicht sicher sei, ob meine Mutter in vier Monaten noch bezahlen könne, einer der vielen kleinen Nadelstiche, die meiner Mutter so zusetzten, schließlich kamen wir wieder in die Straße, in der wir jetzt wohnten, es war ein neues Gefühl, nicht mehr durch einen Vorgarten ins Haus zu gehen, stattdessen vorbei an parkenden Autos, wir saßen in der Essecke auf den Stühlen des Vormieters, Küchenstühle mit einstmals weißen Resopalflächen und verrosteten Chromgestellen, die Sehnen am Hals meiner Mutter waren wieder einmal aufs äußerste gespannt, sie hatte sich eine Tasse mit heißem Wasser gemacht, verschiedene Medikamente lagen in ihren Verpackungen über den Tisch verstreut, das Radio spielte klassische Musik, ein unruhiges Stück, das mich wieder und wieder ablenkte, sie knipste die Tabletten aus den Verpackungen, transparente Plastik an silbernem Stanniol, schluckte gequält und drückte die nächste Tablette aus der Verpackung, „… Sie hörten das orchestrale Interludium aus dem dritten Akt der Oper Das Märchen vom Zaren Saltan von Nikolai Rimski-Korsakow, bekannt unter dem Namen Der Hummelflug …“ sagte der Moderator, ich stand auf und ging in mein Zimmer.