Orest im deutschen Herbst

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7 Leere

Ich saß in meinem Zimmer und sah ins Leere, etwas, das ich besser konnte als jeder andere, sie nannte es „Gammeln“ wenn sie mich dabei erwischte, „Bist du wieder am Gammeln?“ würde sie fragen, wenn sie ohne Anzuklopfen ins Zimmer kam und sah, wie ich auf der Couch vor mich hinstierte, sie setzte ein süßliches Lächeln auf, als ob sie amüsiert wäre oder haushoch über solchen Trivialitäten stünde, es war nicht nur verlogen, es war auch völlig unpassend, ich hätte sie gerne geschlagen, aber das ging nicht, es wäre ihre Absolution gewesen, ihre finale Selbstbestätigung, sie hätte sich nicht gewehrt, diesen Triumph vergönnte ich ihr nicht, aber der Hass war da. Manchmal schlug ich sie vor meinem inneren Auge, aber immer richtete sie sich unbeschadet zu voller Größe auf, setzte ein Gesicht auf, das die Bereitschaft ausdrückte, alles Leid dieser Welt und insbesondere das eigene auf sich zu nehmen und dann ging sie hoch erhobenen Hauptes weg, während ich zurückblieb, ein Verworfener, ein Peiniger, ein Schuldiger, ich fühlte, wie es mir den Atem zuschnürte, Schuld, das war die Währung, in der sie bezahlte, das war das, was zurückblieb, wenn sie das Zimmer verließ, ihre Kreativität kannte keine Grenzen, um das, was ich tat oder nicht tat so zu interpretieren, dass ein Urteil gefällt werden mußte, es war immer das gleiche Urteil, schuldig, aber sie war nicht dumm, sie würde das Urteil nicht aussprechen, denn das würde ja einen Einspruch ermöglichen, sie würde mich das Urteil kosten lassen, durch das sich in ihrer Miene spiegelnde Leid, durch Seufzen, durch indirektes Adressieren, durch rhetorische Fragen oder auch nur, indem sie reglos auf ihrem Bett lag, eine Verzweifelte, Unverstandene, eine, die blass zu denken wagte, während wir sonnengebräunten Jubelfritzen immer noch dem Leben etwas abgewinnen konnten, aber auch das würde sie mir austreiben.

Mein Blick schweifte zu dem Beistelltisch, den ich auf dem Sperrmüll gefunden hatte, aus Eschenholz, mit einer Schublade, in der ich meinen Tabak und Streichhölzer aufbewahrte, es war ein schöner Tisch, er gab meinem Zimmer etwas Individuelles, ich war sehr stolz auf diesen Tisch, ich hatte ihn vor einigen Tagen gefunden, als ich vom OhrSturm nach Hause ging und aus der Macht der Gewohnheit heraus die Bahngleise überquerte und über den Treppenweg in die Maxburgstraße ging. Es war ein frischer Oktoberabend und ich hatte während des Treppensteigens eine Rede gehalten, voller Lebensweisheit und tiefer Einsicht, es ging um die Wahrheit, die wir nur in uns finden können, ich war selbst erstaunt, was ich in solchen Momenten zu erträumen imstande war, das Publikum lauschte und schließlich der befreiende Applaus, Menschen strömten ans Podium, um mir die Hand zu schütteln, ich war trunken vor Glück, mehrmals täglich fixte ich mir auf diese Weise ein High, von dem andere Junkies nur träumen konnten, nur dass ich es nicht zu bezahlen brauchte, wenn man davon absieht, dass ich Hand in Hand mit den Tagträumen, in denen ich bis an die Grenzen menschlicher Potentialausschöpfung gelangte, mein Leben ganz konkret an die Wand fuhr, und so war es auch an jenem späten Abend, als ich vom OhrSturm nach Hause ging und aus der Macht der Gewohnheit heraus die Bahngleise überquerte. Ich hielt im Geiste eine Rede, wie wunderbar, noch heute begreife ich nicht, was mich so sehr daran faszinierte, Reden zu schwingen, bis dann mein Blick auf irgendetwas fiel, das mich zurück in die Realität warf, vielleicht war es ein Hundehaufen oder ein vor Monaten abgestelltes und inzwischen schon halb verrostetes Fahrrad, vielleicht auch der Obdachlose, der in einem Schlafsack am Wegesrand lag, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls erinnerte ich mich wieder, dass ich gerade mit vier Bier intus eine Treppe hochlief, meine Zigarette bereits an den Fingerspitzen wehtat, wenn ich daran zog, und dass ich bescheuerterweise in die völlig falsche Richtung gelaufen war, deine Eltern haben sich getrennt, wir erinnern uns, ja? Das Haus ist passé, du wohnst jetzt in der Stadt, Trottel, wohl total verblödet oder was, Erde an Wolkenkuckucksheim, HalloHallo, und im Bruchteil einer Sekunde knallte ich von dem erhabenen Gefühl, das mir mein Tagtraum beschert hatte, zurück in eine kalte, widrige und ekelhafte Wirklichkeit, ich beschimpfte mich, das gehörte dazu, ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich vor mich hinträumte, ich verachtete mich, weil ich zu dämlich war, nach Hause zu finden, ich schlug mir auf den rechten Oberschenkel und sah mich wieder im OhrSturm, wo ich mit den anderen am Tisch sitzend über irgendeine Bemerkung lachen mußte, mal abgesehen davon, dass ich der einzige war, der meinte, er müßte diese Bemerkung, ich glaube sie war von Socke, mit einem lauten Lachen quittieren, nein, ich hatte praktischerweise auch ignoriert, dass ich noch Bier im Mund hatte, Impulskontrolle war meine Stärke nicht, ich prustete das Bier lachend auf den Tisch, und dann diese plötzliche Stille, alle blickten schockiert auf mich. Natürlich war das eine absolute Verfehlung, ich schämte mich und ärgerte mich, dass ich einfach nichts vertrug, nach vier Bier ist doch kein Mensch besoffen, nur ich, nicht mal zum Alkoholiker würde ich es bringen, aber das wusste ich damals noch nicht, ich sah die Szene wieder vor meinen Augen und schlug mir vor Ärger und Wut wieder auf den Oberschenkel, die Szene spielte sich wieder vor meinen Augen ab, Scham und Wut erfüllten mich wieder, ein harter Schlag auf meinen Oberschenkel, noch bevor ich dreimal Luft holen konnte hatte ich mir bereits zehnmal aufs Bein gehauen, es brannte und tat richtig weh, ich ging humpelnd weiter, warum nicht schauen, ob schon jemand in unserem Haus wohnte, an der Ecke zur Waldstraße lagen Matratzen, alte Stühle und anderer Krimskrams, ich wäre eigentlich achtlos daran vorbeigelaufen, wenn mein Blick nicht auf den Beistelltisch gefallen wäre, ich blieb stehen und sah den Tisch an, ich ging darauf zu, klopfte auf die Platte, machte die Schublade auf, sie ließ sich leicht öffnen, sie war leer, ich schob sie wieder zu, ich untersuchte die Beine, eins war wackelig, aber der Tisch stand wie eine Eins, ich hob ihn versuchsweise hoch, er ließ sich tragen, ich fackelte nicht lange und begann, ihn nach Hause zu tragen, ich brauchte zwei Stunden, wie gut, dass ich das nicht vorher wußte, alle paar Meter mußte ich den Tisch absetzen und eine Pause machen, er wurde schwerer und schwerer, ich wunderte mich, wie das aussah, wenn einer mitten in der Nacht einen Tisch trägt, es war mir egal, irgendwann war ich in der Wohnung, die ich seit einigen Wochen mit meiner Mutter teilte, sie wartete bereits.

„Wo warst du?“ – „Im OhrSturm.“ – „Bis um ein Uhr nachts?“ – „Ja!“ – „Ich habe mir Sorgen gemacht.“ – „Tut mir leid.“ – „Was ist das?“ – „Ein Tisch.“ – „Das sehe ich, dass das ein Tisch ist. Willst du mich für dumm verkaufen? Woher hast du den?“ – „Hab ich auf dem Sperrmüll gefunden.“ – „Du kannst doch nicht einfach einen Tisch vom Sperrmüll nehmen!“ – „Du kannst ja die Polizei rufen.“ – „Das ist jetzt kein Grund, pampig zu werden!“ – „Lässt du mich bitte in mein Zimmer?“ Sie stand im Flur, ein alter Morgenrock über die Schultern geworfen und eine Taschenlampe in der Hand, die sie dramatischerweise statt der Flurbeleuchtung angeknipst hatte, ich konnte nicht in mein Zimmer, weil sie davorstand, ich knipste das Flurlicht an, sie knipste es aus und fauchte mich an, „Lässt du wohl das Licht aus! Schau mal auf die Uhr! Meinst du die Nachbarn müssten wissen, dass du mitten in der Nacht nach Hause kommst?“ – „Ist mir doch egal, lässt du mich jetzt bitte endlich in mein Zimmer,“ es wurde langsam unerträglich, so ein Theater wegen eines dummen Tisches, ich merkte, wie ich mir auf die Unterlippe biß und begann, Kanten abzufahren, vielleicht beruhigte es mich, aber ich fühlte deswegen keine Ruhe in mir, alles war so unerträglich, selbst dieser Beistelltisch, die Bastion meiner krampfhaft errichteten Individualität, war neben dem popeligen Schreibtisch nur ein weiterer Witz in der langen Kette von Scherzen, die eine höhere Macht, wenn sie denn persönlich war, auf meine Kosten machte, auf dem Boden lagen verschieden Kassetten neben dem Kassettenrecorder, den ich Socke abgekauft hatte, nachdem er seine Hifi-Anlage zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, ich nahm eine der Kassetten in die Hand, es war Phallus Dei von Amon Düül II, eine musikalische Hinrichtung, die immer wieder den Nerv des Krautsalats in meinem Kopf traf, ich legte sie ein und spielte sie ab. Sie setzte irgendwo ein und das war gut so, es gibt Musikstücke, bei denen es sich nicht gehört, sie von Anfang an anzuhören, und dieses gehörte auf jeden Fall dazu, vielleicht war es auch der Vorreiter einer Musik, die Anfang und Ende negierte, ich fläzte mich in das Ledersofa und stellte mir Sabine vor, mit der ich morgen in der Pause knutschen würde, sie war in der Parallelklasse, eins dieser verspäteten Hippiemädels, die weich aussehen und sich weich anfühlen, die auch mal einen Joint rauchen, enge Jeans trug und die mir ein Kettchen geschenkt hatte, das ich nun selber trug, es war eine Träne aus Holz, oder war es ein Yin-Yang-Zeichen, egal, ich hatte es mir nur einmal kurz angeschaut, als sie es mir schenkte, ein bedeutungsvolles Zeichen der Verbundenheit, ich fingerte ein bißchen daran rum und wälzte mich zur Schublade meines Beistelltischchens, holte den Tabak raus und drehte mir eine Zigarette, die ich mir genüßlich ansteckte, aaahh, das Leben konnte so schön sein, ich sah dem Rauch hinterher, der sich in der Luft kräuselte und schließlich verschwand, die Musik begann, mir auf die Nerven zu gehen, ich kniete mich auf den Boden und begann, meine Kassetten durchzusehen, plötzlich hatte ich das Hausaufgabenheft in den Händen, wo kam das auf einmal her, ratlos blätterte ich darin, und in der Tat, ich hatte mir die Hausaufgaben notiert, Mathe S. 38 Übung 2-4, Deutsch „Der Hecht und der Hai“ Kurzinterpr. (loses Blatt, Name, abgeben), Engl. Vokabeln ? Test! Ich war mit einem Mal wach, das gibt’s doch nicht, dachte ich, hatten wir nicht den Text von dem Gedicht von unserem Deutschlehrer ausgehändigt bekommen, ich erinnerte mich dunkel an den Stoß Papiere, deren Geruch mich an Klassenarbeiten und Tests erinnerte, ich hatte mir ein Blatt genommen und den Stoß weitergereicht, nur wo hatte ich das Blatt dann hingetan, der Aktenkoffer schien die naheliegendste Antwort, ich versuchte, aufsteigende Hektik im Keim zu ersticken und öffnete gelangweilt die Messingschlösser, die mit einem Klacken aufgingen, ein Wust von Papieren, Heften und Büchern kam zum Vorschein, ich nahm verschiedene Blätter – da eine Hektografie des Texts eines mittelalterlichen Dokuments zur Kaiserwahl (wo kam das denn her, wir waren doch schon längst bei den Nazis?), hier Notizen, die ich auf losen Blättern gemacht hatte, weil ich das Heft für das zugehörige Fach vergessen hatte, der Rest meines Pausenbrotes, ich legte es auf meinen Schreibtisch, auf dem seinerseits zahllose Papiere ungeordnet verdammt dazu waren, irgendwann wegen der fehlenden Datumsangaben im Dunkel der Unauffindbarkeit zu verschwinden, schließlich hatte ich den Aktenkoffer durch, da war nichts, ich knipste die Lampe an, die seitlich am Schreibtisch klemmte und sah auf die Schreibtischplatte, da lag es direkt vor mir, ich hatte es mir nach der Schule auf den Schreibtisch gelegt, mit den besten Vorsätzen, so lief das jeden Tag, und jetzt hatte ich das Pausenbrot draufgelegt, einige Fettflecken hatten bereits einen Teil des Gedichts unleserlich gemacht, ich verbrannte mir einen Finger mit der Zigarette, wütend drückte ich sie aus und las das Gedicht, soweit es ging.

 

Ein Hecht regierte lange Z …

In einem Wasser weit und …

Und glaubte voller Stolz, nun sey er

Der Fürst und Herr im ganzen Weiher.

Was hindert mich denn …

Dass ich im weiten Ocean …

Nicht eben so gewaltsam …

Nicht eben so als Herr gebiete,

Wie hier? Er sagt’s und schwimmt

Hinab in’s große Wasserreich.

Doch wie erschrak er, da er nah’

Des Meeres Ungeheuer sah!

Ein Hai, der nicht sobald vernommen,

Weswegen er hieher geschwommen,

That seinen weiten Rachen auf,

Ergriff ihn und verschlang ihn d’rauf.

So trifft der kleinere Tyrann

Stets einen noch gewalt’gern an,

Der ihn, von Siegen schon umringt,

Mit seiner größern Macht verschlingt.

Ich suchte ein Blatt Papier, ich erinnerte mich wieder, morgen würde Herr Mürgesberger unsere Kurzinterpretationen einsammeln, also schrieb ich meinen Namen oben ins Eck, dann schrieb ich „Das Gedicht Der Hecht und der Hai ist von Justus Zachariae,“ ich las den Satz mit schnell wachsendem Grauen, so platt konnte ich doch nicht loslegen, also nochmal, ich strich den Satz durch und schrieb „In dem Gedicht Der Hecht und der Hai von Justus Zachariae geht es um die ewigen Themen Gerechtigkeit und Geltungssucht,“ ha! das war doch mal ein gelungener Anfang, das war gleich eine ganze Spur besser, ich fuhr fort, „Ein abenteuerlustiger Hecht, nachdem er jahrelang seine Umgebung gequält hatte, will noch höher hinaus und sucht sich nach neuen Ufern um,“ mein Kugelschreiber flog nur so übers Papier, ich war in eben jenem Aggregatzustand, den Csikszentmihalyi mit Flow beschreibt, mit einem Mal ging es mir wieder besser, ich brauchte den Text garnicht komplett lesen zu können, es war doch sowieso klar, um was es da ging, schließlich hatte ich eine Seite voll geschrieben. Der erste Satz prangte immer noch durchgestrichen an oberster Stelle, er würde, wenn Herr Mürgesberger ihn lesen würde, den ganzen Rest durch seine Erbärmlichkeit mit runter ziehen und ich hatte keine Lust, die ganze Interpretation auf ein neues Blatt zu schreiben, missmutig strich ich den Satz nochmal durch, und nochmal, bis der Satz kaum noch zu lesen war, das mußte reichen, schließlich waren da noch die Matheübungen und die Englischvokabeln, ich sah auf meinen Wecker, es war schon nach zwölf, ich gähnte und suchte das Mathebuch, zur Not konnte ich die Aufgaben auch in der ersten Stunde von Alf abschreiben, also waren noch die Englischvokabeln übrig, ich mußte aufs Klo, Vokabeln lernen gehörte zu den Dingen, die mich mit Zuverlässigkeit überforderten, spätestens nach drei vier Vokabeln dachte ich an alles, nur nicht an die Vokabeln, es war wie ein Auslöser für Tagträume, ich ging über den Flur ins Bad, die Schachtel mit den Tabletten stand auf dem Rand des Waschbeckens, Dolestan forte, 30 Stück, sie war fast leer.

8 Etwas mehr

Ich kam immer genau fünf Minuten zu spät, ich wußte auch nicht, wie ich das machte, montags mußte ich dann bei Herrn Seifert in Mathe das Sprüchlein aufsagen „Ich heiße Otto Rest, bitte entschuldigen Sie die Verspätung,“ und wenn ich nuschelte oder dabei in Richtung Sitzplatz ging mußte ich den Satz wiederholen, am Anfang hatte es durchaus Unterhaltungswert, aber nach dem zehnten oder zwanzigsten Mal hörte niemand mehr hin und Herr Seifert, der wohl überzeugt war, dass ich lieber pünktlich kommen würde als mich dermaßen zu blamieren sah langsam aber sicher, dass seine pädagogische Maßnahme bei mir auf den allerdürrsten aller möglichen Wüstenböden gefallen war und nicht, aber auch garnicht fruchtete, während ich dienstags bei Herrn Mürgesberger einfach auf meinen Platz gehen konnte, mittwochs kam ich pünktlich, weil Frau Dr. Petzold, unsere Chemielehrerin, am Anfang der Stunde das Chemielabor abschloss, donnerstags bei Frau Schwammel in Englisch wurde ich meistens mit einer ironisch freundlichen Begrüßung empfangen, „Oh, it’s Otto, how delightful, we are SO HAPPY to see you,“ oder etwas in der Art, worauf ich meistens eine Entschuldigung murmelte, „I’m SO sorry, Mrs. Schwammel, excuse me,“ es war wie ein Ritual, Lehrer können sich richtig festfahren, wenn mal irgendwas nicht passte, und freitags in Erdkunde konnte ich auch schon mal einen richtigen Anschiß bekommen, wenn Herr Moritz schlecht drauf war.

In der Rückschau ist das Klassenzimmer auf einmal ganz still, was tatsächlich aber nicht so war. Lärm war eine feste Konstante, denn wenn 40 Schüler in einem zu engen Raum auf zu kleinen Stühlen sitzen wird jede Gelegenheit genutzt, sich in egal welcher Form zu äußern, dem Nachbarn in die Eier zu hauen oder kleine Nachrichten hin und her zu schicken. Auch das Einfrieren in die Pose der unschuldigsten und allerangespanntesten Aufmerksamkeit, und zwar noch bevor sich der Lehrer aufgrund verdächtiger Geräusche vollständig umgedreht hatte, wurde mit sehr viel Anerkennung von den Mitschülern zur Kenntnis genommen. Noch während des Pausenzeichens dann der Ausbruch in unbändiges Schreien, Stühlerücken und Wegwerfen von Gegenständen, die beim Nachbarn störend auf dem Tisch lagen. Solcherlei gehörte zu dem Sozialisierungsprozeß, den wir alle durchmachten und an welchem die Lehrer leider nicht immer unbeschadet teilnahmen, legendär die Geschichte von Herrn Seifensieder, dem alten Erdkundelehrer, der sich vor der ganzen Klasse in die Hose seines beige farbenen Anzugs gemacht hatte, aber auch von Herrn Engern und Frau Wiebling, die während einer einwöchigen Skifreizeit genau zweimal gesehen wurden, bei der Hin- und bei der Rückreise, Horst Schadrow, genannt „Schwadron“, ein Mitschüler, der bereits in der siebten Klasse einen Vollbart hatte, unvergessen der Tag, an dem er mit dem Ding in die Schule spazierte, gehörte zu den ergiebigsten Quellen dieser Anekdoten, die er mit viel Genuss zum Besten gab und die er von den Mitschülern aus der Oberstufe erfuhr, die er regelmäßig beim Redigieren der Schülerzeitung traf. Diese war ein eigentlich unpolitisches Blättchen, das aber zu den Zeiten von Horst „Schwadron“ und anderen, deren Namen ich leider nicht mehr weiß, durchaus auch mal eine Stellungnahme zum Tod der Ulrike Meinhof brachte und andere, damals wie heute richtig heißer Eisen ansprach, an denen sich nicht die Finger zu verbrennen nicht jedem gelang und wo auch Herr Mürgesberger, der Vertrauenslehrer des „Fürstenspiegels“, wie die Schülerzeitung hieß, sich teilweise richtig weit aus dem Fenster lehnte, wenn ein Artikel mal nicht bis zum letzten Komma gebürstet war.

„Gehst du nachher noch zum Opa?“, fragte mich Socke, ich zuckte die Schultern, er ließ seinen Basketball auf dem Zeigefinger rotieren und tat so, als ob er ihn mir zuwerfen würde, ich zuckte zusammen aber er hielt den Ball bei sich und lachte, vor mir sah ich Sabine, die mit dem Rücken zu mir bei ihren Hippiefreunden stand und rauchte, ich nickte zu Socke und sagte „Mal sehn, kannst ja schon den Evel warmspielen,“ ich hatte sowieso nur eine Mark in der Hosentasche, ich stellte mich neben Sabine und umarmte sie, sie reagierte etwas hölzern, „Können wir gleich mal miteinander sprechen?“ sagte sie ernst, ich verdrehte die Augen und ging weiter, „Bis gleich,“ sagte ich genervt, das war ja jetzt mal komisch, wir waren doch erst zwei Wochen zusammen, auch egal, ich setzte mich auf den überdachten Gang zur Turnhalle und suchte nach meinem Tabak, die Lehrer, die Pausenaufsicht hatten, standen irgendwo am Haupteingang, im Tabakbeutel war noch eine vorgedrehte Zigarette, eine Hand wuschelte mich am Nacken und Sabine setzte sich neben mich, „Tut mir leid,“ sagte sie lächelnd, sie hatte drei Strähnen ihrer schulterlangen Haare zu einem Zopf geflochten, an dessen Ende eine rote kleine Feder baumelte, „aber könntest du mir meine Kette wieder zurückgeben,“ ich zündete mir meine Zigarette an und zog mit der anderen Hand die Kette über den Kopf und gab sie hier, „Hier, bitte,“ sagte ich, sie nahm sie und verabschiedete sich.

Ich mußte an unseren ersten Kuss denken, der hatte auch hier stattgefunden, wir waren irgendwie ins Gespräch gekommen, ich glaube sie wollte Feuer für ihre Zigarette von mir haben, „Seit wann rauchst du,“ hatte ich sie gefragt, ich hatte mit 14 angefangen, sie auch, wir tauschten unsere ersten Erfahrungen mit dem Rauchen aus und verabredeten uns für die zweite Pause, sie trug einen selbstgestrickten Pullover, es war mein erster Kuss und ganz interessant, wir trafen uns auch nach der Schule, sie schielte ein bißchen, aber das war ok, ich war nicht im siebten Himmel, aber es war irgendwie gut, vielleicht hätte ich ihr auch ein Kettchen schenken sollen, Einfühlsamkeit war meine Stärke nicht, ich war wie benommen, war das alles real, ist das wirklich passiert, Vergänglichkeit stand auf einmal wie ein Dämon vor mir und bekicherte mich, drüben standen Alf, Socke und der Schlumpf, ich ging zu ihnen und hörte wie Alf sagte, „Wenn ich Schokolade esse und plötzlich tut mir der Zahn weh, dann schau‘ ich ja schließlich auch nicht die Schokolade an und sag: Du Sau, oder?“ Schlumpf und Socke lachten und Alf fuhr sich ein paarmal mit der Hand vorm Gesicht hin und her und sagte „Der ist ja total bescheuert,“ ich lachte mit, weil ich den Vergleich gut fand, es klingelte, wir blieben trotzdem noch ein bißchen stehen, „Kennt ihr den,“ sagte Socke, „Drei Gurken gehen bei Rot über die Straße. Warum,“ er machte eine kurze Pause und sah uns an, „Weil im Joghurt keine Gräten sind,“ er lachte schallend, wir grinsten breit, Alf sagte, „Kommt ein Mann zum Bäcker und sagt: Ich hätt’ gern sechs Brötchen, sagt der Bäcker: Nehmen Sie doch sieben, da ham Sie eins mehr,“ und wieder lachten wir, dann gingen wir betont langsam wieder ins Klassenzimmer.

Wir hatten Deutsch beim Mürgesberger, er war schon da und sammelte die Kurzinterpretationen ein, ich holte sie aus dem Aktenkoffer und legte sie auf den Stoß, der mir vom Nachbarn auf den Tisch geschoben wurde, ein sauberes Blatt Papier in Schönschrift beschrieben lag ganz oben, ich legte mein inzwischen leicht zerknittertes Blatt oben drauf, der durchgestrichene Satz stach wie eine schwärende Wunde hervor, genervt schob ich den Stoß weiter, wir saßen in fünf Reihen mit je vier Tischen, auf dem Stuhl wippen war unkritisch, weil es sowieso keinen Platz zum Fallen gab, ich sah aus dem Fenster, vierzig oder fünfzig Tauben waren wieder dabei, über den Pausenhof zu kreisen wie die Geier und stürzten sich schließlich auf die Krümel unserer Pausenbrote. Ich hörte die Stimme von Herrn Mürgesberger, der immer sehr gescheite Sachen zu sagen wusste und hoffte, dass er mich nicht ansprechen würde. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich, fast hätte ich geweint. Das Bild des Taubenschwarms, der fünf, sechs Male über den Hof kreiste, hatte sich tief in mir eingeprägt und wiederholte sich jetzt vor meinem inneren Auge. Es war ein sehr schönes Bild, sehr grazil, aber auch sehr fern, wie eine andere Welt, die sich nur über die Schnittstelle der Krümel mit der unsrigen berührte.

 

„Das Gedicht spiegelt das Selbstbewußtsein des Bürgertums wider,“ hörte ich Schwadron, „Den Mächtigen der damaligen Zeit, den Fürsten, wird ganz klar gesagt, dass sie ihre Herrschaft nicht beliebig ausdehnen können, sonst könnte es ein böses Erwachen geben,“ – „Ja,“ sagte Herr Mürgesberger, „Sehr gut, Heinz, was sagen Sie dazu?“ – „Ich sehe da durchaus Raum für Pessimismus,“ sagte Heinz, „Ja,“ sagte Herr Mürgesberger, „Inwiefern?“ – „Wenn wir die uns einmal von der platten Zuordnung lösen, dass mit dem Hecht und dem Hai einfach nur Mächtige und noch Mächtigere gemeint sind, dann kann auch das Übel gemeint sein, das wir in der Welt vorfinden und das von einem noch größeren Übel abgelöst werden kann, wenn sich die Lebenssituation ändert,“ Schwadron schüttelte den Kopf und sagte „Man muß doch die Kirche im Dorf lassen,“ Petra meldete sich, „Kann es sein,“ sagte sie, „dass der Zacharias oder wie der heißt einfach keinen Plan hatte, ich meine, ein Hecht schwimmt doch nicht ins Meer, wo gibt’s denn sowas?“ Schwadron lachte und schüttelte den Kopf, „Hey Erdbeer,“ rief Bert Simm, „Ich sag dir, was an dem Gedicht der Skandal ist, nämlich dass sich die Mächtigen nur ablösen in dem Gedicht und dass es keinen Widerstand gibt, das ist der Skandal an dem Gedicht.“ Er nickte bekräftigend mit dem Kopf, ich hatte keine Ahnung mehr, wie ich das Gedicht interpretiert hatte, „Otto,“ hörte ich Herrn Mürgesberger sagen, „was sagen Sie dazu?“ Ich schluckte und versuchte mich zu sammeln, „Also, äh, ich habe das so gesehen, dass mit Teich und mit Meer jeweils, äh, Lebenssituationen gemeint sind,“ aber das stimmte doch garnicht, fuhr es mir durch den Kopf, ich habe den Hecht doch als Abenteurer und Vagabund hingestellt, egal, im Unterricht kommen einem immer andere Ideen durch das, was die anderen sagen, „Die erste, äh, Lebenssituation hat der Hecht gemeistert, da ist er der Chef, also, äh, da kann er schon alles, aber als er sich nach einer, äh, schwierigeren Aufgabe umsieht, muß er sich erstmal geschlagen geben,“ faselte ich drauflos, Schwadron faßte sich an den Kopf, „Jetzt wird das Gedicht auch noch verunpolitisiert,“ jammerte er lautstark, er sah immer sehr zufrieden aus, selbst wenn nach Auskunft dessen, was er gerade von sich gab soeben die Welt unterging.

„Hast du schon gehört,“ flüsterte Socke mir zu, „Der Trompet hat in der Pause die Schlerr aus der zehnten genagelt, auf’m Klo,“ ich sah mich zu Peter Trompet um, der ganz hinten beim Tier und den anderen saß, er hatte ein Kinn, das es seinerzeit wohl auch getan hätte, als Simson die Philister mit dem Unterkiefer eines Esels erschlug, ein massives Ding, das er den Lehrern entgegenstreckte wie eine Festungsmauer. Die „Schlerr“ aus der 10d war eine Schülerin, die alle, die ihre akuten Phantasien in heterosexuelle Bahnen lenkten, schier in den Wahnsinn trieb mit ihrer zarten Haut, deren Wangen einen klitzekleinen roten Teint hatten, dazu ein Schönheitsfleckchen über dem rechten Mundwinkel, himmelblaue Augen, ein supersüßes Stupsnäschen, blonde, glatte Haare, die voll und trotzdem leicht über ihre zarten Schultern fielen, ein Gestell wie aus dem Bestellkatalog, ich mußte 19 werden, um diesen Ausdruck zu kapieren, und er, Peter Trompet, hatte sie, auf dem Klo, gerade eben, während ich über ein Kettchen flennte. Sofort stieg er in den Heldenstatus auf, die Armseligkeit meines Würstchendaseins katapultierte sich mit Wucht in mein Bewußtsein, ich hätte ihm gerne mit einer Ode gehuldigt, „Otto?“ fragte Herr Mürgesberger, ich hatte den Faden verloren, aber das war ja nichts Neues, leicht entgeistert starrte ich meinen Lieblingslehrer an, der sich kopfschüttelnd abwendete und etwas über historischen Kontext und die Gefahren des „Hineininterpretierens“ faselte, damit war ich gemeint, das Blut schoß mir nur so in den Kopf, heute war wieder so ein Scheißtag, mit einer einzigen Mark in der Hosentasche würde auch die Auszeit am Evel ein kurzes Intermezzo bleiben, nach der Schule war vor der Schule, es kam kein Entrinnen, ich verspielte meine Mark in weniger als fünf Minuten, Socke kam grade rein, als ich schon wieder rausging, er sah mich verwundert an, ich zuckte die Achseln, „Bis morgen,“ sagte ich noch, es war kalt, die Stadt war grau, ein Fahndungsplakat von den RAF-Terroristen klebte auf dem Schaufenster gegenüber, wie sollte man aufgrund solcher Fotos eigentlich überhaupt jemanden erkennen?

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