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Menschliche Stimme, Atem und Identität

Ein weiterer Grund, warum Kommunikation ein solch heikles Terrain ist, hat damit zu tun, wie sich unser Hören entwickelt hat. Unsere Ohren sind auf eine sehr spezifische Bandbreite an Klängen eingestellt und reagieren besonders sensibel auf einen engen Frequenzbereich: die menschliche Stimme. (Die Ohren vieler Tiere sind ebenfalls auf einen bestimmten Klangbereich eingestellt. Die Gesänge der Wale in den Meeren oder das tiefe Grummeln von Elefanten finden in Frequenzen statt, die für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar sind.) Kennen Sie das: Sie hören, wie jemand in lautes Gelächter oder auch in Schluchzen ausbricht, und verspüren einen unbestimmten, aber heftigen Drang herauszufinden, was los ist? Oder waren Sie schon einmal vom Geheul einer Herde Kojoten irritiert, das der menschlichen Stimme so ähnlich ist, dass man es kaum unterscheiden kann?

Hier sind zehntausende Jahre Evolution am Werk. Um für unseren Nachwuchs zu sorgen und unsere Sippe zu schützen, hat sich die Architektur unseres Innenohrs so entwickelt, dass es ganz präzise auf die menschliche Stimme eingestellt ist und den Klang eines Menschen in Not sofort erfasst.9 Erinnern Sie sich, dass Babys zunächst nur durch Lächeln oder Weinen kommunizieren? Die Konditionierung, auf diese Signale zu reagieren, ist tief in uns eingegraben.

Wenn wir einander zuhören, wird genau diese Architektur beansprucht, daher reagieren wir darauf in zwei potenzielle Richtungen. Das Hören der menschlichen Stimme kann die im Nervensystem angelegten Mechanismen Kämpfen, Flüchten oder Erstarren aktivieren oder aber das (nach Stephen W. Porges) sogenannte »Social Engagement System«,10 das bewirkt, dass wir uns beruhigen und uns verbunden fühlen.

Der physiologische Vorgang des Sprechens trägt seinerseits dazu bei, dass Worte so aufgeladen sein können. Wir Menschen erzeugen Sprache, indem wir einen Luftstrom über den Kehlkopf und die Stimmbänder lenken. Unsere Worte werden auf einer Atemwelle getragen, demselben Atem, der die Zellen unseres Körpers mit Sauerstoff versorgt, vom Moment unserer Geburt bis zum Augenblick unseres Todes. Lassen Sie das einen Moment auf sich wirken: Wir nutzen denselben physiologischen Vorgang zum Sprechen wie zum Aufrechterhalten unserer Lebensenergie.

Es geht sogar noch weiter. Unser Atem (und damit unser Sprechen) steht mit dem Nervensystem in einer engen wechselseitigen Beziehung: Verändert sich etwas auf der einen Seite, wirkt sich das auch auf die andere aus. Wenn wir aufgeregt, ängstlich oder aggressiv sind (verschiedene Arten sympathischer Aktivierung), beschleunigt der Atem. Sind wir entspannt, ruhig oder fühlen uns wohl (verschiedene Arten parasympathischer Deaktivierung), wird unser Atem langsamer und tiefer.

Das liegt zum Teil an der besonderen Rolle der Atmung im autonomen Nervensystem, das die grundlegendsten Funktionen unseres Körpers reguliert.11 Die Atmung vollzieht sich sowohl willentlich als auch unwillentlich; sie funktioniert automatisch, lässt sich aber auch durch den Willen steuern. Beim Sprechen manipulieren wir den Atem bewusst und absichtsvoll.

All das ist für unser Training in achtsamer Kommunikation bedeutsam. Wenn wir die Beziehung zwischen unserem Atem, unseren Worten und unserem mental-emotionalen Zustand verstehen, können wir unsere Erfahrung und unseren Selbstausdruck besser steuern. An einigen Stellen in unserer Erkundung werde ich Anregungen geben, wie Sie das bewusste Atmen dazu nutzen können, die Aufmerksamkeit eines Zuhörers zu halten, mit intensiven Gefühlen umzugehen und in angespannten Situationen inneren Halt zu finden.

Auf dieser Physiologie beruht die komplexe Verbindung zwischen dem Atem, der Stimme und unserem Identitätsgefühl. Unsere Stimme ist einer der intimsten und persönlichsten Aspekte unserer selbst. Für die meisten Menschen ist sie das wichtigste Ausdrucksmittel, eine Art akustische Unterschrift, an der man uns erkennen kann. Von all den Dingen, die sich im Laufe des Lebens wandeln – unser alternder Körper, unser verwitterndes, faltiges Gesicht –, ist es ab dem Erwachsenenalter die Stimme, die sich am wenigsten und am langsamsten verändert. Das Gefühl dafür, wer wir sind, hängt oft sehr eng mit unserer Stimme zusammen.

Überlegen Sie einmal, womit andere uns außer unserer Stimme typischerweise noch identifizieren: Eines der wichtigsten Erkennungsmerkmale ist der Vorname – ein Wort, das repräsentiert, wer ich bin. In Konflikten sind es oft die Angriffe auf unsere Identität oder unser Selbstbild, die uns besonders treffen und mit denen wir nicht gut umgehen können.

Zusätzlich zu diesen tief verwurzelten physiologischen und psychologischen Komponenten der Kommunikation spielen auch Gefühle, soziale Schicht, Kultur und weitere verborgene Variablen eine Rolle bei den so alltäglichen Aktivitäten des Sprechens und Zuhörens. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Ebenen ein einfaches Gespräch hat, ist es kein Wunder, dass Kommunikation uns so nahegeht.

Ein multidimensionales, ganzheitliches Erleben

Menschliche Kommunikation ist mehr als der bloße Austausch von Worten. Es ist ein multidimensionales, verkörpertes, lebendiges Erleben, das unser gesamtes Sein umfasst: unsere Gefühle, Gedanken, Erinnerungen und unsere Geschichte. Es ist zugleich verbal, mental, emotional und somatisch.

Zur Kommunikation gehört die Art und Weise, auf die wir unsere Stimme gebrauchen – Tonfall, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit. Sie umfasst Körpersprache und Berührung. Wir kommunizieren auch durch unser Schweigen: durch das, was wir nicht sagen, oder durch die Pause zwischen den Worten. Sie umfasst unseren inneren Dialog: wie wir denken und mit uns selbst sprechen. Selbst unsere soziale Konditio­nierung und Kulturgeschichte sind in unseren Interaktionen präsent.

In der Kommunikation gibt es auch ein tief verwurzeltes somatisches Element: die Vibration der Worte und die Physikalität des subjektiven Erlebens. Kommunikation ist dynamisch und permanenter Veränderung unterworfen. Kommunikation erfordert, dass wir uns auf unsere innere und äußere Welt einstimmen und uns ständig neu auf den gegenwärtigen Moment einstellen.

Kommunikation ist ganzheitlich; sie überschreitet alle Grenzen in unserem Leben. Wir mögen unsere Zeit einteilen, unser Leben in private, soziale und berufliche Bereiche untergliedern, aber diese Unterscheidungen sind relativ. Wir haben nur ein einziges Leben. Die verschiedenen Rollen, die wir spielen – Elternteil, Kind, Freund, Lehrerin, Schüler, Angestellte –, sind miteinander verbundene Facetten eines einzigen, ganzen Menschen. Wir mögen in verschiedenen Situationen unterschiedlich sprechen oder handeln, aber die grundlegenden Programme, die dabei ablaufen, sind doch dieselben.

Wir können diese ganzheitliche Natur zu unserem Vorteil nutzen; Veränderungen in einem Bereich können sich auf die anderen Kontexte unseres Lebens übertragen. Viele meiner Workshop-Teilnehmer haben bei ganz einfachen Übungen bedeutsame Einsichten in grundlegende Muster in ihrem Leben. Bei einem Retreat wurde beispielsweise einer Frau in einer Übung zum Innehalten klar, wie sehr ihr Sprechen von einer subtilen Angst angetrieben war. Das Innehalten half ihr, ihre Worte sorgfältiger auszuwählen und sich nach ihren Beweggründen zu fragen.

Wenn wir neue Kommunikationsweisen erlernen, haben wir es mit diesem ganzen tiefgründigen, vielschichtigen Terrain zu tun, samt all der jahrelang angelegten Konditionierung, die wir in uns tragen. Um an diesen Kommunikationsgewohnheiten nachhaltig etwas zu verändern, ist es hilfreich, kleine schrittweise Veränderungen vorzunehmen, die wir auch beibehalten können.

Prinzip: Da Kommunikation ein sehr komplexes Phänomen ist, gelingt die Transformation am leichtesten durch kleine, aber stetige Veränderungen.

Menschen sind komplexe lebende Systeme. In komplexen Systemen kann eine kleine Veränderung weitreichende Wirkungen haben. Es ist vergleichbar mit der Steuerung eines Frachtschiffs auf dem Meer. Ein solch großes Schiff in voller Fahrt kann keine abrupten Wendemanöver vollziehen. Doch selbst eine Kurskorrektur von einem oder zwei Grad führt, wenn sie beibehalten wird, das Schiff mit der Zeit in eine völlig andere Richtung.

Unsere Sprache und unseren Geist schulen

Wenn man sich die enormen Dimensionen menschlicher Kommunikation vor Augen führt, kann das Vorhaben, sich neue Gewohnheiten zuzulegen, ziemlich einschüchternd wirken. Wie können wir effektiv auf etwas einwirken, das so elementar ist wie die grundlegenden Muster, mit denen wir der Welt begegnen?

Glücklicherweise haben wir alles, was wir brauchen, damit das gelingen kann: die Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaft und Psychologie, eine klare Methode und eine Stütze, um das Wissen in die Praxis umzusetzen. Die Methode besteht in unserem Drei-Schritte-Training in Präsenz, Intention und Aufmerksamkeit. Die Stütze ist Achtsamkeit, unsere Fähigkeit zu beständigem Gewahrsein und klarem Sehen.

Die Notwendigkeit, unsere Muster zu transformieren, steht außer Frage. Wenn wir sinnvoller leben und zusammenarbeiten wollen, um den radikalen Veränderungen zu begegnen, die sich auf der Erde abspielen, sei es in der Politik, der Wirtschaft oder der Umwelt, müssen wir lernen, einander wirklich zu hören und erfolgreicher zu kommunizieren.

Im Verlauf dieses Buches werde ich Sie ermutigen, Ihr Denken, Zuhören und Sprechen genauer zu untersuchen, mit dem Ziel, kleine ­Veränderungen in Ihrem Verständnis und Ihren Gewohnheiten zu erreichen. Und wenn es Ihnen gelingt, diese Veränderungen beizubehalten, werden sich Ihre Sprache, Ihre Beziehungen und Ihr Leben auf Dauer verwandeln.

 

Prinzipien

Da Kommunikation ein sehr komplexes Phänomen ist, gelingt die Transformation am leichtesten durch kleine, aber stetige Veränderungen.

Die wichtigsten Punkte

Im Gespräch präsent zu bleiben kann aus mehreren Gründen herausfordernd sein:

Wir sind nicht darin geübt.

Es bringt uns in Kontakt mit unserer Verletzlichkeit.

Es kann evolutionär bedingte Schutzmechanismen auslösen.

Bei Primaten kann Blickkontakt Aggression signalisieren.

Das Hören der menschlichen Stimme kann beruhigend oder auch bedrohlich wirken.

Verbale Kommunikation ist mit der Atmung, dem Nervensystem und dem Identitätsgefühl verbunden.

Kommunikation ist multidimensional und ganzheitlich. Sie umfasst:

 einen sprachlichen Informationsaustausch,

 nonverbale Kommunikation,

 unseren inneren Dialog,

 unser emotionales Erleben,

 unser somatisches, verkörpertes Erleben und

 persönliche, psychologische, soziale und kulturelle Konditionierung.

Fragen und Antworten

Mir fällt es leichter, präsent zu bleiben, wenn ich spreche, und schwerer, wenn ich zuhöre. Ist das normal?

Das ist bei jedem anders. Ich finde es faszinierend, dass sich Präsenz für manche Menschen im rezeptiven Modus natürlicher anfühlt, für andere hingegen im expressiven. Wenn Sie darauf achten, bemerken Sie vielleicht sogar, dass es unterschiedlich ist, je nachdem, mit wem Sie gerade sprechen. Betrachten Sie dies einfach als nützliche Information. Wir können an unsere Stärken anknüpfen und die Fähigkeit entwickeln, gleichermaßen präsent zu sein, wenn wir sprechen und wenn wir zuhören.

Sie haben vom Innehalten gesprochen. Ich glaube, dass ich das in den meisten Gesprächen nicht könnte. Ich fürchte, dann würde ich gar nicht mehr zu Wort kommen!

Das Vertrauen in unsere eigene Stimme, also das Vertrauen, dass wir Raum einnehmen und unsere Meinung sagen dürfen, ist sehr wichtig. Alle Kommunikationsmethoden sollten diese Art innere Gelassenheit fördern. Eine bewusste, längere Pause ist meist eher in Übungssituationen passend. Vielleicht gibt es bestimmte Gespräche oder Beziehungen, in denen es funktionieren würde, eine längere Pause zu machen, aber generell ist es hilfreich, die Pausen kurz und weniger offensichtlich zu halten.

6 Unsere sozialen Institutionen sind von den Gedanken- und Wahrnehmungsmustern geprägt, die unsere Kommunikation bestimmen (und verstärken diese zugleich). Daher muss ein zentraler Bestandteil der Arbeit an der Transformation dieser Institutionen parallel die innere Arbeit sein, mit der wir unser Bewusstsein transformieren. Anderenfalls laufen wir Gefahr, genau die Systeme zu reproduzieren, die wir eigentlich ändern wollen.

7 Menschen sind soziale Geschöpfe, die sich viele Bedürfnisse in Gegenseitigkeit erfüllen. Im Laufe der Evolution lebten wir in kleinen Gruppen, die gemeinsam dafür sorgten, die Bedürfnisse der Sippe nach Schutzraum, Nahrung und Sicherheit zu erfüllen. Diese Ursprünge drücken sich auf vielfältige Weise aus. Während eines Menschenlebens verändert sich das Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit im Laufe der Zeit. Es ist wissenschaftlich klar belegt, dass Menschen nach der Geburt und in den ersten Lebensjahren ein physiologisches Bedürfnis nach Verbundenheit haben (sichere, gesunde menschliche Berührung und soziale Interaktion). Das Wachstum und die Entwicklung des menschlichen Gehirns und des Nervensystems hängen davon ab, dass wir kontinuierlichen Kontakt und soziale Interaktionen mit gesunden, gut regulierten Erwachsenen haben.Wenn wir älter werden, wird soziale Verbundenheit relevant für die Entwicklung von Empathie und emotionaler Intelligenz. Im Jugendalter zeigt sich dies psychologisch in der Herausbildung der Identität und der Entwicklung von Ich-Stärke sowie auch biologisch im Fortpflanzungstrieb. Im Erwachsenenalter bleibt die Relevanz des Bedürfnisses nach sozialer Verbundenheit in dieser Form bestehen (ergänzt durch die spirituelle Ebene, die Erkundung von Bewusstsein und der Subjekt-Objekt-Dualität) und führt zudem zu der Strategie zusammenzuarbeiten, um sich miteinander und gegenseitig weitere Bedürfnisse zu erfüllen, falls gewollt oder notwendig.

8 Als soziale Wesen haben wir feine Antennen für das, was unsere Nervensysteme uns über andere Menschen und über unsere Umgebung mitteilen. Soziale Interaktion kann das Nervensystem beruhigen oder aktivieren, je nach den Umständen und dem inneren Zustand der Beteiligten.

9 Schlüsselaspekte unserer Kommunikation werden vom vagalen System gesteuert (eine Nervenkonstellation, die den Vagus und den Trigeminus umfasst). Das Innenohr filtert irrelevante Geräusche heraus und stellt sich auf die menschliche Stimme ein; die Gesichtsmuskeln bringen Emotionen und andere Signale zum Ausdruck; der Kehlkopf steuert den Ton der Stimme und die Artikulation beim Sprechen. All das ist Teil des menschlichen Social Engagement System (SES), dem dritten Zweig des autonomen Nervensystem, einzigartig in seiner evolutionären Entwicklungsgeschichte wie auch in seiner neuronalen Architektur (siehe die beiden folgenden Anmerkungen).Diese Konzepte stammen aus der bahnbrechenden Polyvagal-Theorie von Stephen Porges. Siehe Porges, Stephen W.: Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung, Paderborn: Junfermann 2010 (orig. The Polyvagal Theory. Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-Regulation, New York: W. W. Norton 2011).

10 Vgl. Porges, Stephen W.: »Neuroception: A Subconscious System for Detecting Threats and Safety«, Zero to Three 24 (5), 2004, S. 19–24. Siehe auch die vorangegangene und die folgende Anmerkung.

11 Ursprünglich hat man zwei Äste des autonomen Nervensystems unterschieden: den sympathischen Zweig, der für die grundlegende physiologische Homöostase und den Kampf-oder-Flucht-Mechanismus verantwortlich ist, und den parasympathischen Zweig, verantwortlich für die Körperfunktionen des Ausruhens und Verdauens. Sympathische Aktivierung leitet Energie in den Körper, um ihn handlungsfähig zu machen, reguliert Funktionen wie den Herzschlag und bereitet ihn darauf vor, Gefahren zu begegnen. Der parasympathische Zweig bremst den Fluss dieser Energie und unterstützt uns, uns zu entspannen, abzuschalten und die Erregung der sympathischen Aktivierung zu drosseln. (Porges’ Polyvagal-Theorie geht von einem dritten Zweig des autonomen Nervensystems aus: dem »Social Engagement System«, das ebenfalls zum Parasympathikus zählt.)

2
Die Kraft der Achtsamkeit

»Es ist etwas Mysteriöses und Heiliges daran, lebendig zu sein. Es ist ein Gewahrsein über etwas, was zu wichtig ist, um es zu vergessen.«

Christina Feldman

Mein Vater wuchs in den Vierzigerjahren in einer Hütte auf, die aus einem einzigen Raum bestand. In Palästina, damals unter britischem Mandat, züchtete seine Mutter Hühner, Ziegen und Hasen, während sein Vater Wände verputzte und einen Kiosk betrieb, in dem Zeitschriften, Süßigkeiten und frischer Saft angeboten wurden. Sie beide waren als Jugendliche in der Hoffnung auf ein besseres Leben aus Belarus und Polen gekommen. Als ältestes von drei Kindern wurde mein Vater mit dreizehn Jahren in einen Kibbuz geschickt, damit es in der Familie »ein Maul weniger zu stopfen« gab.

Erst kürzlich erzählte er mir, wie er in den ersten Wochen, die er im Kibbuz verbrachte, jeden Abend in seinem Zimmer stand und zusah, wie die Sonne über den Feldern unterging. Er erzählte, wie schön diese Sonnenuntergänge gewesen seien und wie friedlich er sich dabei gefühlt habe. »Ein paar Monate später schaute ich zufällig auf, als ich gerade in meinem Zimmer war, und stellte fest, dass die Sonne unterging. Ich hatte aufgehört, sie wahrzunehmen.« Er hielt inne und wurde still. »Das beschäftigt mich seither. Wie kommt es, dass ich aufgehört hatte, den Sonnenuntergang wahrzunehmen?«

Einen Großteil unserer Zeit sind wir nicht wirklich hier; wir sind nicht mit unseren Sinnen und der unmittelbaren Erfahrung unserer Lebendigkeit verbunden. Unsere Aufmerksamkeit ist woanders, wir denken an die Vergangenheit oder die Zukunft – planen, machen uns Sorgen, erinnern uns, bedauern. Die Geschichte meines Vaters erzählt von einem Schlüsselmoment, den wir in ähnlicher Form alle immer wieder erleben – wenn wir bemerken, dass wir nicht in voller Bewusstheit leben, was machen wir dann damit?

Den Boden für die zwischenmenschliche Verbindung bereiten

Achtsamkeit gibt uns unser Leben zurück. Sie lässt uns die Schönheit eines Sonnenuntergangs genießen, das Wunder eines alten Baums oder das Mysterium und das Glück, das in der Nähe zu einem anderen Menschen liegt. In solchen Erlebnissen sind wir mit ganzem Herzen anwesend. Die Kraft ihrer Intensität erzeugt einen Zustand natürlichen Gewahrseins, in dem wir ganz tief da sind, verbunden mit uns selbst und unserem Umfeld.

Dieser Zustand achtsamer Präsenz steht uns jederzeit offen. Er bereichert alltägliche Erlebnisse, sei es die Zubereitung einer Mahlzeit, ein Gespräch mit einem Familienmitglied oder das Gefühl von Morgenluft auf der Haut. Er lässt uns das Leben wertschätzen und die schwierigen Zeiten leichter durchstehen.

Wie ich bereits sagte, spielt achtsame Präsenz auch in der Kommunikation eine wichtige Rolle, und zwar schlicht und einfach deswegen, weil wir zuallererst einmal da sein müssen, um überhaupt etwas zu verstehen. Haben Sie schon einmal probiert, sich mit jemandem zu unterhalten, der gerade in Gedanken woanders war? Oder erlebt, wie jemand mitten in der Unterhaltung sein Smartphone zückte? (Oder sich selbst dabei ertappt, während eine Unterhaltung sich dahinschleppte?) Wie oft haben Sie sich gestritten, einfach nur, weil einer der Beteiligten nicht zugehört hat? Oder den Mund nicht halten konnte? Viele der S­­­chwierigkeiten, die in Gesprächen entstehen, lassen sich schon allein dadurch vermeiden, dass wir entschleunigen und präsenter sind.

Gewahrsein ist natürlich noch sehr viel mehr als nur eine Voraussetzung für Verständigung. Präsenz schafft den Boden für die Verbindung von Mensch zu Mensch. Wir spüren es, wenn jemand bei der Sache ist und zuhört. Präsenz ist einladend. Sie gibt anderen Raum und öffnet ihnen die Tür, um sich auf uns einzulassen. Diese Art von Gewahrsein im gegenwärtigen Moment ist die Grundlage für gelingende, heilsame Gespräche. Ist es nicht vorhanden, funktionieren wir bestenfalls im Autopilotmodus, und es kann passieren, dass wir unbeabsichtigt Samen der Trennung säen. (Wenn wir nicht achtsam sind, sind wir wahrscheinlich achtlos.)

Prinzip: Präsenz schafft die Basis für die Verbindung von Mensch zu Mensch.

Die Ironie ist, dass es nicht mal unbedingt zusätzlicher Anstrengung bedarf, achtsam zu sein. Auf lange Sicht gesehen, stellen wir vielleicht sogar fest, dass Achtsamkeit unsere Energiereserven schont, verglichen damit, wie viel Energie wir vergeuden, wenn wir achtlos sind.

Wie oft nehmen wir uns die Zeit, ein Gespräch damit zu beginnen, dass wir der anderen Person mit Präsenz begegnen? Wir rasen durch den Tag, wir hetzen in eine Unterhaltung, und dann wundern wir uns, warum wir immer wieder aneinandergeraten. Wie wäre es stattdessen, von einem Ort des klaren, geerdeten Selbstgewahrseins aus zu beginnen? Gesammelt und respektvoll in den Kontakt mit einem anderen Menschen hineinzugehen?

Mit Präsenz zu beginnen ist der erste Schritt zu gelingenden Gesprächen; es ist eine reichhaltige und tiefe Praxis mit vielen Dimensionen. Das Wichtigste dabei ist, dass wir Gespräche aus der Einfachheit und Kraft unserer eigenen Präsenz initiieren.

Mit Präsenz zu kommunizieren, bedeutet auch, dass wir während des Gespräches das Gewahrsein aufrechtzuerhalten versuchen. Es ist ein fortwährender Prozess, in dem wir immer wieder zur Präsenz zurückkehren und so gut wie möglich bewusst zuhören und sprechen. Dazu in der Lage zu sein erfordert Übung, insbesondere in der Hitze eines schwierigen Gesprächs. Haben wir diese Fertigkeit erst einmal entwickelt, erinnert unser Nervensystem sich von selbst daran, gegebenenfalls in die Präsenz zurückzufinden. Wie ein Kreisel, der in sein Zentrum zurückkehrt, bemerken wir es schneller, wenn wir im Autopilotmodus oder in einer Reaktion stecken geblieben sind, und richten uns wieder neu aus.

 

Was also ist achtsame Präsenz? Einfach gesagt bedeutet Achtsamkeit zu erkennen, was jetzt gerade passiert, auf eine ausgeglichene und nichtreaktive Weise. Sie ist wie das scharfe, beobachtende Auge einer Naturwissenschaftlerin, die ihr Objekt geduldig, mit Klarheit, Interesse und Staunen studiert.

Achtsamkeit bedeutet, sich auf eine ausgeglichene, nichtreaktive Weise gewahr zu sein, was im gegenwärtigen Moment geschieht.

Achtsamkeit ist kein rein mentaler Vorgang. Es ist ein intimes, verkörpertes Gewahrsein der Fülle des Lebens: Empfindungen, Gefühle, Klänge, Bilder. Da die Tendenz besteht, Achtsamkeit mit einer mentalen Übung zu assoziieren, verwende ich den Begriff »Präsenz« zur Beschreibung der Erfahrung achtsamen Gewahrseins.12

Um Ihnen einen Geschmack davon zu vermitteln, wovon ich hier spreche, lassen Sie uns ein einfaches Experiment machen.