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Übung: Entscheidungspunkte nutzen

Wählen Sie zum Üben jemanden aus, in dessen Gegenwart Sie sich wohlfühlen. Vertrautheit macht es einfacher, etwas zu lernen. Nehmen Sie während des Gesprächs wahr, wann Sie sich zum Sprechen entscheiden. Falls Sie feststellen, dass Sie reden, ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, versuchen Sie, innezuhalten und der anderen Person Raum zu geben. Achten Sie darauf, wie es ist, sich bewusst dafür zu entscheiden, etwas zu sagen, anstatt dies automatisch zu tun. Achten Sie insbesondere auf Gefühle von Dringlichkeit, Widerstand oder innerem Druck. Nutzen Sie diesen Druck als Signal, eine bewusstere Entscheidung zu treffen.

Meetings

Im Zusammensein mit mehreren Menschen fühlt man sich meist freier, nichts zu sagen, als in einem Gespräch unter vier Augen. Wenn Sie das nächste Mal in einem Meeting sind, achten Sie darauf, wie der Impuls zu sprechen im Verlauf des Gesprächs stärker und schwächer wird. Wenn Sie etwas Wichtiges sagen möchten, entscheiden Sie sich, wann Sie das tun möchten. Sie können immer mit dem Satz beginnen: »Ich würde gern noch einmal auf etwas zurückkommen, worüber wir vorhin gesprochen haben.« Nehmen Sie wahr, wie Sie sich fühlen, nachdem Sie gesprochen haben. Verspüren Sie Erleichterung, Ängstlichkeit, Selbstzweifel?

Schriftliche Kommunikation

Experimentieren Sie damit, sich bewusst zu entscheiden, wann Sie Ihren Nachrichteneingang oder die sozialen Medien öffnen (also »zuhören«). Bevor Sie auf eine Nachricht antworten, halten Sie inne und überlegen, ob Sie »sprechen« möchten oder nicht. Ist es der richtige Zeitpunkt? Wäre es hilfreich, zu warten oder einfach gar nichts zu sagen?

Sinn dieser Übung ist es, unsere Muster kennenzulernen. Sprechen wir meistens entspannt und frei? Fällt es uns eher schwer, den anderen Raum zu lassen? Fühlen wir uns wohler, wenn wir zuhören können, und haben wir Schwierigkeiten, uns zu Wort zu melden?

Bei den meisten von uns liegt die Stärke auf der einen oder der anderen Seite. Umstände und Ereignisse, die mit unserem Geschlecht, unserer ethnischen Zugehörigkeit, unserer sozialen Schicht oder anderen soziokulturellen Merkmalen zu tun haben, prägen auch, wie wir uns in Beziehungen verhalten. Uns allen wurde vermittelt, welches Verhalten von uns erwartet wird – explizit und implizit, persönlich wie auch durch die Medien, verschiedene Narrative und unsere Kultur. Durch Signale der Anerkennung oder der Missbilligung, durch Zugehörigkeit oder Ausschluss lernen wir, basierend auf unserer Rolle und den Erwartungen der anderen, was das Sicherste ist.

Unsere Aufgabe besteht nun darin, diese Muster aufzudecken und eine authentische Freiheit im Ausdruck zu entwickeln. Es gibt dabei kein Ideal, nicht die eine Option, die unter allen Umständen zu wählen wäre. Das Ziel ist eher, durch Präsenz in eine dynamische Flexibilität zu finden, sodass wir entscheiden können, ob es gerade eher angebracht ist, zu sprechen oder zuzuhören.

Die Macht des Tempos: Innehalten

Wenn ich nur eine einzige Methode empfehlen könnte, um Präsenz zu üben, dann wäre es das Innehalten. Der Raum, der entsteht, wenn wir innehalten, kann eine gewaltige Optimierung bewirken. Einer meiner Kollegen bringt inhaftierten Jugendlichen Meditation bei. In seinen Kursen erzählt er eine Geschichte über seine Arbeit in Gefängnissen. Er fragte die männlichen Delinquenten, wie lange sie einsitzen müssen, und oft summierten sich ihre Strafen zu weit über hundert Jahren auf. Dann fragte er: »Wie lange habt ihr über das Verbrechen, das euch hierhergebracht hat, nachgedacht, bevor ihr es begangen habt?« ­Zusammengenommen waren es oft weniger als zwei Minuten. Angesichts dieser enormen Unverhältnismäßigkeit erklärt mein Kollege den Jugendlichen: »Achtsamkeit hilft euch, zwischen einem Impuls und eurer Reaktion innezuhalten, sodass ihr mehr Entscheidungsfreiheit habt, was ihr mit eurem Leben anfangen wollt.«

Das Innehalten ist reich an Möglichkeiten. In einem Atemzug können wir Gedanken, Gefühle und Impulse wahrnehmen und entscheiden, welchen davon wir folgen wollen. Es ist wie eine Meditation im Kleinformat, ein Tropfen Präsenz, der uns hilft, klar und ausgeglichen zu bleiben. Was im Raum des Innehaltens geschieht, ist offen. Wir können unsere Aufmerksamkeit im Körper erden oder innere Spannungen lösen, zu einer bestimmten Intention zurückkehren, mit unseren Gefühlen so umgehen, dass sie nicht auf ungünstige Weise aus uns hervorbrechen, oder uns im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Gesprächs gedanklich sammeln.

Innehalten ist sowohl eine Unterstützung für als auch ein natürlicher Ausdruck von achtsamer Präsenz. Je mehr ich meines Körpers gewahr bin, desto eher kann ich Erregung in meinem Nervensystem und die damit einhergehenden Veränderungen in meinem Sprechtempo oder meiner Lautstärke wahrnehmen. Ich kann mit dieser Welle von Energie mitgehen (und zum Beispiel Begeisterung oder Frustration ausdrücken) oder auf die Bremse treten. Ähnlich wie bei den Entscheidungspunkten geht es nicht darum, monoton, flach oder immerzu ganz ruhig zu sprechen, sondern vielmehr Geschick und Kompetenz in vielen verschiedenen Situationen zu entwickeln.

Die Pause ist flexibel, die Länge ist von der Situation abhängig. Man kann auch eine Mikropause machen: eine kaum wahrnehmbare Lücke im Sprechfluss, die einem gerade genug Zeit gibt, die Aufmerksamkeit im Körper zu erden oder sich noch einmal auf die eigene Intention auszurichten.

Übung: Innehalten

Wenn Sie einen Übungspartner für dieses Buch haben, stellen Sie einen Timer auf fünf Minuten, und sprechen Sie über etwas, was Sie kürzlich getan haben und Ihnen Spaß gemacht hat. Versuchen Sie beide, einen Atemzug innezuhalten, bevor Sie anfangen zu sprechen. Probieren Sie aus, in einem Satz oder zwischen zwei Gedanken einen Atemzug lang innezuhalten. Bringen Sie während der Pause Ihre Aufmerksamkeit zu einem Bezugspunkt im Körper oder zu Ihrer gesamten Präsenz.

Dadurch wird sich das Tempo des Gesprächs deutlich verlangsamen, und wahrscheinlich wird es sich unnatürlich anfühlen. Es ist eine Übung, bei der Sie damit experimentieren, innezuhalten und bewusst in die Präsenz zurückzukehren, in etwa so, als würde man beim Tennis den Aufschlag in Zeitlupe üben.

Sie können auch damit experimentieren, in weniger wichtigen Gesprächen bewusste Pausen zu machen. Probieren Sie aus, einen Atemzug lang zu pausieren, bevor Sie sprechen oder antworten, und auf diese Weise Ihre Aufmerksamkeit zu sammeln und im Körper zu erden. Das heißt nicht, dass Sie sich seltsam benehmen oder lange, tiefe Atemzüge nehmen müssen! Verlangsamen Sie einfach ein wenig Ihre Rede, und halten Sie inne, um sich zu besinnen.

Probieren Sie das Ganze auch etwas weniger offensichtlich aus, und halten Sie einige Male inne – einen Moment lang, bevor Sie anfangen zu sprechen, oder einen Herzschlag lang zwischen zwei Gedanken. Wie wirkt sich das auf Ihren inneren Zustand aus? Und auf die Qualität des Kontakts?

Innehalten ist nicht immer leicht. Selbst wenn wir uns daran erinnern, kann es schwer sein, Raum in einem Gespräch zu schaffen, zumindest auf eine üblicherweise akzeptierte Art. Vielleicht machen wir uns Sorgen, dass wir dann nicht mehr zu Wort kommen oder desinteressiert wirken. Hier sind einige Möglichkeiten, wie Sie eine Pause einlegen und dies signalisieren können:

 Nehmen Sie einen tiefen, hörbaren Atemzug (betonen Sie die Ausatmung).

 Signalisieren Sie die Pause mit einem kurzen Laut, dass Sie nachdenken, etwa: »Hm …«

 Signalisieren Sie die Pause mimisch, etwa indem Sie nach oben und zur Seite schauen oder die Stirn runzeln.

 »Ich weiß es nicht genau. Ich würde gern darüber nachdenken.«

 »Lass mich einen Augenblick darüber nachdenken.«

 »Können wir eine kurze Pause machen? Ich würde gern meine Gedanken sammeln.«

 »Ich würde wirklich gern genauer darüber nachdenken. Kann ich dich später noch mal darauf ansprechen?«

Falls alles andere nicht funktioniert, schaffen Sie eine Ablenkung. Wenn Sie in einem Restaurant oder in einer Besprechung sind, entschuldigen Sie sich, und gehen Sie auf die Toilette. Ich habe sogar von jemandem gehört, der seine Schlüssel oder etwas Kleingeld fallen lässt, um im Gespräch eine Pause zu erzeugen! Werden Sie so kreativ wie notwendig, um Zeit zu gewinnen und in die Präsenz zurückzukehren.

Manchmal brauchen wir eine längere Pause. Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass die Umstände nicht günstig für ein gelingendes Gespräch sind, können wir auch für einen Tag, eine Woche oder noch länger Pause machen. In diesem Fall ist es wichtig, wie wir das ankündigen. Wenn wir einfach nur sagen: »Ich kann gerade nicht darüber sprechen«, müssen unsere Gesprächspartner allein herausfinden, wie sie unser Verhalten interpretieren sollen. Vielleicht denken sie, dass es uns nicht interessiert, dass es uns egal ist oder dass wir ihnen aus dem Weg gehen. Um die Chancen zu erhöhen, dass die Pause produktiv ist, müssen wir mitteilen, welche Beweggründe wir haben. Hier sind einige Beispiele:

 »Ich würde unser Gespräch gern fortführen, aber ich bin im Moment nicht in der besten inneren Verfassung dafür. Können wir eine Pause machen und … (morgen, das nächste Mal) darauf zurückkommen?«

 »Ich möchte wirklich gern hören, was du zu sagen hast, aber ich fühle mich ein bisschen überfordert. Daher glaube ich nicht, dass ich gut zuhören kann. Lass uns eine Stunde Pause machen, okay?«

 

 »Es ist mir wichtig, dass wir das gemeinsam klären, aber ich habe gerade nicht wirklich den Raum, um klar zu denken. Ich würde es gern bis … auf Eis legen. Wäre das in Ordnung?«

 »Ich möchte dieses Gespräch gern zu Ende führen, aber ich glaube nicht, dass ich im Moment noch etwas Sinnvolles zu sagen habe. Wie wäre es, wenn wir hier eine Pause machen und später darauf zurückkommen?«

Schauen Sie sich diese Beispiele genau an. Was haben sie gemeinsam?

Zunächst einmal beginnen sie mit der Intention, in Kontakt zu kommen (der zweite Schritt zu einem gelingenden Gespräch). Dadurch verhindert man, dass die Pause als Zurückweisung oder Vermeidung interpretiert wird. Wir lassen die andere Person wissen, dass wir in unserem Wunsch nach einer Pause auf sie Rücksicht nehmen. Allerdings muss es authentisch sein. Finden Sie also Ihre eigenen Worte, um Ihre Wahrheit auszudrücken.

Außerdem übernehmen wir in allen Aussagen Verantwortung für unsere Begrenzungen und Wünsche. Wir machen deutlich, dass wir für unser eigenes Bedürfnis nach Raum handeln und nicht etwa die andere Person beschuldigen.

Und schließlich enden alle Aussagen mit der Bitte, das Gespräch später fortzuführen, was hilfreich ist, um die Angst davor zu verringern, wie es weitergeht. Je genauer wir sagen können, wann wir weitersprechen wollen, desto besser ist das.

Wenn wir wahrnehmen, wann wir Pausen machen (und wann nicht), stimmen wir uns auf das Tempo eines Gesprächs ein. Dies kann ein sehr reichhaltiges Forschungsgebiet sein und eine wirkungsvolle Möglichkeit, Präsenz zu üben. Da Sprache durch die Atmung entsteht und der Atem unmittelbar mit dem Nervensystem verbunden ist, spiegelt unser Sprechtempo oft ganz direkt unseren inneren Zustand wider. Es ist faszinierend, dass umgekehrt eine Veränderung in unserem Sprechtempo auch unseren inneren Zustand verwandeln kann.

Übung: Das Tempo regulieren

Nehmen Sie wahr, wann und wie die Geschwindigkeit in Gesprächen variiert. Bei welchem Tempo fühlen Sie sich am ehesten wohl, selbstsicher und entspannt? Wann ist es langsam und konstant? Wann wird es schneller oder eilig? Können Sie entscheiden, wie schnell oder langsam Sie sprechen? Wie wirkt sich Ihr Tempo auf den Ton der Unterhaltung aus?

Experimenten Sie bei einem Gespräch, bei dem es um nichts allzu Großes geht. Variieren Sie Ihr Sprechtempo. Werden Sie ein wenig schneller, und nehmen Sie wahr, welchen Effekt das auf Ihren Körper, Ihre Gedanken und Ihre Energie hat. Verlangsamen Sie etwas. Wie wirkt sich das auf den Zustand Ihres Geistes und Ihres Körpers aus? Und wie auf die Qualität des Kontakts zu Ihrem Gegenüber?

Selbst wenn wir nur ein wenig verlangsamen, hilft uns das für gewöhnlich dabei, mit Präsenz zu beginnen. Das gilt besonders in Konfliktsituationen, in denen das Tempo oft rasanter wird. Wenn wir die Geschwindigkeit in solchen Situationen wieder drosseln, wirkt das beruhigend auf unser Nervensystem.14

Wenn wir in einem entspannten Tempo sprechen, kann uns das auch dabei helfen, unseren Raum in einem Gespräch einzunehmen, und es macht es dem Zuhörenden leichter, das Gesagte auf sich wirken zu lassen. Wenn wir selbstsicher und selbstbewusst sind, sprechen wir für gewöhnlich in einem gemächlichen Tempo. Es gibt keine Eile; wir vertrauen darauf, dass das, was wir zu sagen haben, wichtig und es wert ist, gehört zu werden. Wir atmen natürlich und frei, wir nehmen uns Zeit. Im Allgemeinen haben unsere Worte mehr Gewicht, wenn wir auf diese Weise sprechen, sie können die Aufmerksamkeit der Zuhörenden anziehen und halten.

Beachten Sie aber: Die eine, »richtige« Geschwindigkeit gibt es nicht. Die ideale Geschwindigkeit fördert unsere Präsenz und hilft, Verbindung zu schaffen, und sie kann je nach Umständen oder Kultur sehr unterschiedlich sein.

Reifer werden: Gegenseitige Präsenz

Mit Präsenz zu beginnen ist ein mit der Zeit heranreifendes, vielfältiges Erleben. Entwickeln wir es in uns, scheint sein Licht auch auf die Existenz des anderen. Je mehr ich mich selbst spüre, desto mehr werde ich mir meines Gegenübers bewusst. Diese Beobachtung ist so grundlegend, dass wir sie mitunter ganz selbstverständlich nehmen: Beziehung heißt per Definition, dass wir zu zweit sind! Wirklich in einem Dialog zu sein bedeutet, dass wir die andere Person als ein eigenständiges Individuum betrachten, mitsamt ihren eigenen Hoffnungen, Ängsten, Träumen, Wünschen, Freuden und Sorgen.

Auf Zulu gibt es einen traditionellen Gruß: Sawubona (»Wir sehen dich«). Orland Bishop, Leiter der ShadeTree Multicultural Foundation, erläutert: »Diesen Gruß beantwortet man mit Yabo sawubona (›Ja, wir sehen dich ebenfalls‹). Wenn sich zwei Menschen mit der Sawubona-Geste begegnen, erkennen sie an: ›Wir sehen einander.‹ Es wird zu einer Übereinkunft. Es ist eine Einladung, am Leben des anderen Anteil zu nehmen.«15 Können wir diese einfache, tiefgreifende Anerkennung der Gegenwart des anderen in unsere Gespräche mit einbeziehen?

Wir alle haben es schon einmal erlebt, selbst nicht gesehen zu werden oder jemand anderen völlig zu übersehen. Es fühlt sich so an, als redete die andere Person »an einem vorbei« anstatt »mit einem« oder als spräche man selbst zu einer Wand. Mangel an Gegenseitigkeit bedeutet auch Abwesenheit von Präsenz; so wird der Dialog zum Monolog. Kennzeichen sind dieser leere Blick des Kassierers oder die mechanisch wirkende monotone Stimme der Frau vom Kundenservice.

Wir verlieren die Gegenseitigkeit aus vielen Gründen. Es kann ­passieren, wenn wir uns im Autopilotmodus befinden. Oder auch, wenn wir besonders leidenschaftlich für eine Sache brennen. Oder ängstlich, verärgert oder wütend sind. Tragischerweise verlieren wir die Gegenseitigkeit mit jenen Freunden und Angehörigen, die wir jeden Tag sehen. Sie werden uns so vertraut, dass wir sie nicht länger wahrnehmen.

Ohne gegenseitige Präsenz entsteht eine fundamentale Unverbundenheit. »Du« wird zu einem Objekt in Beziehung zu »mir«. Der andere wird zu einer mentalen Repräsentation aus der Vergangenheit, zu einem Mittel, wie ich das bekomme, was ich will, oder ein Hindernis auf meinem Weg. Wenn Menschen zu Objekten werden, statt Personen zu sein, gibt es nichts mehr, was wir nicht rechtfertigen könnten: von alltäglicher Geringschätzung bis hin zu den Gräueln von Sklaverei, illegalem Sexhandel und Völkermorden.

Präsenz hingegen öffnet die Tür zur Gegenseitigkeit. Wenn wir mit Präsenz beginnen, betreten wir ein Beziehungsfeld, in dem wir beide wichtig sind, einfach dadurch, dass wir existieren. Wir sehen den anderen dann nicht länger als ein Objekt, sondern vielmehr als ein Subjekt. Das ist der transformative Perspektivwechsel, den Martin Buber als die »Ich-Du-Beziehung« beschrieben hat: Alles wirkliche Leben sei Begegnung.16 Martin Buber war der Respekt für die Subjektivität, die dem Leben innewohnend, heilig.

Prinzip: Mit Präsenz zu beginnen hat mit Gegenseitigkeit zu tun, damit, die andere Person als eigenständiges Individuum zu erkennen, und mit Ungewissheit, also damit, das Unbekannte anzuerkennen und zu akzeptieren. Dadurch entstehen im Gespräch neue Möglichkeiten.

Wirkliche Lebendigkeit bedeutet, in diese Erfahrung von Gegenseitigkeit einzutreten, einander und das Mysterium des Daseins zu spüren. Präsenz in Beziehungen ist eine wahre Begegnung, in der ich dich sehe als die Person, die du bist, anstatt als die, die ich will oder brauche. Diese Gegenseitigkeit ist die Grundlage für wahren Dialog.

Für Fortgeschrittene: Gewahrsein in Beziehungen

In Gesprächen konzentrieren wir meist all unsere Aufmerksamkeit entweder auf uns selbst oder auf die andere Person. Gewahrsein in Beziehungen ist die Fähigkeit, sowohl mich als auch dich zu umfassen, das Außen und das Innen, und die Aufmerksamkeit dynamisch ins Gleichgewicht zu bringen. Die Basis bildet dabei unser verkörpertes Sein, von dem aus das Gewahrsein auf drei weitere Bezugspunkte ausgeweitet wird: die andere Person, unsere Verbindung und den Raum um uns herum. Dadurch wird unsere Flexibilität gestärkt, und wir können besser damit umgehen, wenn ein Gespräch sehr intensiv wird.

Gewahrsein in Beziehungen ist eine Praxis für Fortgeschrittene, und doch ergibt sie sich recht natürlich aus den Übungen, die wir bereits kennengelernt haben. Das Gewahrsein ist wie eine Taschenlampe, deren Lichtstrahl man regulieren kann. Man kann die Blende einstellen oder sie auf verschiedene Stellen richten. Probieren Sie die folgenden Übungen aus, um ein Gefühl dafür zu bekommen wie es ist, das Gewahrsein zwischen dem Innen und dem Außen hin- und herwechseln zu lassen.

Übung: Das Gewahrsein weit werden lassen

Machen Sie diese Übung allein. Setzen Sie sich bequem hin, schließen Sie die Augen, und lassen Sie Ihren Geist und Ihren Körper zur Ruhe kommen. Erden Sie Ihre Aufmerksamkeit in einem der vier inneren Bezugspunkte, die wir bereits kennengelernt haben: die Schwerkraft, die Mittellinie, der Atem oder die Berührungspunkte an den Händen oder Füßen. Lassen Sie sich Zeit, und spüren Sie diese konkreten, stetigen Empfindungen.

Lassen Sie dann den inneren Bezugspunkt los, und öffnen Sie die Augen. Werden Sie sich bewusst, was Sie um sich herum sehen und hören. Schauen Sie sich etwas um, wenn Sie möchten. Nehmen Sie wahr, wie es sich anfühlt, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf etwas im Außen konzentrieren. Schließen Sie die Augen, und lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit wieder auf einem inneren Bezugspunkt zur Ruhe kommen. Probieren Sie aus, die Augen zu öffnen und zu schließen und die Aufmerksamkeit zwischen innen und außen hin- und herpendeln zu lassen. Können Sie ein Gleichgewicht finden, bei dem ein Teil Ihrer Aufmerksamkeit mit Ihrem Körper verbunden ist und der andere Teil mit Ihrer Umgebung?

Beginnen Sie nun, mit geschlossenen Augen Ihr Gewahrsein weit werden zu lassen. Richten Sie die Aufmerksamkeit in Ihren gesamten Körper, und spüren Sie die verschiedenen Empfindungen darin: Wärme, Schwere, Pulsieren oder Kribbeln. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit dann auf die Oberfläche Ihrer Haut. Nehmen Sie wahr, welche Empfindungen hier spürbar sind: die Berührung Ihrer Haut mit der Kleidung, die Temperatur der Luft.

Weiten Sie Ihr Gewahrsein in den Ihren Körper unmittelbar umgebenden Raum aus. Können Sie den Raum direkt über der Oberfläche Ihrer Haut spüren? Um ihn besser wahrzunehmen, können Sie sich einen Moment lang vorstellen, Sie seien in einer vollen U-Bahn, in der sich andere Körper gegen den Ihren pressen. Dann bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt in den Raum um Ihren Körper herum. Können Sie die Abwesenheit von Druck spüren? Ein Gefühl von Weite?

Lassen Sie schließlich Ihr Gewahrsein noch weiter werden, sodass Sie den gesamten Raum umfasst. Sie können Ihre Augen öffnen oder die Geräusche wahrnehmen, um ein Gefühl für diese Offenheit zu bekommen. Können Sie des Raums um sich herum gewahr sein?

Bringen Sie zum Abschluss Ihre Aufmerksamkeit zurück in Ihren Körper, und nehmen Sie wahr, wie es sich anfühlt, hier zu sitzen.

In dieser Übungssequenz zeigt sich, wie fluide Gewahrsein ist. In der nächsten geht es darum, inneres und äußeres Gewahrsein ins Gleichgewicht zu bringen.

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