Politische Philosophie des Gemeinsinns

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Die Kommunikation des gesellschaftlichen Weltverkehrs ist bei Kant sehr weit entwickelt und auch mit der nötigen materiellen Prächtigkeit der Kommunikation, nämlich des Warenhandels, begründet, wobei dieser Warenhandel ein materielles Element der Notwendigkeit dieser Kommunikationen darstellt. Ich möchte nicht diese aus der Natur kommenden Probleme auf die bürgerliche Gesellschaft übertragen, sondern zeigen, dass sich die Interpretation von Kant durchgehend durch eine sehr präzise Deutung des Systems von Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft auszeichnet und einerseits einen Kommunikationszusammenhang begründet sowie andererseits die Notwendigkeit der Entfaltung von Naturanlagen. Dazu ziehe ich am besten die »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« heran. Diese Schrift unternimmt nicht den Versuch, ein Geschichtszeichen für die Evolution einer naturrechtlichen Verfassung zu finden, um die Behauptung des Rechts zu institutionalisieren, sondern will ein Leitfaden für die geschichtliche Entwicklung sein.

Wer von Leitfaden spricht, macht gleichzeitig klar, dass es nicht um einen konstitutiven Zusammenhang geht. Kant behauptet also nicht, dass die Dinge tatsächlich so laufen, aber er liefert uns einen »Leitfaden«47, an dem wir mögliche Absichten der Natur in diesem Prozess verstehen können. Dabei greift er schlicht auf statistische Annahmen zurück, also auf Annahmen, die mit Durchschnittswerten arbeiten. Wie Geburten oder Todesfälle in einem bestimmten Land zu mitteln sind, arbeitet auch er mit Durchschnittswerten von Handlungen und möglichen Absichten, um festzustellen, ob nicht doch im »trostlose[n] Ungefähr«48 etwas wie eine Ordnung stecke.

Die Menschen wollen zwar alle etwas ganz Verschiedenes; jeder hat seine Vorstellung von Glück und seine Vorstellung von Interessen. Und doch kommt, wie Kant bemerkt, dabei etwas heraus, das grundverschieden ist von dem, was jeder Einzelne gewollt hat, und das eine bestimmte Entwicklungslinie zeigt. Auf dieser Entwicklungslinie, die gewissermaßen einen Durchschnittswert darstellt, wird merkwürdigerweise Vernunft erkennbar. Daran gemessen verhalten sich die Einzelnen vernunftlos. Auch im Krieg laufe alles vernunftlos ab, was aber dabei herauskommt, könnte für Kant etwas Vernünftiges sein, dass nämlich die Völker begreifen, dass sie keine Kriege mehr führen dürfen:

Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.49

Die Menschen haben alle ihren Plan oder – nach Brecht – machen einen Plan und noch einen Plan, und beide gehen sie nicht.50 Jeder hat seine subjektiven Pläne und Absichten, seine teleologischen Zweckvorstellungen. Einen Gesamtplan, wie eine weltbürgerliche Ordnung, auf die Kant hinauswill, gibt es jedoch noch nicht. Er fragt sich daher, ob da nicht etwas heranwachse, von der Natur getrieben, was einen Gesamtplan vorbereitet, der allerdings nur durch Vernunft gestiftet werden kann: »Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden; und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie darnach abzufassen.«51 Sehr viele haben sich seither für diesen Mann gehalten, und dass Kant selbst einige benennt, hat im Historismus eine gewisse Rolle gespielt: »So brachte sie [die Natur, Anm. Negt] einen Kepler hervor, der die exzentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf; und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte.«52

Es geht Kant also bei diesem Leitfaden darum, methodisch festzustellen, ob in der ganzen Gattung eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen zu erkennen ist: ob in der empirischen Welt der Erscheinungen, wo Kausalität waltet, wo nicht Freiheit vorherrscht, Kräfte festzustellen sind, welche Naturanlagen zu entwickeln helfen. Denn »[a]lle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.«53 Dieser Satz zielt auf den öffentlichen Gebrauch der Vernunft nicht nur in der Gattung insgesamt, sondern auch im einzelnen Individuum. Der Zweite Satz ist wie gesagt eine Vernunftbestimmung der Naturanlagen oder anders im Sinne der transzendentalen Reflexion ausgedrückt: Es ist nicht anzunehmen, dass es Naturanlagen gibt, die nicht entwickelt werden sollen. Warum sollte es sie sonst geben? Folglich kann ein Vernunftwesen nicht denken, dass es Naturanlagen des Menschen zur Vernunft gibt, die nicht entwickelt werden sollen.

Der Dritte Satz lautet entsprechend: »Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat.«54 Er sagt hier weiter, das sei eine »Anzeige«: »Die Natur tut nämlich nichts überflüssig, und ist im Gebrauche der Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch. Da sie dem Menschen Vernunft und darauf sich gründende Freiheit des Willens gab: so war das schon eine klare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung seiner Ausstattung.«55 Sie finden bei Kant immer wieder diesen Zeichencharakter, Hinweise, um die herum sich empirische Tatbestände organisieren lassen, die das aber nicht ausdrücken.

Abschließend sei hier noch Kants Antwort darauf wiedergegeben:

Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit des Menschen; d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isolieren).56

Hier ist die Verbindung zu Adam Smith offensichtlich, nicht zu jener invisible hand, von der er spricht, sondern insofern als der Antagonismus der gesellschaftlichen Kräfte etwas wie eine gesetzmäßige Ordnung erzeugt: Ordnungslosigkeit erzeugt Ordnung, und wenn jeder seinen eigenen Triebkräften und Neigungen folgt, entsteht doch etwas zum Vorteil aller. Es gehört zu den merkwürdigsten Phänomenen der bürgerlichen Denkweise, wie Bernard Mandeville (1670–1733) davon auszugehen, dass private Untugend zu öffentlichen Gewinnen führe: privat vices, public benefits.57 Schon in seiner »Bienenfabel« (1714) ist diese Substanz des bürgerlichen Denkens polemisch zusammengezogen, die sich bei Kant unter transzendentalen Gesichtspunkten noch einmal ausdrückt, wenngleich ganz klar ist, dass dasselbe Prinzip in den verschiedenen Theorien auch verschieden gestaltet ist. Was dann bei Hegel auftritt, ist ein absoluter Geist, der durch die Geschichte und die Dinge marschiert, das Allgemeine, das die Besonderheit aufzehrt.

Geschichte und Naturanlagen

Vorlesung vom 7. November 1974

Wir haben gesehen, dass sich in diesen Zusammenhängen bei Kant Momente einer liberalen Weltanschauung und ein Bezug auf Adam Smith ausdrücken. Was dieser, anders als Kant oder auch Hegel und spätere Theoretiker, nicht exakt trifft, ist die bei Mandeville bereits klar beschriebene Annahme, mit der kompletten Realisierung völlig egoistischer Bedürfnisse stelle sich eine Art Gesamtwohlstand automatisch her. Diese Annahme teilt Adam Smith in dieser Weise nicht, auch wenn es eine Rezeptionsgeschichte gibt, die ihm das unterstellt. Doch selbst wenn hier falsche Zuschreibungen stattgefunden haben, prägte jene Auffassung wesentlich das liberale Selbstverständnis, dass sich das Gesamtwohl, das Glück der größten Zahl realisiere im Prozess der rücksichtslos sich abspielenden Durchsetzungen eigener ökonomischer Interessen und Bedürfnisse. Ökonomisch ist, was »Wealth of Nations«58 anbetrifft, ein solcher Mechanismus sehr wohl nachweisbar. Kant hat das als »Maschinenwesen der Vorsehung«59 bezeichnet, hervorgebracht von der Natur, um eine Reihe von Zielen der Menschen gegen deren Willen durchzusetzen.

Des Weiteren haben wir festgestellt, dass die Französische Revolution ein Hinweis, ein Geschichtszeichen für die Entwicklung von Naturanlagen gewesen sei, wobei zunächst noch offen blieb, was genau das allgemein bedeutet, im spezifischen Fall jedoch eine Anlage zum moralischen Verhalten. Darüber hinaus haben wir den Krieg betrachtet als ein von der Natur installiertes Instrument zur Realisierung, zur Entfaltung und zur Entwicklung von Naturanlagen, die sonst brachliegen würden. Ich habe in diesem Zusammenhang betont, dass sich diese Naturanlagen nur gesellschaftlich in einem Prozess der gesamten Gattung entfalten können. Der Mensch ist bei Kant, trotz aller gegenteiligen Behauptungen, ein durch und durch gesellschaftliches Wesen, das ohne Gesellschaft buchstäblich nicht existenzfähig ist. Das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, von dem Marx in der sechsten Feuerbachthese spricht, ist im Kantischen Begriff vom Menschen nicht nur angelegt, sondern der Mensch konstituiert sich erst in seiner Gattung und das heißt, vermittels anderer, durch Kommunikation mit anderen, durch Gesellschaftlichkeit. Um zu erläutern, warum Vernunft nicht ein schlichtes Postulat für Kant ist, sondern dass Vernunft hervorgetrieben wird durch gesellschaftliche Kräfte, haben wir uns das kuriose Beispiel der Hospitalität und der Kugelform der Erde angesehen. Daran wurde deutlich, dass Kant immer auch auf jene Bedingungen reflektiert, unter denen Gesellschaft möglich ist.

 

Schließlich haben wir gesehen, dass die Natur für Kant nichts Überflüssiges tut, weshalb er davon ausgeht, wo Vernunft angelegt ist, solle sich diese auch ausdrücken. Er ist überzeugt, die Natur schaffe nicht Anlagen, die eine Bestimmung haben, um sie dann verrotten zu lassen. Wenn es eine moralische Anlage gibt, so hat die Natur damit einen Hinweis gegeben, dass sie entfaltet werden soll. Kant sucht jetzt die Mittel für die Entfaltung dieser Anlagen, und er erkennt ein solches im »Antagonism«, in der »ungeselligen Geselligkeit des Menschen«.60 Dieser habe gleichermaßen den Hang, »in Gesellschaft zu treten«,61 wie jenen, sich zu isolieren. Was Kant hier auf einer anthropologischen Ebene ausdrückt, indem er diese Widersprüchlichkeit von Geselligkeit und Ungeselligkeit als Naturtatsache bezeichnet, ist auch eine geschichtliche Sozialisationsstufe, in der sich die Bildung des Individuums vollzogen hat.

Denn Geselligkeit – Kant spricht von einem Bedürfnis nach Geselligkeit, nach Kontakten, nach freundlichem, ja pfleglichem Umgang mit Menschen und Dingen – ist unter den Bedingungen, wie Kant sie vorfindet, nur mit Kosten zu erfüllen. Das heißt, der pflegliche Umgang ist einer, der nicht auf Raubbau gegenüber Menschen und Natur gerichtet, sondern der auf Bewahrung ausgerichtet ist und der auch nicht mit Produktion verbunden ist, mit Aneignung in diesem Sinne. Diesbezüglich betont Kant vielmehr, die Autonomie des Individuums als eines empirischen sei der Besitz. Das Privateigentum sei die Kernzelle des Autonomiebegriffs, sofern es sich um einen empirischen Autonomiebegriff handelt. Das heißt: Ein Bourgeois, wie Kant ihn in der Rechtslehre bezeichnet, ist derjenige, der fähig ist, ohne Hilfe anderer zu leben, auch ohne die eines Staates. Das bedeutet aber, dass der Bourgeois in gewisser Weise Okkupationsrechte hat gegenüber der Realität und gegenüber Menschen: Er hat das Recht, sich wenigstens die Früchte seiner eigenen Arbeit anzueignen.

Nebenbei sei erwähnt, dass Kant hier eine ganze andere Theorie zur Begründung des Eigentums hat als John Locke. Letzterer legimitiert das Eigentum aus der Arbeit,62 Kant sagt hingegen, die Arbeit sei ein Akzidenz des Besitzes. Damit eine Veränderung am Gegenstand, an der Substanz stattfinden kann, sei Eigentum die Voraussetzung: Bevor man einen anderen am Eigentum arbeiten lässt, muss dieses da sein. Kant sieht diese vorgängige Okkupation sehr viel klarer als Locke. Für ihn ist der Besitz die Substanz und die Arbeit die Akzidenz, für Locke ist es umgekehrt. Aber Locke hat in einem anderen Punkt Recht, wo die Eigentumstheorie von Kant noch mit bestimmten feudalen Elementen durchsetzt ist. Locke erkennt nämlich, dass sich in der Tat etwas wie Wert durch Arbeit konstituiert. Er erkennt die Wertsubstanz dessen, was entsteht, während Kant klarer den Vorgang selbst begreift, der sich in Bezug auf Herrschaftsverhältnisse abspielt. Wir haben hier einen subtilen Unterschied zwischen dem amerikanisch-angelsächsischen Liberalen und dem deutschen Gelehrten, der Ersteren rezipiert – Locke wurde von Kant gelesen – und gleichzeitig jene Schwäche erkennt, die darin steckt, wenn man damit auch liberales Eigentum, also Ausbeutung legitimieren will. Kant durchschaut, dass Arbeit eine Formveränderung von Besitz ist. Wenn Eigentum aber das Produkt von Gewalt ist, kann man nur noch daran gehen, diese Gewalt zu legalisieren.

Doch kommen wir zurück zu jenem Antagonismus der »ungeselligen Geselligkeit«, der sich durch die ganze Kantische Geschichtstheorie zieht und ein Instrument zur Entfaltung der Naturanlagen darstellt. Das größte Problem, das aufzulösen die Menschengattung durch die Natur gezwungen wird, ist die Erreichung einer allgemeinen, das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Die Natur stößt eigentlich jeden darauf, dass diese Gesellschaft zustande kommen soll und zwar nicht friedfertig, sondern durch Gewalt, durch sehr verschiedene Formen von Gewalt. Warum gibt es diese Gewalt, die Kant in aller Deutlichkeit sieht? Das Abschlachten der Menschen, das kann, laut Kant, nicht völlig sinnlos sein, sonst wäre ein großer Teil der Naturbeziehungen der Menschen und der Menschen selbst als Naturprodukte sinnlos. Das bezeugen jedoch nur jene Keime, welche die Natur in die Menschen legt, um sie zu entwickeln, die Naturanlagen. Was dies für die Anthropologie des Menschen bedeutet, werde ich im Folgenden zu zeigen versuchen.

Zunächst möchte ich aber den Stellenwert des Allgemeinen im Kantischen Werk in Augenschein nehmen. Es zeigt sich nämlich, dass die Produktionsweise der Intelligenz, wenn man so will, wie sie bei Kant vorliegt, auch unter dem Legitimationsdruck stand, sich total zu formalisieren. Die Formalisierung und die Form als das am deutlichsten Ausgewiesene von Erkenntnis ist ein altes aristotelisches Urteil und Vorurteil: Das, was am Allgemeinsten ist, ist das Wahrste; und was Form ist, gilt als Erkenntnis. Es ist festzustellen, dass die großen klassischen Werke »Kritik der reinen Vernunft«, »Kritik der praktischen Vernunft« und »Kritik der Urteilskraft« unter eben diesem Formalisierungszwang der akademischen Existenzweise standen, nur jene Begriffe und Gedanken zuzulassen, die für sich Allgemeinheit beanspruchen können. Die Produkthaftigkeit tritt dabei derart in den Vordergrund, dass jene Prozesse, die zur Formulierung bestimmter Probleme führen, fast vollständig verloren gehen, in die Unterwelt der Fußnoten rutschen oder eben jenen diskriminierten Vorarbeiten und Arbeiten überlassen werden, die es nicht in den Kanon der Philosophie schaffen. Die »Anthropologie« gehört zu diesem Fußnoten-Werk. Im Übrigen wendet Kant diese Fußnotentechnik in der Rechtslehre systematisch an, sodass er im Text nur die allgemeinen Dinge bearbeitet und in den Fußnoten Beispiele liefert. Diese Aufspaltung betrifft das ganze Werk. Ich aber werde gerade diese Marginalien zur Verdeutlichung bestimmter formalisierter Positionen heranziehen, die den Erkenntnisprozess schon gar nicht mehr sichtbar machen. Das gilt insbesondere für die pädagogischen Schriften, für die »Anthropologie« und selbstverständlich für den Nachlass, in dem Vorarbeiten vorliegen, und für weitere kleinere Gelegenheitsschriften.

Was bedeutet nun das Phänomen der Naturanlagen für die »Anthropologie«, für die Entwicklung der Menschen? Kant identifiziert beim Menschen drei spezifische Anlagen, die geschichtlich entwickelt werden sollen und werden können. Das ist zum einen die technische Anlage, zweitens die pragmatische und drittens die moralische. Diese Anlagen sind mit dem Menschen gesetzt, also Naturanlagen. Die Natur hat hier Vermögen in den Menschen hineingesetzt, von denen sie annimmt, dass sie entwickelt werden können, ja entwickelt werden sollen. Die technische Anlage bezieht sich wesentlich auf den Menschen als Werkzeuge produzierendes Tier, »tool-making animal«, wie es Benjamin Franklin (1706–1790) genannt hat. Kant sagt zur Anthropologie, die sich damit befasst:

Die Fragen: ob der Mensch ursprünglich zum vierfüßigen Gange […] oder zum zweifüßigen bestimmt sei, – ob der Gibbon, der Orangutan, der Schimpanse u. a. bestimmt sei […]; – ob er ein Frucht- oder (weil er einen häutigen Magen hat) fleischfressendes Tier sei; – ob, da er weder Klauen noch Fangzähne, folglich (ohne Vernunft) keine Waffen hat, er von Natur ein Raub- oder friedliches Tier sei – – die Beantwortung dieser Fragen hat keine Bedenklichkeit. Allenfalls könnte diese noch aufgeworfen werden: ob er von Natur ein geselliges oder einsiedlerisches und nachbarschaft-scheues Tier sei; wovon das letztere wohl das Wahrscheinlichste ist.63

Diese anthropologische Richtung interessiert Kant nicht so sehr. Er nimmt den Menschen so zur Kenntnis, wie er ist, macht keine Versuche einer teleologischen Naturbetrachtung und fragt also nicht, wofür die Natur Füße und Beine vorgesehen hat. Anders als Lichtenberg, von dem ein überlieferter Witz besagt, die Natur habe es doch so herrlich eingerichtet, gerade da, wo die Katze Augen habe, zwei Löcher im Pelz vorzusehen.64 Die Zweckmäßigkeit der Natur interessiert Kant hier nicht, sondern er stellt wiederholt fest: Der Mensch ist instinktreduziert, er kommt ohne Leitungs- und Steuerungsfunktionen zur Welt und muss irgendwie mit der Umwelt fertig werden. Und Kant sagt weiter, wenn die Natur gewollt hätte, dass er seine Anlagen nicht entfaltet, warum hat sie ihn dann überhaupt erzeugt? Ein so hilfloses Wesen auf die Welt zu setzen, könne nicht im Sinne der Natur gewesen sein, insofern müsse sie gewollt haben, dass er sich entwickelt. Er sagt hier völlig richtig: »Ein erstes Menschenpaar, schon mit völliger Ausbildung, mitten unter Nahrungsmitteln von der Natur hingestellt, wenn ihm nicht zugleich ein Naturinstinkt, der uns doch in unserem jetzigen Naturzustande nicht beiwohnt, zugleich beigegeben worden, läßt sich schwerlich mit der Vorsorge der Natur für die Erhaltung der Art vereinigen.«65

Es findet sich bei Kant die Idee einer bergenden, vorsorgenden Natur, was an mutterrechtliche Vorstellungen erinnert. Die Natur ist etwas, was nicht nur im rationalen Verstande liegt, und sie macht nichts völlig Falsches. Das irgendwo etwas nicht klar erkennbar ist, mag sein, aber die Natur hat nichts Betrügerisches in sich, sondern eher etwas Bergendes. Sie nimmt die Menschen auf und pflegt sie, gibt ihnen Hinweise, setzt ihnen Zeichen: Die Natur entbirgt sich, vergegenständlicht sich für den Menschen in Zeichen. Ob es Revolutionen, Kriege oder Zwistigkeiten sind, die gesellige Ungeselligkeit – all das sind Zeichen der Natur, ohne die die Vorsorge nicht gewährleistet wäre.

Der erste Mensch würde im ersten Teich, den er vor sich sähe, ertrinken; denn Schwimmen ist schon eine Kunst, die man lernen muß; oder er würde giftige Wurzeln und Früchte genießen und dadurch umzukommen in beständiger Gefahr sein. Hatte aber die Natur dem ersten Menschenpaar diesen Instinkt eingepflanzt, wie war es möglich, daß er ihn nicht an seine Kinder vererbte; welches doch jetzt nie geschieht?66

Für Kant ist die körperliche Organisation gewissermaßen der organische Teil jenes Gebrauchs der Vernunft, der es ihm ermöglicht, sich selbst zu erhalten. Die technische Anlage ist schlicht jene Anlage zur Erzeugung von Mitteln für die Selbsterhaltung auf physischer Ebene. Die pragmatische Anlage wiederum erläutert er wie folgt: »Die pragmatische Anlage der Zivilisierung durch Kultur, vornehmlich der Umgangseigenschaften und der natürliche Hang seiner Art, im gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Rohigkeit der bloßen Selbstgewalt herauszugehen und ein gesittetes (wenn gleich noch nicht sittliches), zur Eintracht bestimmtes Wesen zu werden, ist nun eine höhere Stufe.«67 Hierzu gehören Zucht, Disziplin, Erziehung, Geselligkeit und so weiter: »so daß sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten, in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen, zu seiner Bestimmung empor arbeiten kann«68.

Die pragmatische Naturanlage zeigt hier also jenseits der elementaren Grundausstattung des Menschen mit verlängerten Organwerkzeugen wie Händen und Fingern, die ihm die Selbsterhaltung erlauben, eine bestimmte Stufe der Zivilisierung, mithin der Entfaltung seiner Naturanlagen.

Die dritte Naturanlage, die moralische, ist für ihn die problematischste und wichtigste. Sie läuft in alter theologischer Form auf die Frage hinaus, »ob der Mensch von Natur gut, oder von Natur böse«69 sei. Kant ist der Auffassung, er sei von Natur schlecht, und lehnt sich darin ganz an Friedrich II. an, den er auch immer wieder zitiert. Man könnte darin natürlich ein theologisches, protestantisches Relikt bei Kant erblicken, doch dem möchte ich widersprechen. Das ist vielmehr die Auffassung der Friedrichanischen Aufklärung, die anders als die Französische Revolution keine rousseauistischen Elemente aufweist, sondern an der Zwiespältigkeit der menschlichen Natur festhält und sagt, der Mensch sei grundschlecht. Man könne sich auf ihn nicht verlassen, und wenn er einmal moralisch handelt, dann mit Sicherheit aus unmoralischen Gründen:

Friedrich II. fragte einmal den vortrefflichen Sulzer, den er nach Verdiensten schätzte und dem er die Direktion der Schulanstalten in Schlesien aufgetragen hatte, wie es damit ginge. Sulzer antwortete: ›Seitdem daß man auf dem Grundsatz (des Rousseau), daß der Mensch von Natur gut sei, fortgebauet hat, fängt es an besser zu gehen.‹ ›Ah (sagte der König), mon cher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette maudite race à laquelle nous appartenons.‹70

 

Ganz offensichtlich geht die Friedrichanische Aufklärung vom Hang zum Bösen aus und hält gerade deshalb Vernunft und Aufklärung für die einzigen Mittel, um aus dieser Dunkelheit herauszukommen. Diese Aufklärung geht nicht wie Rousseau von der Fortsetzung von Natureigenschaften in dem Sinne aus, dass der gute wilde Mensch für seine Entfaltung einfach gesellschaftlich fortgesetzt wird, sondern umgekehrt: Die Welt ist verlassen, destruktiv, und wir müssen mit äußerster Disziplin und Anstrengung dem Menschen Korsettstangen einsetzen, damit er stehen kann. Diese Korsettstangen sind Produkte von Vernunft, Disziplin, Allgemeinheit und so weiter. Die Vernunft ist hier das Gerüst, an dem sich die menschliche Natur festmachen kann, um nicht völlig kaputtzugehen.

Die Frage ist hier: ob der Mensch von Natur gut, oder von Natur böse, oder von Natur gleich für eines oder das andere empfänglich sei; nachdem er in diese oder jene ihn bildende Hände fällt (cereus in vitium flecti etc.). Im letztern Falle würde die Gattung selbst keinen Charakter haben. – Aber dieser Fall widerspricht sich selbst; denn ein mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen (eine Person) sieht sich in diesem Bewußtsein selbst, mitten in den dunkelsten Vorstellungen, unter einem Pflichtgesetze und im Gefühl (welches dann das moralische heißt), daß ihm, oder durch ihn anderen recht oder unrecht geschehe. Dieses ist nun schon selbst der intelligibele Charakter der Menschheit überhaupt, und in so fern ist der Mensch seiner angebornen Anlage nach (von Natur) gut. Da aber doch auch die Erfahrung zeigt: daß in ihm ein Hang zur tätigen Begehrung des Unerlaubten, ob er gleich weiß, daß es unerlaubt sei, d. i. zum Bösen sei, der sich so unausbleiblich und so früh regt, als der Mensch nur von seiner Freiheit Gebrauch zu machen anhebt, und darum als angeboren betrachtet werden kann: so ist der Mensch seinem sensibelen Charakter nach auch als (von Natur) böse zu beurteilen, ohne daß sich dieses widerspricht, wenn vom Charakter der Gattung die Rede ist; weil man annehmen kann, daß dieser ihre Naturbestimmung im kontinuierlichen Fortschreiten zum Besseren bestehe.71

Wir sehen, Kant geht davon aus, dass der Mensch seinem intelligiblen Charakter nach, der ihn als Vernunftwesen ausweist, gut ist. Er ist also dort gut, wo er der Realität widersprechen und autonom werden kann, mit anderen Worten, die Fähigkeit besitzt, nicht nur unter Gesetzen, sondern auch aus Gesetzen zu handeln, was ja das Moralische hier ausmacht. Seinem sensiblen, seinem empirischen Charakter nach, wie er also tatsächlich ist, ist der Mensch jedoch böse. Diesen Zwiespalt zu lösen, den sensiblen und den intelligiblen Charakter zu vermitteln, ist ein treibendes Motiv in der Kantischen Philosophie. Das bedeutet, dass der Charakter, sofern er als empirisch gilt, entwickelt werden muss, wofür die Natur selbst Anlagen und Mittel liefert.

Ich möchte hier noch einmal an jene Stelle erinnern, an der Kant behauptet, die Französische Revolution sei, wie blutig und gewaltsam sie auch gewesen sein mag, und selbst wenn keiner sie wiederholen wolle, doch ein nicht zu tilgendes Geschichtszeichen gewesen. Er ist der Meinung, dass diese Entfaltung der Naturanlagen ein Produkt von Gewalt sei, wobei es verschiedene Formen von Gewalt gibt. In der »Anthropologie« nun ist die Gewalt merkwürdigerweise der Geburtshelfer dieser Naturanlagen. An sich entfaltet der Mensch gar nichts, doch er steht eben unter dem Druck von Konkurrenz und unter dem Zwang, Vernunft anzunehmen. Daher nimmt er im umgangssprachlichen Sinne Vernunft auch nur dann an, wenn es fast schon ausgeschlossen scheint. »Freiheit und Gesetz (durch welche jene eingeschränkt wird) sind die zwei Angeln, um welche sich die bürgerliche Gesetzgebung dreht.– Aber damit das letztere auch von Wirkung und nicht leere Anpreisung sei: so muß ein Mittleres hinzu kommen, nämlich Gewalt, welche, mit jenen verbunden, diesen Prinzipien Erfolg verschafft.«72

Es kann bei Kant keine Rede davon sein, dass er die Gewalt nicht sieht, und deshalb nimmt er ein bestimmtes Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft viel klarer zur Kenntnis als andere, die im liberalen Selbstverständnis die aufkommende bürgerliche Gesellschaft legitimieren. Gewalt ist hier kein Relikt der feudalen Gesellschaft, sondern unter den anthropologischen Voraussetzungen, wie Kant den Menschen begreift, die einzige Möglichkeit, Fortschritt herzustellen und Entwicklung voranzutreiben. Wie gesagt, nur an einem Punkt seines Werkes bricht die konservative, auf Bestehendes gerichtete Gewalt heraus und leuchtet als revolutionäre Gewalt auf. Aber diese Gewaltformen haben dieselbe Funktion. Die revolutionäre Gewalt verhilft einem Stück moralischer Anlage zum Durchbruch, und die anderen Formen der Gewalt sind überhaupt lebenserhaltend, damit die Menschen sich nicht totschlagen, damit man eben nicht, wie Thomas Hobbes (1588–1679) befürchtet hat, morgens aufsteht und totgeschlagen wird. Der Hobbes’sche Staat besteht darin, das zu verhindern, wenn auch nicht empirisch, so doch dem Prinzip nach, zumal ja die häufigsten Gewaltverbrechen im engsten Bekannten- und Verwandtenkreis passieren. Aber für dieses Ausschließen der Zerstörung des Menschen, der Gefährdung von Leib und Leben, ist Gewalt nötig und zwar eine zwingende, eine gesetzmäßig zwingende Gewalt. Zudem kombiniert Kant Gewalt mit verschiedenen Dingen: » – Nun kann man sich aber viererlei Kombinationen der letzteren mit den beiden ersteren denken: A. Gesetz und Freiheit ohne Gewalt (Anarchie). [Er klassifiziert das alles, Anm. Negt] B. Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism). C. Gewalt ohne Freiheit und Gesetz (Barbarei). D. Gewalt mit Freiheit und Gesetz (Republik).«73