Politische Philosophie des Gemeinsinns

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Aber nehmen wir erneut diese Konnotation, diese Assoziation mit dem Anarchismus auf. Im letzten Satz der »Anthropologie« definiert Kant Anarchie, wie wir gesehen haben, als »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass das zunächst eine sehr bemerkenswerte Definition ist, die gängigen Vorstellungen gerade einer Verbindung von Anarchie und Gewalt widerspricht. Aber hier gilt es doch geschichtlich zu differenzieren, um den Anarchismusbegriff nicht auf diese verbreiteten Vorstellungen zu beschränken.

Man kann sagen, in fast allen bürgerlichen und nachbürgerlichen Klassen ist der Vorwurf des Anarchismus zunächst immer einer, der die Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bestätigt, also ein Indiz dafür, dass die Inhalte, die im Anarchismus mitgedacht wurden, nicht realisiert sind. Er belegt ein Bedürfnis der bestehenden Systeme, möglichst viele Gruppierungen als anarchistisch zu bezichtigen. Der Vorwurf wurde beim Aufstand von Kronstadt (1921) erhoben, gegenüber der Münchener Räterepublik, gegenüber den spanischen Anarcho-Syndikalisten – und nicht zuletzt von Marx, der mit den Anarchisten geradezu eine Privatfehde in äußerster Verbitterung und Verbissenheit geführt hat, die unter seiner Würde war.

Warum hat Marx diesen Kampf geführt? Zunächst hat er festgehalten, dass die Ziele des Anarchismus, die Aufhebung des staatlichen Zwangs, identisch sind mit jenen des Marxismus und der Kritik der politischen Ökonomie. Marx hat nie bestritten, dass die Anarchisten Ziele verfolgen, die mit den seinigen im Großen und Ganzen übereinstimmen. Er hat ihnen aber jenen Vorwurf gemacht, der seitdem in der Luft schwebt, dass sie diese Ziele mit völlig unvermittelten, inadäquaten Mitteln erreichen wollen und, was noch schwererwiegender ist, mit Zeitvorstellungen, die den langwierigen Prozessen nicht gerecht werden.

Als Anarchisten werden hier also diejenigen bezeichnet, die übereilt revolutionäre Prozesse in Gang bringen wollen, um ein sehr kompliziertes und komplexes Herrschaftssystem zu beseitigen. Aus diesen Gründen erblickte Marx in ›den Anarchisten‹ buchstäblich die größte Gefährdung für den Marxismus. Dabei sind Anarchisten in dieser Weise gar nicht auf einen Nenner zu bringen und schon gar nicht auf einen Punkt zu reduzieren, etwa mit der Feststellung, Bakunin habe in Genf bei Uhrenmachern, also bei Kleinbürgern gearbeitet und auch Proudhon habe sich wesentlich auf sie gestützt. Die klassentheoretische Zuordnung des Anarchismus ist äußerst schwierig, auch wenn ein soziologisches Element durchgehend in den verschiedenen Formen des Anarchismus zu finden ist. So spielen vorbürgerliche handwerkliche oder bäuerliche Produktionsweisen, Produktionsweisen also, die noch nicht industriell durchrationalisiert sind, in allen Formen des Anarchismus eine konstitutive Rolle. Ich will dafür einzelne Beispiele aufgreifen.

Natürlich war Michail Bakunin (1814–1876) ein revolutionärer Scharlatan. Er war buchstäblich bei allen Revolutionen gegenwärtig, die damals irgendwo in Europa abliefen, und der Auffassung, Wesentliches zu ihrem Gelingen beitragen zu können. Tatsächlich sind sie aber, wenn auch nicht durch sein Zutun, meist gescheitert, was auch er nicht verhindern konnte. Schon über Bakunins Mobilität haben sich Marx und Engels aufgeregt, die zeit ihres Lebens an einem Platz der Welt festgenagelt waren, Marx noch dazu in einem Museum.105 Das ist nur eine lustige Anekdote, aber wer einmal den Briefwechsel verfolgt, kann nicht übersehen, dass solche subjektiven Momente eine Rolle spielen. Bakunin hatte etwas Zigeunerhaftes an sich, während Sesshaftigkeit gewissermaßen die Definition für die Arbeitsmoral von Marx war, der am »Kapital« förmlich klebte und nicht weiterkam. Diese Form der Sesshaftigkeit, des Beständigen und dessen, was Geltung hat und lange dauert, was mit Schweiß erworben ist, alle diese Momente spielen im privaten Briefwechsel von Marx eine Rolle, und im Grunde ist das die Produktionsweise eines bürgerlichen Gelehrten, der sich bis zum Tode in seinen Ideen aufzehrt. Tatsächlich war Marx auch durchaus darauf bedacht, als Bürger zu gelten. Ich möchte das mit einer weiteren Anekdote illustrieren. Als eine seiner Töchter heiraten wollte, setzte sich Marx hin und fragte denjenigen, der um ihre Hand anhielt: »Sie wollen meine Tochter heiraten, wie ich erfahre. Was haben Sie denn anzubieten, was haben Sie für Besitz, haben Sie geregeltes Einkommen?«106

Doch auch von solchen persönlichen Momenten abgesehen haben die Hektik, die Unbeständigkeit, das Zigeunerhafte, der Dilettantismus, der sich darin ausdrückte, dass Anarchisten innerhalb von zwei Tagen fertige Programme produzierten für irgendeine Bewegung, die im Gange war oder in Gang gesetzt werden sollte, diese Schnelligkeit, mit der sie auf Situationen reagierten, haben bei Marx und Engels größte Vorbehalte hervorgerufen.

Was jedoch inhaltlich als Anarchismus verstanden wurde, ist sehr verschieden. Zum Beispiel war bei Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), der als Anarchist bezeichnet wird, die Wohnungsfrage, welche die Arbeiter tatsächlich berührte, entscheidend. Alle Auseinandersetzungen mit Proudhon, abgesehen von Marx’ »Misère de la Philosophie« (1847), drehen sich um diese Wohnungsfrage. Mit welcher Intensität sich auch Marx und Engels mit diesem Problem beschäftigt haben, ist kaum nachvollziehbar, wobei das Argument von Engels war, man könne das Wohnungsproblem erst lösen, wenn das Kapitalverhältnis abgeschafft ist.107 Das konnten die Arbeiter natürlich nicht verstehen, weil die Lösung der Wohnungsprobleme viel zu dringend gewesen ist und hier unmittelbare Interessen angesprochen und mobilisiert wurden. Proudhons Verbreitung bei den Massen beruhte darauf, dass er die Massen nicht auf eine radikale Wendung ihres Schicksals vertröstete, sondern ihnen konkrete Schritte anbot.

Hier ist schon zu sehen, dass Anarchisten nicht immer nur im Sinn hatten, was Marx ihnen vorwarf, den Staat mit einem Schlag zu beseitigen, sondern als Anarchismus wurde auch bezeichnet, was Alltagsvermittlungen anbot wie der Proudhon’sche Versuch, die Wohnungsfrage zu lösen. Dieser Versuch war ganz zweifellos eine Illusion, aber er hatte in der europäischen Arbeiterschaft bedeutende Wirkung entfaltet.

Ein zweiter Punkt ist, dass die Anarchisten durchgängig vorgeschlagen haben, bestimmte korporative und kooperative Selbstregulierungsformen nicht erst nach der Beseitigung des Kapitalverhältnisses zu entwickeln, Produktivgenossenschaften etwa, die bereits in dieser Gesellschaft auf die neue Gesellschaft vorbereiten sollten. Des Weiteren haben die Anarchisten die Kommunalisierung gefördert, die Dezentralisierung der Selbstregulierung, was im Übrigen im spanischen Anarcho-Syndikalismus Realität wurde. Nicht der Staat soll demnach alles in der neuen Gesellschaft lösen, sondern die Kommunen. Der föderalistische Gedanke, die föderative Struktur relativ autonomer Kommunen im Sinne selbstverwalteter Einheiten, spielt auch bei Proudhon eine große Rolle.

Ein weiteres Element dringt in diesen Anarchismus ein, das vielleicht nicht von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921) stammt, aber dort wie in der russischen Geschichte und auch bei Lew Tolstoi (1828–1910) eine große Rolle gespielt hat: die Assimilierung, die Transposition christlicher Nächstenliebe in das, was bei Proudhon Mutualismus heißt, Gegenseitigkeit oder brüderliche Hilfe. Diese Verbindung von humanitärer Weltanschauung und Christentum, auch von deutschem Idealismus und Christentum, findet sich dann auch in Formen des Anarchismus wieder, etwa bei Gustav Landauer (1870–1919), einem der Rätesozialisten. Er gehört zu denjenigen, die glauben, dass ein Stück Selbstbildung, Selbstorganisation und Selbstregulierung notwendig ist für die Beseitigung von Herrschaft – und zwar schon in dieser Gesellschaft. Das ist zwingend aus der Perspektive zu sehen, dass die Anarchisten nichts vertagen wollten, sondern es unter den Bedingungen realisieren und durchsetzen wollten, die existieren. In Landauers Begriff von Anarchismus, von Herrschaftslosigkeit, von Vertrauen auf die autonome Selbstregulierung der gesellschaftlichen Kräfte in überschaubaren Zusammenhängen ist der Humanismus fast schon penetrant. Schließlich ist im Rätegedanken selbst etwas von anarchistischen Vorstellungen eingegangen. Zumindest lässt sich sagen, dass sich eine bestimmte, subversive Komponente innerhalb des orthodoxen Marxismus der II. und der III. Internationale im Zusammenhang solcher anarchistischen Ideen und des Vorschlags von Selbstverwaltungsorganen, von Räten, herausgebildet hat. Es ist erstaunlich, dass gerade in den Bruchstellen des Übergangs von der II. zur III. Internationale – als die II. noch kritisiert wird, die III. sich aber noch nicht verfestigt hat – ein Werk wie Lenins »Staat und Revolution« (1917) entstehen konnte. Ich kann nur empfehlen, das fünfte Kapitel über die ökonomischen Bedingungen für das Absterben des Staates zu lesen. Hier wird von Lenin selbst eine Tradition eingebracht, die heute völlig vergessen ist, allerdings anti-anarchistisch gewendet, weil die Anarchisten eben doch von einer Abschaffung oder Zerschlagung des Staates gesprochen haben. Das Absterben des Staates ist bei Lenin hingegen ein langwieriger, fast organischer Prozess, aber die Bedingungen dieses Absterbens bestehen darin, dass sich so etwas wie Selbstverwaltung zur Gewohnheitsregel der Menschen ausbildet. Lenin spricht wörtlich davon, dass die Zeit kommen muss und kommen wird, wo die Regierung und die Selbstverwaltung der Dinge für jeden zu einer solchen Selbstverständlichkeit werden, dass keine gesonderte Gewalt über den Individuen notwendig ist. In dieser Lenin’schen Rätekonzeption fanden sich auch die späteren Rätesozialisten wieder wie zum Beispiel Erich Mühsam (1978–1934). Sie verbindet den Anarchismus mit einem Stück Leninismus, womit sich zwei Traditionen treffen, die vorher völlig auseinanderfielen.

 

Ich möchte hier nur noch erwähnen, dass Franz Mehring (1846–1919), der eine Geschichte der Sozialdemokratie und auch der Entwicklung des Marx’schen Denkens geschrieben hat,108 als einer von wenigen versucht hat, diesen Streit zwischen Marx und den Anarchisten auf Persönlichkeitsstrukturen zurückzuführen, also auf den Anspruch von Marx, innerhalb der weltweiten Linken das Interpretationsmonopol innezuhaben. Mehring sieht darin auch ein psychologisches Problem und weist das relative Recht des Anarchismus im Marxismus nach. Böse Zungen gehen sogar so weit, zu behaupten, Marx habe eine Reihe von wichtigen Gedanken aus dem Anarchismus übernommen. Das glaube ich nicht. Aber es hat sich in der politischen Geschichte selbst etwas wie eine ewige Wiederkehr des Anarchismus gezeigt, worauf noch einzugehen sein wird.

Worauf ich hier hinauswill, ist der im Anarchismus enthaltene Populismus, seine Ausrichtung auf das Volk. Das Volk ist Adressat seiner Ideen, ob es sich um die Gewaltsamkeit der russischen Anarchisten oder die Gewaltlosigkeit von Landauer handelt. Davon abgesehen, haben wir es dabei aber mit völlig verschiedenen Phänomenen zu tun. Die praktizierenden Anarchisten in Russland warfen Bomben und zwar in der richtigen Erwartung, sogar Engels hat das bestätigt, dass in einem despotischen System, wo sich das Wertgesetz noch nicht entfaltet hat, also ein gesellschaftlicher Zusammenhang durch Personen gestiftet wird, der Wegfall eben dieser Personen eine erhebliche Wirkung entfaltet. Die Personalisierung der Gewalt und der Objekte, die Gegenstand dieser Gewalt sind, sind aufeinander angewiesen. In bestimmten Phasen der Russischen Revolution ging das so weit, dass Engels sagte, vielleicht könnte der Blanquismus in Russland – von Anarchisten zu sprechen, wagte er nicht – wirkungsvoll sein: wenn also eine Handvoll Leute die Lunte an das Pulverfass hält, damit es zur Explosion kommt.109 Die explosive, widersprüchliche Lage verschiedener Produktionsweisen mit einer despotischen Struktur eröffnet individuellem Terror eine Möglichkeit, weil Einzelpersonen, die verschwinden, nicht völlig ersetzbar sind: Die akkumulierte Legitimation eines Potentaten ist in solchen Systemen nicht einfach ersetzbar. Es sind zwar Nachfolgeverhältnisse gesichert, aber das ersetzt nicht diese Legitimation. Insofern hatte natürlich der Anarchismus hier auch seinen Gegenstand und seine Berechtigung.

Der Anarchismus Gustav Landauers ist hingegen ein pazifistischer Anarchismus. Im Übrigen ist es eine der Katastrophen des Anarcho-Syndikalismus in Spanien, dass sie als kommunale Pazifisten bewaffnet gekämpft haben. Die Bauern haben noch aus ihren Lastwagen Panzer gemacht. Da war Phantasie am Werk. Doch als das von oben, von Juan Negrin (1892–1956) diktiert wurde, verloren sie ihre Phantasie und ihre Lust zu kämpfen. Hier sind ganz andere Formen des Anarchismus assimiliert, und natürlich noch ganz andere bei Sorel und anderen. Ich wollte einmal zeigen, dass der Begriff ›Anarchismus‹ nur in einem Punkt Identität herstellt, nämlich was die Produktion des Herrschaftssystems selbst anbetrifft. Da gibt es identische Elemente, insofern, dass alles das als anarchistisch bezeichnet wird, was in irgendeiner Weise dieses Herrschaftssystem infrage stellt. Aber diese Identifikation des Anarchismus hat mit seiner geschichtlichen Gestalt außerordentlich wenig zu tun.

Bildung, Abstraktion und Breitseite der Gewalt

Vorlesung vom 21. November 1974

Die Veranstaltung begann mit einer viertelstündigen studentischen Diskussion über die Arbeitsbedingungen studentischer Tutoren und einen Streik von Studierenden der Germanistik. Hierauf beziehen sich auch die einleitenden Ausführungen von Negt, die sein eigenes Verständnis von dem, was seine Vorlesungen sein sollen, besonders deutlich machen.

Es ist ganz klar, dass in diese Universität gesellschaftliche Konflikte hineinspielen, deren Höhepunkt noch nicht erreicht ist, sondern die sich ungeheuer verschärfen werden. Daneben einen ruhigen Lehrbetrieb aufbauen zu wollen, halte ich für illusionär und ausgeschlossen und auch für fatal für die ablaufenden Bildungsprozesse. Ich glaube nicht, dass man neben diesem explosiven Potenzial, das an der Universität existiert und immer noch verstärkt wird, einfach einen normalen Betrieb aufrechterhalten kann.

Zudem führt der Numerus clausus zu zunehmender Konkurrenz zwischen den Betreffenden, schon bevor sie an die Universität kommen. Das heißt, hier sind auch charakterlich Momente im Spiel, mit denen wir eines Tages rechnen müssen. Die Leute werden wirklich nicht mehr kollektiv arbeiten wollen, sondern ihre Sozialisationsprozesse aus der Schule und ihre entsprechenden Verkümmerungen fortsetzen. Das Potenzial wird sich also verändern, nicht zuletzt durch den absurden Widerspruch eines erleichterten Zugangs zur Universität durch die Immaturenprüfung hier in Niedersachsen einerseits und der ständigen Einschränkung dieser Zugangsmöglichkeiten durch den Numerus clausus andererseits. Ich weiß gar nicht, wo da etwas wie Rationalität, technische Rationalität drinsteckt. Entsprechend werden sich die Explosionen vergrößern.

Dennoch wäre es falsch und ganz fatal, wenn wir nicht versuchen wollten, aus diesem Zusammenhang heraus doch noch Bildungsprozesse zu organisieren, die allerdings auch darauf beruhen, streckenweise tatsächlich Reflexionsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur Theoriebildung, für die Entfaltung eines Theoriebewusstseins zu schaffen. Von Standards will ich gar nicht reden, was eine mir widerliche Verkümmerung des Theorieanspruchs wäre. Es werden hier nicht Standards produziert, sondern ich versuche nichts weiter, als die Tatsache zu verdeutlichen, dass man für Einzelinterpretationen in der Germanistik wie für Forschung in der empirischen Sozialforschung, um Phänomene zu verstehen, Theorie braucht. Das ist unabdingbar. Man kann darauf nicht verzichten und sagen, wir gehen unmittelbar auf die Phänomene zu, denn ohne Theorie gehen wir den Phänomenen auf den Leim. Das können wir natürlich machen, eine Form von Unmittelbarkeit institutionalisieren, das aber führt auch zur völligen Destruktion aller Möglichkeiten von Bildungsprozessen. Was ich hier mache, ist nichts weiter, als eine als sträflich vernachlässigt betrachtete Tradition der Theorie aufzuarbeiten, und ich kann mir durchaus vorstellen, dass das in anderen Disziplinen genauso relevant ist, denn der Theorieüberhang ist nicht so groß, dass man auf ihn verzichten könnte. Vielmehr ist der Theoriemangel derart eklatant, dass beispielsweise Leute in der Germanistik nicht mehr wissen, wie sie ein Gedicht interpretieren sollen, weil sie keine ästhetische Theorie im Kopf haben – und dabei wäre es immer noch besser, eine falsche zu haben als gar keine. An der falschen kann man immerhin das Einzelne nachprüfen.

Die Theorielosigkeit aber ist ein ungeheurer Mangel – auch in der Linken, das ist überhaupt nicht zu bestreiten –, und dieser Theoriemangel ist eine ungeheure Schwierigkeit für alle langfristigen studentischen Bildungsprozesse. Theoriearbeit hat aber eine bestimmte Zeitstruktur: Man kann nicht über Kant diskutieren, wenn man nicht wenigstens vier Wochen etwas über ihn gehört hat. Es ist völlig ausgeschlossen, das muss Unsinn werden. Es lässt sich nicht aus dem hohlen Bauch heraus über den Kategorischen Imperativ diskutieren, den ich hiermit im Übrigen zum ersten Mal erwähne, wie mir auffällt. Man kann darüber nicht diskutieren, wenn man nicht weiß, was es ist, und wenn man weiß, was es ist, weiß man noch lange nicht, was es bedeutet. Erst wenn man mit Begriffen umgehen kann, kann man eines Tages auch wirklich ihren Zusammenhang diskutieren. Das ist genauso mit Dialektik. Die Dialektik aber ist derart auf den Hund gekommen in der Universität, das ist unbeschreiblich.

Das ist die gleiche Situation wie 1850, als Hegel an deutschen Universitäten wirklich tot war und nur die verschiedensten Irrationalismen vom späten Friedrich Schelling (1775–1854) und von Arthur Schopenhauer (1788–1860) sich breitmachten und über Hegel herfielen. Auch heute sind Hegel und die Dialektik nicht mehr da. Das heißt natürlich auch, dass ein zentrales Stück des Marxismus fehlt, woran die eifrige Lektüre des »Kapitals« nichts zu ändern vermag. Es nützt nämlich überhaupt nichts, wenn man sich vom ersten Satz des »Kapitals« bis zum letzten durchzwängt, weil man die darin behandelten Prozesse nicht begreifen kann, wenn man nicht wenigstens ein paar Seiten Hegel gelesen und verstanden hat. Das bedeutet, dass wir von dieser hetzenden, mit heraushängender Zunge den Theorien und den aktuellen Ereignissen nachlaufenden Struktur der Bildungsprozesse wegkommen müssen. Wir müssen einerseits ein Bewusstsein gegenüber dringenden aktuellen Problemen entwickeln und andererseits dafür sorgen, dass eine solche Vorlesung trotz laufender Aktion ungehindert stattfinden kann.

Beides sind unsere Probleme, und es lässt sich nichts davon abtrennen. Ich erinnere mich daran, dass nach dem Putsch in Chile (11.9.1973) der Rosa Luxemburg Kongress in Reggio, Italien ablief. Da fand, das ist kritisch einzuwenden, zum Teil eine Akademisierung statt, doch dabei war die Problematik Chiles permanent präsent, ohne dass der Kongress durch irgendwelche Aktionen unterbrochen worden wäre. Vielmehr sind wir anschließend abends demonstrieren gegangen. Die aktuelle Zerfaserung aber ist etwas Fürchterliches, und das erlebe ich jetzt schon seit 1967.

Ich fing an mit einem Seminar über Marx. Dahin kamen 1000 Leute, und alle waren sie dabei, Cohn-Bendit, Krahl u. a. Das war phantastisch und lief auch die ersten Stunden ausgezeichnet, selbst beim frühen Marx. Aber dann schien ihnen allmählich die Materie zu trocken, auch zeitlich zu weit entfernt und mit den damaligen Ereignissen nicht zu vermitteln. Als ich das merkte, sagte ich mir: »Nimm Lenin, und zwar den Linksradikalismus, das muss doch etwas sein, was sie unmittelbar berührt«, und als wir uns da durchgequält hatten, kam endlich die Institutsbesetzung.110 Befreit zogen die Leute ins Institut und ließen das Seminar fallen. Man merkte buchstäblich die Erlösung, als Genossen auftraten und sagten: »Was sollen wir hier über Lenin diskutieren, da wird das Institut besetzt. Das sind unsere Aufgaben. Also marschieren wir dahin.«

Das ist die Fatalität der Ad-hoc-Gewichtung in der Überzeugung, mit Lenin könne man sich immer noch beschäftigen, aber ein Institut besetzen, das mache man nicht jeden Tag. Diese Kalkulation mit der Aktualität ist etwas ganz Ruinöses. Deshalb müssen wir gemeinsam Formen entwickeln, die an Theoriebildung festhalten in der Überzeugung, dass das langfristig gesehen auch eine politische Tätigkeit ist. Wenn wir in der Beschäftigung mit Kant, Hegel aber nur eine Pflichtübung sehen, dann bedarf es nur noch des Anlasses, um diese Anstrengungen sofort wieder aufzugeben. Das ist genauso, wenn in der traditionellen Schule, Gott sei Dank nicht in allen Schulen, eine Klasse sitzt, die aufmerksam zuhört, was Karl der Große einst gemacht hat, und plötzlich kommt einer mit einem Kaninchen herein: Natürlich springt die Klasse auseinander. Die Autonomie von Aufmerksamkeit muss sich durch die Sache herstellen. Wenn sie nicht da ist, nützt alles nichts. Wenn aber diese Autonomie hergestellt ist, wie in der Glocksee Schule, dann stört eine solche Klasse kein Kaninchen und kein Frosch. Diese Konstitution von Aufmerksamkeit gelingt nur durch eine Form von selbstreguliertem politischem Lernen. Es muss dazu kommen, dass diejenigen, die hier sitzen – und es ist sehr eindrucksvoll, dass hier so viele sitzen –, dass Sie tatsächlich das, was vorgetragen wird, als wichtig für sich selbst betrachten.

Wer hier ist, dem unterstelle ich ein ganz zentrales Interesse und ein Bewusstsein dafür, dass es sich hierbei nicht um eine akademische Angelegenheit handelt – das wäre das schlimmste Missverständnis. Ich betrachte diese Vorlesung nicht als akademische Angelegenheit, und wer sie als solche betrachtet, versteht grundlegend falsch, was ich beabsichtige. Das bedeutet natürlich nicht, dass man bei jedem nachprüfen kann, ob er es richtig oder falsch versteht, und schon gar nicht, dass jeder reden muss oder das nur in Kleingruppen aufarbeiten könnte. Es vollziehen sich Bildungsprozesse auch dadurch, dass Leute aufmerksam zuhören. Meine Bildungsprozesse zum Beispiel sind wesentlich durch Zuhören gelaufen. Ich habe bei Adorno kaum je ein Wort gesagt. Das heißt aber nicht, dass ich nicht wirklich gearbeitet hätte. Dieser ständige Druck, etwas sagen zu müssen und nicht zu können, nicht zu wissen was, führt doch zu Blockierungen. Ich sehe daher in der Vorlesung keinen Rückschritt zur Tradition, sondern auch eine Reaktion aus Unzufriedenheit mit bestimmten Kleingruppenarbeiten. Zwar ist es in Einführungsseminaren absolut notwendig, dass kleine Gruppen einen Text interpretieren und sich den erarbeiten. Aber es gibt Stufen im Bildungsprozess, auf denen diese Kleingruppen ruinös sind.

 

Aktuell geht es mir nicht darum, den Protest der Tutoren abzuschneiden oder abzuwürgen. Ich bin überzeugt, da besteht ein Ausbeutungsverhältnis gegenüber Leuten, die häufig mehr machen in der Universität als Hochschullehrer. Das muss tatsächlich verschwinden, und es gibt keine anderen Möglichkeiten, als das mit manifesten Streiks und so weiter zu machen. Diese Sache halte ich für außerordentlich wichtig, und ich solidarisiere mich auch vollkommen mit diesen Protesten. Gleichzeitig möchte ich aber daran festhalten, dass wir in unserem Zusammenhang an dem Faden weiterspinnen, den wir bereits aufgenommen haben, weil ich glaube, dass bei den hier Anwesenden auch große Theoriebedürfnisse bestehen, und das ist nur durch eine bestimmte Abstraktion von der unmittelbaren Praxis zu machen.

Ich habe in der letzten Stunde den Versuch unternommen, bestimmte Kriterien und Merkmale der deutschen Geistesgeschichte im Interpretationszusammenhang von Kant und Hegel aufzuzeigen, wobei die Beziehung zwischen Politik und Moral ins Zentrum rückte. Dieses Verhältnis ist außerordentlich in dem Sinne, dass sich in Deutschland nie wie in Westeuropa eine politische Sphäre ausgebildet hat, die von jener der traditionellen, vorbürgerlichen Gewalten abgetrennt war. Das bedeutet, dass die Tendenz zur Moralisierung und Verinnerlichung des Politischen und weiter gefasst zur Umsetzung revolutionärer Bewegungen in Denkweisen ein Strukturelement dieser deutschen Geschichte gewesen und geblieben ist. Diese Form der objektiven Einhelligkeit, wie Kant sagt, von Politik und Moral hat immer auch den deutschen Politikbegriff bestimmt. Dieser hatte nie die liberale, abwägende, kommunikative Struktur, wie sie im Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeprägt ist. Habermas hat im Öffentlichkeitsbuch111 analysiert, wie sich auf der Ebene der Kommunikation, der Verständigung von Privatleuten politische Entscheidungen vollziehen. Diese Kommunikationsebene hat sich jedoch in Deutschland nie als eine autonome ausgebildet, anders als zum Beispiel in England oder in Frankreich während der Revolution ab 1789 und zum Teil auch in den späteren Revolutionen. Das bedeutet, dass in Deutschland ein Überhang von Innerlichkeit vorliegt, der auch die Linke mitbetrifft, ein Überhang von Moralität und Willen gegenüber einer sich nicht dem Willen gemäß strukturierenden Realität, der zugleich produziert ist von dieser Realität: Als Ergebnis der Realität stellt sich der Wille dieser Realität gegenüber – das ist die eigentliche Dialektik, die Hegel im Kapitel »Die absolute Freiheit und der Schrecken« entfaltet. Ein Produkt der Abstraktion stellt sich demgegenüber, wovon es abstrahiert ist. Das heißt aber, eine gewaltsame Auflösung trifft zwangsläufig beide Abstraktionen. Es gibt den berühmten Satz von Hegel, den Krahl mal als Motto völlig richtig benutzt hat: Abstraktionen zu realisieren, heißt Realität zerstören, Abstraktionen verwirklichen, in die Wirklichkeit umsetzen, heißt Wirklichkeit zerstören.112

Was bedeutet das? Abstraktionen, die Momente eines Ganzen fixieren, festhalten und als das Ganze setzen, sind in dem Augenblick, da sie von der Realität abgezogen werden, der Realität als Komplexität nicht mächtig. Die Breitseite der Gewalt, wie Hegel sagt, läuft immer zuungunsten dessen, der Gewalt ausübt, und mit der Breitseite der Gewalt verändern sich nicht die Verhältnisse. Hegel hat sehr wohl begriffen, dass die geschichtliche Entwicklung wesentlich durch Gewalt abläuft. Gewalt und List sind eigentlich die beiden konstitutiven Elemente der Geschichte, aber es geht dabei um eine Gewalt, die durch die Objekte hindurchgeht, die sich ihnen nicht gegenüberstellt. Mit anderen Worten: Eine Gewalt, eine Abstraktion ist nur dann der Realität mächtig, wenn sie in die Bewegungsgesetze der Realität eingeht und sie als Hebel für ihre eigenen Zwecke benutzt. Das ist geschichtlich gesehen ein Stück List, eine List der Vernunft. Diese benutzt etwas ganz anderes, die Realität, für eigene Zwecke, sie benutzt vorhandene Gewalt, um sie im eigenen Sinne umzusetzen. Sie benutzt die Naturgesetze, um sie für sich und ihre eigenen Zwecke arbeiten zu lassen. Subjektivität schaltet sich dabei in die Realität ein und stellt sich ihr nicht gegenüber, sondern schaltet sich als wollende Subjektivität, als mit Willen begabte Subjekte in die Realität mit ein und bringt sie in Hegel’scher Terminologie auf ihren Begriff. Das heißt, Gewalt ist bei Hegel immer mit einem Stück List verbunden. Man überlistet die Realität dadurch, dass man mehr weiß als sie selbst, dass man ein höheres Bewusstsein als der Gegner hat. Dieses höhere Bewusstsein bedeutet, dass man die eigenen Mechanismen der Realität besser begriffen hat, als sich die Realität selbst begreift. Nur das ermöglicht listiges Verhalten, und nur das bedeutet ein Verhalten, in dem Realität für eigene Zwecke mobilisierbar ist und sich nicht einfach der abstrakten Macht, der abstrakten Gewalt überstülpt und kaputtmacht. Das meint diese »Breitseite der Gewalt«, mit der man nichts an der Realität ändert. Mit der Breitseite der Gewalt gegen die Realität vorgehen, bedeutet vielmehr, einzelne Momente dieser Realität zu zerstören, dabei aber gleichzeitig selbst zerstört zu werden. Das Opfer ist gesetzt in der Zerstörung von einzelnen Elementen dieser Realität. Die Breitseite der Gewalt ist immer das Produkt bestehender Verhältnisse.

Napoleons Erfolg bestand darin, um das an einem historischen Beispiel zu veranschaulichen, dass er im höchsten strategischen und politischen Bewusstsein, das von der Französischen Revolution herrührte, begriffen hatte, dass die feudalen Systeme partikulare Gewaltverhältnisse aufrechterhielten und perpetuierten, die nicht mehr das Ganze der Gesellschaft ausdrückten. Deshalb konnte er diese Gewaltverhältnisse selbst noch als Hebel benutzen, um sie zu zerstören. Seine ganze Bündnispolitik war auf diese Zerstörung gerichtet, und selbst seine militärischen Siege verdanken sich seinem geschichtlichen Bewusstsein von der Überholtheit etwa des Systems der geschlossenen Schlachtordnung, die Friedrich der II. entwickelt hatte. Denn diese Schlachtordnung bestand vor allem darin, Disziplin aufrechtzuerhalten, damit die Soldaten nicht wegliefen. Die Technologie, über die Napoleon verfügte, war genau die partikulare Gewalt, um diese Systeme und Heere zu zerstören.

Nun vollzieht sich in dieser Gewaltfrage eine Transposition, die sich gleichermaßen fast wörtlich bei Kant und Hegel findet und die eben für die deutsche Situation kennzeichnend ist. Die Materialität der Revolution, die schon Kant in Zweifel zog, wurde auf Geschichtszeichen, auf Symbole, auf Fanale und so weiter reduziert, ihres materiellen Charakters entkleidet. Das heißt, sie wurde in die Komplexität von Subjekten transponiert, aufgenommen, subjektiviert, und da, frei von Materialität, in aller Kompliziertheit entwickelt. Das bedeutet, der deutsche Idealismus ist sicherlich auch ein Abwehrprodukt dieser Revolution, also eine Verarbeitung von bedrohlicher Realität.