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Übrigens wird man nun begreifen, warum (wenn nicht Eitelkeit, Tratschsucht oder Nachahmungslust dazu treibt) nur bessere Menschen Erinnerungen aus ihrem Leben niederschreiben, und wie ich hierin eine Hauptstütze des Zusammenhanges von Gedächtnis und Begabung erblicke. Nicht als ob jeder geniale Mensch auch eine Autobiographie abfassen würde: um zur Selbstbiographie zu schreiten, dazu sind noch gewisse spezielle, sehr tief liegende psychologische Bedingungen nötig. Aber umgekehrt ist die Abfassung einer vollständigen Selbstbiographie, wenn sie aus originärem Bedürfnis heraus erfolgt, stets ein Zeichen eines höheren Menschen. Denn gerade im wirklich treuen Gedächtnis liegt auch die Wurzel der Pietät. Ein bedeutender Mensch, vor das Ansinnen gestellt, seine Vergangenheit um irgend welcher äußerer materieller oder innerer hygienischer Vorteile willen preiszugeben, würde es zurückweisen, auch wenn ihm die größten Schätze der Welt, ja das Glück selbst, fürs Vergessen in Aussicht gestellt würden. Der Wunsch nach dem Trank aus dem Lethestrom ist ein Zug mittlerer und minderer Naturen. Und mag ein wahrhaft hervorragender Mensch nach dem Goetheschen Worte gegen eben abgelegte eigene Irrtümer sehr streng und heftig auch dort sein, wo er andere an ihnen festhalten sieht, so wird er doch sein vergangenes Tun und Lassen nie belächeln, über seine frühere Denk- und Lebensweise sich niemals lustig machen. Die heute so sehr ins Kraut geschossenen »Überwinder« verdienen rechtens alles andere eher denn diesen Namen: Menschen, die anderen spöttisch erzählen, was sie einst alles geglaubt, und wie sie all das »überwunden« hätten, denen war es mit dem Alten nicht Ernst, denen ist am Neuen ebensowenig gelegen. Ihnen kommt es immer nur auf die Instrumentation, nie auf die Melodie an; kein Stadium von all den »überwundenen« war wirklich in ihrem Wesen tief gegründet. Dagegen beobachte man, mit welch weihevoller Sorgfalt große Männer in ihren Selbstbiographien selbst den scheinbar geringfügigsten Dingen einen Wert beilegen: denn für sie ist Gegenwart und Vergangenheit gleich, für jene keine von beiden wahr. Der hervorragende Mensch fühlt, wie alles, auch das Kleinste, Nebensächlichste, in seinem Leben eine Wichtigkeit gewonnen, wie es ihm zu seiner Entwicklung mitverholfen hat, und daher die außerordentliche Pietät seiner Memoiren. Und eine solche Autobiographie wird sicherlich nicht etwa auf einmal, einem anderen Einfall vergleichbar, unvermittelt niedergeschrieben, der Gedanke hiezu entsteht in ihm nicht plötzlich; sie ist für den großen Menschen, der eine schreibt, sozusagen immer fertig. Gerade weil das bisherige Leben ihm immer ganz gegenwärtig ist, darum empfindet er seine neuen Erlebnisse als für ihn bedeutsam, darum hat er und eigentlich nur er ein Schicksal. Und davon rührt es zunächst auch her, daß gerade die bedeutendsten Menschen immer viel abergläubischer sein werden als mittelmäßige Köpfe. Man kann also zusammenfassend sagen:

Ein Mensch ist um so bedeutender, je mehr alle Dinge für ihn bedeuten.

Im Laufe der ferneren Untersuchung wird diesem Satze, außer der Universalität der verständnisvollen Beziehung und der erinnernden Vergleichung, noch ein tieferer Sinn allmählich unterlegt werden können.

Wie es in diesen Hinsichten mit dem Weibe steht, ist nicht schwer zu sagen. Das echte Weib kommt nie zum Bewußtsein eines Schicksals, seines Schicksals; das Weib ist nicht heroisch, denn es kämpft höchstens für seinen Besitz, und es ist nicht tragisch, denn sein Los entscheidet sich mit dem Lose dieses Besitzes. Da das Weib ohne Kontinuität ist, kann es auch nicht pietätvoll sein; in der Tat ist Pietät eine durchaus männliche Tugend. Pietätvoll ist man zunächst gegen sich, und Pietät gegen sich Bedingung aller Pietät gegen andere. Aber eine Frau kostet es recht wenig Überwindung, über ihre Vergangenheit den Stab zu brechen; wenn das Wort Ironie am Platze wäre, so könnte man sagen, daß nicht leicht ein Mann sein vergangenes Selbst so ironisch und überlegen betrachten wird, wie die Frauen dies oftmals – nicht nur nach der Hochzeitsnacht – zu tun pflegen. Es wird sich noch Gelegenheit finden, darauf hinzuweisen, wie die Frauen eigentlich das Gegenteil von all dem wollen, dessen Ausdruck die Pietät ist. Was endlich die Pietät der Witwen anlangt – doch von diesem Gegenstande will ich lieber schweigen. Und der Aberglaube der Frauen schließlich ist psychologisch ein durchaus anderer als der Aberglaube hervorragender Männer.

Das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, wie es in der Pietät zum Ausdrucke kommt und auf dem kontinuierlichen Gedächtnis beruht, das selbst wieder nur durch die Apperzeption ermöglicht ist, läßt sich noch in weiteren Zusammenhängen zeigen und zugleich tiefer analysieren. Damit nämlich, ob ein Mensch überhaupt ein Verhältnis zu seiner Vergangenheit hat oder nicht, hängt es außerordentlich innig zusammen, ob er ein Bedürfnis nach Unsterblichkeit fühlen oder ob ihn der Gedanke des Todes gleichgültig lassen wird.

Das Unsterblichkeitsbedürfnis wird zwar heute recht allgemein sehr schäbig und von oben herab behandelt. Das Problem, das aus ihm erwächst, macht man sich nicht etwa bloß als ein ontologisches, sondern auch als ein psychologisches schmachvoll leicht. Der eine will es, zugleich mit dem Glauben an die Seelenwanderung, damit erklärt haben, daß in vielen Menschen Situationen, in welche sie sicherlich zum ersten Male geraten sind, das Gefühl erwecken, als hätten sie dieselben schon einmal durchlebt. Die andere, heute allgemein adoptierte Ableitung des Unsterblichkeitsglaubens aus dem Seelenkult, wie sie sich bei Tylor, Spencer, Avenarius findet, wäre von jedem anderen Zeitalter als dem der experimentellen Psychologie a priori zurückgewiesen worden. Es sollte doch, meine ich, jedem Denkenden völlig unmöglich erscheinen, daß etwas, woran so vielen Menschen gelegen, wofür so gekämpft und gestritten worden ist, bloß das letzte Schlußglied eines Syllogismus bilden könnte, dessen Prämisse etwa die nächtlichen Traumerscheinungen Verstorbener gewesen wären. Und welche Phänomene zu erklären ist wohl jene felsenfeste Meinung von ihrem Weiterleben nach dem Tode ersonnen worden, die Goethe, die Bach gehabt haben, auf welches »Pseudoproblem« läßt sich das Unsterblichkeitsbedürfnis zurückführen, das aus Beethovens letzten Sonaten und Quartetten zu uns spricht? Der Wunsch nach der persönlichen Fortdauer muß gewaltigeren Quellen entströmt sein als jenen rationalistischen Springbrunnen.

Dieser tiefere Ursprung hängt mit dem Verhältnisse des Menschen zu seiner Vergangenheit lebhaft zusammen. Im Sichfühlen und Sichsehen in der Vergangenheit liegt ein mächtiger Grund des Sichweiterfühlen-, Sichweitersehenwollens. Wem seine Vergangenheit wert ist, wer sein Innenleben, mehr als sein körperliches Leben, hochhält, der wird es auch an den Tod nicht hingeben wollen. Daher tritt primäres, originelles Unsterblichkeitsbedürfnis bei den größten Genien der Menschheit, den Menschen mit der reichsten Vergangenheit, am stärksten, am nachhaltigsten auf. Daß dieser Zusammenhang der Unsterblichkeitsforderung mit dem Gedächtnis wirklich besteht, erhellt daraus, was Menschen, die aus Todesgefahr errettet werden, von sich übereinstimmend aussagen. Sie durchleben nämlich, wenn sie auch sonst nie viel an ihre Vergangenheit gedacht haben, nun plötzlich auf einmal mit rasender Geschwindigkeit ihre ganze Lebensgeschichte nochmals, und erinnern sich innerhalb weniger Sekunden an Dinge, welche Jahrzehnte lang ihnen nicht ins Bewußtsein zurückgekommen sind. Denn das Gefühl dessen, was ihnen bevorsteht, bringt – abermals vermöge des Kontrastes – all das ins Bewußtsein, was nun für immer vernichtet werden soll.

Wir wissen ja sehr wenig über die geistige Verfassung Sterbender. Es gehört auch ein mehr als gewöhnlicher Mensch dazu, um zu erkennen, was in einem Sterbenden vorgeht; anderseits sind Verscheidende aus den dargelegten Gründen gerade von besseren Menschen meistens gemieden. Aber es ist wohl gänzlich unrichtig, die in so vielen Todkranken plötzlich auftretende Religiosität nur auf die bekannte Erwägung »vielleicht doch, sicher ist sicher« zurückzuführen; und sehr oberflächlich, anzunehmen, bloß die sonst nie beachtete tradierte Höllenlehre gewinne nun plötzlich gerade in der Todesstunde so viel Kraft, daß es dem Menschen unmöglich werde, mit einer Lüge zu sterben.21 Denn dies ist das Wichtigste: Warum fühlen Menschen, die ein durch und durch verlogenes Leben geführt haben, nun plötzlich den Drang nach der Wahrheit? Und warum macht es auch auf denjenigen, der nicht an Strafen im Jenseits glaubt, einen so entsetzlichen Eindruck, wenn er vernimmt, ein Mensch sei mit einer Lüge, mit einer unbereuten Schlechtigkeit verschieden, warum hat beides, sowohl die Verstocktheit bis zum Schlusse, als auch die Umkehr vor dem Tode, die Dichter so oft mächtig gereizt? Die Frage nach der »Euthanasie der Atheisten«, die man im XVIII. Jahrhundert so häufig aufwarf, ist also keine ganz sinnlose, und nicht bloß ein historisches Kuriosum, als welches sie von Friedrich Albert Lange behandelt wurde.

Ich erwähne dies alles nicht allein, um eine Möglichkeit zu erörtern, welcher kaum der Rang einer Vermutung zukommt. Undenkbar nämlich scheint es mir, da viel mehr Menschen »genial« sind, als es »Genies« gibt, nicht zu sein, daß die quantitative Differenz in der Begabung vor allem in dem Zeitpunkte zum Ausdruck komme, in welchem die Menschen zum Genie werden. Für eine größere Anzahl fiele dieser Augenblick mit ihrem natürlichen Tode zusammen. Wurden wir schon früher dahin geführt, die genialen Menschen nicht etwa, wie die Steuerzahler von einem bestimmten jährlichen Einkommen ab, als von allen anderen Menschen durch eine scharfe Grenze getrennt anzusehen, so vereinigen sich diese neuen Betrachtungen mit jenen alten. Und ebenso wie die erste Kindheitserinnerung des Menschen nicht mit einem, den früheren Lauf der Dinge unterbrechenden, äußeren Ereignis verknüpft ist, sondern plötzlich, unscheinbar, infolge einer inneren Entwicklung, für jeden früher oder später ein Tag kommt, an welchem das Bewußtsein so intensiv wird, daß eine Erinnerung bleibt, und von nun an, je nach der Begabung, mehr oder weniger zahlreiche Erinnerungen beharren – ein Faktum, das allein die ganze moderne Psychologie umstößt – so bedürfte es bei den verschiedenen Menschen verschieden vieler Stöße, um sie zu genialen zu machen, und nach der Zahl dieser Bewußtseinsstöße, deren letzter in der Todesstunde erfolgte, wären die Menschen ihrer Begabung gemäß zu klassifizieren. Bei dieser Gelegenheit will ich noch darauf hinweisen, wie falsch die Lehre der heutigen Psychologie ist (für die das menschliche Individuum eben nur wie ein besserer Registrierapparat in Betracht kommt und keinerlei von innen kommende, ontogenetische geistige Entwicklung besitzt), daß im jugendlichen Alter die größte Anzahl von Eindrücken behalten werden. Man darf die erlebten Impressionen nicht mit dem äußerlichen und fremden Gedächtnisstoff verwechseln. Diesen nimmt das Kind gerade deshalb um so viel leichter auf, weil es noch so wenig von Gemütseindrücken beschwert ist. Eine Psychologie, die in so fundamentalen Dingen der Erfahrung zuwiderläuft, hat allen Anlaß zur Einkehr, zur Umkehr. Was hier versucht wurde, ist kaum eine Andeutung von jener ontogenetischen Psychologie oder theoretischen Biographie, die über kurz oder lang die heutige Wissenschaft vom menschlichen Geiste zu verdrängen berufen ist. – Jedes Programm enthält implicite eine Überzeugung, jedem Ziele des Willens gehen bestimmte Vorstellungen realer Verhältnisse voran. Der Name »theoretische Biographie« soll das Gebiet gegen Philosophie und Physiologie besser als bisher abstecken, und die biologische Betrachtungsweise, welche von der letzten Richtung in der Psychologie (Darwin, Spencer, Mach, Avenarius) einseitig hervorgekehrt und zum Teil arg übertrieben worden ist, doch dahin erweitern, daß eine solche Wissenschaft über den gesamten gesetzmäßigen geistigen Lebensverlauf als Ganzes, von der Geburt bis zum Tode eines Menschen, Rechenschaft zu geben hätte, wie über Entstehen und Vergehen und alle einzelnen Lebensphasen irgend einer Pflanze. Und Biographie, nicht Biologie, sollte sie genannt werden, weil ihre Aufgabe in der Erforschung gleichbleibender Gesetze der geistigen Entwicklung des Individuums liegt. Bisher kennt alle Geschichtsschreibung jeglicher Gattung nur Individualitäten, βίοι. Hier aber würde es sich darum handeln, allgemeine Gesichtspunkte zu gewinnen, Typen festzuhalten. Die Psychologie müßte anfangen, theoretische Biographie zu werden. Im Rahmen einer solchen Wissenschaft könnte und würde alle bisherige Psychologie aufgehen, und erst dann nach dem Wunsche Wilhelm Wundts eine fruchtbare Grundlage für die Geisteswissenschaften wirklich abgeben. Es wäre verfehlt, an dieser Möglichkeit darum zu verzweifeln, weil die heutige Psychologie, welche eben jene ihre eigentliche Aufgabe als ihr Ziel noch gar nicht begriffen hat, auch völlig außerstande ist, den Geisteswissenschaften das Geringste zu bieten. Hierin dürfte, trotz der großen Klärung, welche Windelbands und Rickerts Untersuchungen über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften mit sich gebracht haben, doch eine Berechtigung liegen, neben der neuen Einteilung der Wissenschaften in »Gesetzes-« und »Ereignis«-Wissenschaften, in »nomothetische« und »idiographische« Disziplinen, die Millsche Zweiteilung von Natur- und Geisteswissenschaften beizubehalten. – —

 

Mit der Deduktion des Unsterblichkeitsbedürfnisses, welche dieses in einen Konnex mit der kontinuierlichen Form des Gedächtnisses und der Pietät brachte, stimmt es vollständig überein, daß den Frauen jegliches Unsterblichkeitsbedürfnis völlig abgeht. Auch ist hieraus mit Sicherheit zu entnehmen, wie sehr jene unrecht haben, welche in dem Postulat der persönlichen Fortexistenz bloß einen Ausfluß der Todesfurcht und des leiblichen Egoismus sehen, und hiemit eigentlich der populärsten Meinung über allen Ewigkeitsglauben Ausdruck geben. Denn die Angst vor dem Sterben findet sich bei Frauen wie bei Männern, das Unsterblichkeitsbedürfnis ist auf diese beschränkt.

Die von mir versuchte Erklärung des psychologischen Wunsches nach Unsterblichkeit ist indessen bislang mehr ein Aufzeigen einer Verbindung, die zwischen ihm und dem Gedächtnisse besteht, als eine wahrhaft strenge Ableitung aus einem höheren Grundsatze. Daß hier eine Verwandtschaft da ist, wird man immer bewahrheitet finden: je mehr ein Mensch in seiner Vergangenheit lebt – nicht, wie man bei oberflächlichem Hinsehen glauben könnte, in seiner Zukunft – desto intensiver wird sein Unsterblichkeitsverlangen sein. Ebenso kommt bei den Frauen der Mangel an dem Bedürfnis eines Fortlebens nach dem Tode mit ihrem Mangel an sonstiger Pietät gegen die eigene Person überein. Dennoch scheint, wie diese Abwesenheit bei der Frau noch nach einer tieferen Begründung und Ableitung beider aus einem allgemeineren Prinzipe verlangt, so auch beim Manne das Beisammensein von Gedächtnis und Unsterblichkeitsbedürfnis auf eine gemeinsame, noch bloßzulegende Wurzel beider hinzuweisen. Denn was bisher geleistet wurde, war doch nur der Nachweis, daß und wie sich das Leben in der eigenen Vergangenheit und ihre Schätzung mit der Hoffnung auf ein Jenseits im selben Menschen zusammenfinden. Den tieferen Grund dieses Zusammenhanges zu erforschen, wurde noch gar nicht als Aufgabe betrachtet. Nun aber ist auch an deren Lösung heranzutreten.

Gehen wir von der Formulierung aus, die wir dem universellen Gedächtnis des bedeutenden Menschen gaben. Ihm sei alles, das längst Entwirklichte wie das eben erst Entschwundene, gleich wahr. Hierin liegt, daß das einzelne Erlebnis nicht mit dem Zeitmoment, in dem es gesetzt ist, so wie dieses Zeitatom selbst verschwindet, untergeht, daß es nicht an den bestimmten Zeitaugenblick gebunden bleibt, sondern ihm – eben durch das Gedächtnis – entwunden wird. Das Gedächtnis macht die Erlebnisse zeitlos, es ist, schon seinem Begriffe nach, Überwindung der Zeit. An Vergangenes kann sich der Mensch nur darum erinnern, weil das Gedächtnis es vom Einfluß der Zeit befreit, die Geschehnisse, die überall sonst in der Natur Funktionen der Zeit sind, hier im Geiste über die Zeit hinausgehoben hat.

Doch hier steigt scheinbar eine Schwierigkeit vor uns auf. Wie kann das Gedächtnis eine Negation der Zeit in sich schließen, da es doch anderseits gewiß ist, daß wir von der Zeit nichts wüßten, wenn wir kein Gedächtnis hätten? Sicherlich wird uns immer und ewig nur durch Erinnerung an Vergangenes zum Bewußtsein gebracht, daß es einen Ablauf der Zeit gibt. Wie kann also von dem, was so enge zusammenhängt, das eine das Gegenteil und die Aufhebung des anderen bedeuten?

Die Schwierigkeit löst sich leicht. Eben weil ein beliebiges Wesen – es braucht nicht der Mensch zu sein – wenn es mit Gedächtnis ausgestattet ist, mit seinen Erlebnissen nicht einfach in den Zeitverlauf eingeschaltet ist, darum kann ein solches Wesen dem Zeitverlauf gegenübertreten, ihn auffassen, ihn zum Gegenstande der Betrachtung machen. Wäre das einzelne Erlebnis dem übrigen Zeitverlauf anheimgegeben, würde es ihm verfallen und nicht aus ihm gerettet werden durch das Gedächtnis, müßte es mit der Zeit sich ändern wie eine abhängige Variable mit ihrer Unabhängigen, stünde der Mensch mitten im zeitlichen Fluß des Geschehens darinnen, so könnte dieser ihm nicht auffallen, nicht bewußt werden – Bewußtsein setzt Zweiheit voraus – er könnte nie das Objekt, der Gedanke, die Vorstellung des Menschen sein. Man muß irgendwie die Zeit überwunden haben, um über sie reflektieren, man muß irgendwie außerhalb der Zeit stehen, um sie betrachten zu können. Dies gilt nicht nur von jeder besonderen Zeit – in der Leidenschaft selbst kann man über die Leidenschaft nicht nachdenken, man muß erst zeitlich über sie hinausgekommen sein – sondern ebenso vom allgemeinen Begriffe der Zeit. Gäbe es nicht ein Zeitloses, so gäbe es keine Anschauung der Zeit.

Gedenken wir, um dieses Zeitlose zu erkunden, vorläufig dessen, was durch das Gedächtnis der Zeit wirklich entrückt wird. Als solches hat sich all das ergeben, was für das Individuum von Interesse ist oder eine Bedeutung hat, oder, wie kurz gesagt werden soll, alles, was für das Individuum einen Wert besitzt. Man erinnert sich nur an solche Dinge, die für die Person einen, wenn auch oft lange unbewußten, Wert gehabt haben: dieser Wert gibt ihnen die Zeitlosigkeit. Man vergißt alles, was nicht irgendwie, wenn auch oft unbewußt, von der Person gewertet wurde.

Der Wert ist also das Zeitlose; und umgekehrt: ein Ding hat destomehr Wert, je weniger es Funktion der Zeit ist, je weniger es mit der Zeit sich ändert. In alles auf der Welt strahlt sozusagen nur so viel Wert ein, als es zeitlos ist: nur zeitlose Dinge werden positiv gewertet. Dies ist, wenn auch, wie ich glaube, noch nicht die tiefste und allgemeinste Definition des Wertes und keine völlige Erschöpfung seines Wesens, doch das erste spezielle Gesetz aller Werttheorie.

Eine eilende Rundsicht wird genügen, um es überall nachzuweisen. Man ist immer geneigt, die Überzeugung desjenigen gering zu schätzen, der erst vor kurzem zu ihr gelangt ist, und wird auf die Äußerungen eines Menschen überhaupt nicht viel Wert legen, dessen Ansichten noch im Flusse begriffen sind und sich fortwährend ändern. Eherne Unwandelbarkeit hingegen wird stets Respekt einflößen, selbst wenn sie in den unedlen Formen der Rachsucht und des Starrsinns sich offenbart; ja auch, wenn sie aus leblosen Gegenständen spricht: man denke an das »aere perennius« der Poeten und an die »Quarante siècles« der Pyramiden Ägyptens. Der Ruhm oder das gute Angedenken, die ein Mensch hinterläßt, würden durch die Vorstellung sofort entwertet, daß sie nur kurze Zeit, und nicht lange, womöglich ewig, währen sollten. Ein Mensch vermag ferner nie positiv zu werten, daß er sich immerfort ändert; gesetzt, er täte dies in irgend welcher Beziehung, und es würde ihm nun gesagt, daß er jedesmal von einer neuen Seite sich zeige, so mag er freilich dessen sogar froh und stolz auf diese Eigenschaft sein können, doch ist es natürlich nur die Konstanz, die Regelmäßigkeit und Sicherheit dieser Andersheiten, deren er sich dann freute. Der Lebensmüde, für den es keinen Wert mehr gibt, hat eben an keinem Bestande mehr ein Interesse. Die Furcht vor dem Erlöschen einer Familie und dem Aussterben ihres Namens gehören ganz hieher.

Auch jede soziale Wertung, die etwa in Rechtssatzungen und Verträgen sichtbar wird, tritt, ob auch Gewohnheit, tägliches Leben an ihnen Verschiebungen vornehmen mögen, von Anbeginn mit dem Anspruch auf zeitlose Geltung selbst dann auf, wenn ihre Rechtskraft ausdrücklich (ihrem Wortlaute nach) nur bis zu einem bestimmten Termin erstreckt wird: denn gerade hiemit erscheint die Zeit als Konstante speziell gewählt, und nicht als Variable angesehen, in Abhängigkeit von welcher die vereinbarten Verhältnisse stetig oder unstetig sich irgend ändern könnten. Freilich wird auch hier zum Vorschein kommen, daß ein Ding um so höher gewertet wird, je länger seine Dauer ist; denn niemand glaubt, wenn zwischen zwei rechtlichen Kontrahenten ein Pakt auf sehr kurze Zeit geschlossen wird, daß den beiden viel an dem Vertrage liege; sie selbst, die ihn geschlossen haben, werden in diesem Falle nicht anders gestimmt sein, und von Anfang an, trotz allen Akten, sich vorsehen und einander mißtrauen.

In dem aufgestellten Gesetze liegt auch die wahre Erklärung dafür, daß die Menschen Interessen über ihren Tod hinaus haben. Das Bedürfnis nach dem Wert äußert sich in dem allgemeinen Bestreben, die Dinge von der Zeit zu emanzipieren, und dieser Drang erstreckt sich selbst auf Verhältnisse, die »mit der Zeit« früher oder später doch sich ändern, z. B. auf Reichtum und Besitz, auf alles, was man »irdische Güter« zu heißen pflegt. Hierin liegt das tiefe psychologische Motiv des Testamentes, der Vermachung einer Erbschaft. Nicht aus der Fürsorge für die Angehörigen hat diese Erscheinung ihren Ursprung genommen. Auch der Mann ohne Familie und ohne Angehörige macht sein Testament, ja gerade er wird sicher im allgemeinen mit weit größerem Ernst und tieferer Hingabe zu dieser Handlung schreiten als der Familienvater, der seine Spuren mit dem eigenen Tode nicht so gänzlich aus Sein und Denken der anderen ausgelöscht weiß. Der große Politiker und Herrscher, besonders aber der Despot, der Mann des Staatsstreiches, dessen Regiment mit seinem Tode endet, sucht diesem Wert zu verleihen, indem er Zeitloses mit ihm verknüpft: durch ein Gesetzbuch oder eine Biographie des Julius Cäsar, allerhand große geistige Unternehmungen und wissenschaftliche Kollektivarbeiten, Museen und Sammlungen, Bauten aus hartem Fels (Saxa loquuntur), am eigentümlichsten durch Schaffung oder Regulierung eines Kalenders den Moment zu verewigen strebt. Aber er sucht auch seiner Macht selbst, schon für seine Lebzeiten, möglichste Dauer zu verleihen, nicht allein in wechselseitiger Sicherung durch Verträge, in Herstellung nie wieder zu verwischender verwandtschaftlicher Beziehungen vermöge diplomatischer Heiraten: sondern vor allem durch Wegräumung alles dessen, was den ewigen Bestand seiner Herrschaft bloß durch sein freies Dasein noch je in Frage stellen könnte. So wird der Politiker zum Eroberer.

 

Die psychologischen und philosophischen Untersuchungen zur Werttheorie haben das Gesetz der Zeitlosigkeit gar nicht beachtet. Allerdings waren sie zum großen Teile von den Bedürfnissen der Wirtschaftslehre beeinflußt und suchten selbst auf diese überzugreifen. Doch glaube ich darum nicht, daß das neuentwickelte Gesetz in der politischen Ökonomie keine Geltung habe, weil es hier viel öfter als in der Psychologie durch Komplikationen verundeutlicht wird. Auch wirtschaftlich hat alles desto mehr Wert, je dauerhafter es ist. Wessen Konservierungsfähigkeit sehr eingeschränkt ist, so daß es etwa nach einer Viertelstunde zu Grunde ginge, wenn ich es nicht kaufte, das werde ich überall dort, wo nicht durch feste Preise der moralische Wert des geschäftlichen Unternehmens über zeitliche Schwankungen emporgehoben werden soll, zu später Stunde, etwa vor Einbruch der Nacht, um billigeres Geld erhalten. Man denke auch an die vielen Anstalten zur Bewahrung vor dem Zeiteinfluß, zur Erhaltung des Wertes (Lagerhäuser, Depots, Keller, Réchauds, alle Sammlungen mit Kustoden). Es ist selbst hier ganz unrichtig, den Wert, wie es von den psychologischen Werttheoretikern meist geschieht, als dasjenige zu definieren, was geeignet sei, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Denn auch die Launen des Menschen gehören zu seinen (momentanen) Bedürfnissen, und doch gibt es nichts aller Werthaltung mehr Entgegengesetztes als eben die Laune. Die Laune kennt keinen Wert, sie verlangt nach ihm höchstens, um ihn im nächsten Augenblicke zu zerbrechen. So ist das Moment der Dauer aus dem Wertbegriff nicht zu eliminieren. Selbst die Erscheinungen, welche man nur mit Hilfe der Mengerschen Theorie vom »Grenznutzen« erklären zu können vermeint hat, ordnen sich meiner Auffassung unter (ohne daß diese natürlich im geringsten sich anmaßt, an sich etwas für die Nationalökonomie leisten zu können). Daß Luft und Wasser keinen Wert haben, liegt nach ihr nämlich daran, daß nur irgendwie individualisierte, geformte Dinge positiv gewertet werden können: denn alles Geformte kann formlos gemacht, kann zerstört werden, und braucht als solches nicht zu dauern. Ein Berg, ein Wald, eine Ebene ist noch zu formen durch Umfassung und Begrenzung, und darum selbst im wüstesten Zustande noch Wertobjekt. Die Luft der Atmosphäre und das Wasser auf und über der Erdoberfläche vermöchte niemand in Grenzen zu fassen, sie sind diffus und uneingeschränkt verbreitet. Wäre ein zauberkräftiger Mann imstande, die atmosphärische Luft, die den Erdball umgibt, wie jenen Geist aus dem orientalischen Märchen auf einen relativ kleinen Raum der Erde zu komprimieren, oder könnte es jemand gelingen, die Wassermassen derselben in einem großen Reservoir unter Verhinderung der Verdunstung einzusperren: beide hätten sofort Form gewonnen, und wären damit auch der Wertung unterworfen. Wert wird von einer Sache also nur dann prädiziert, wo ein, wenn auch noch so entfernter, Anlaß zur Besorgnis vorhanden ist, daß sie mit der Zeit sich ändern könne; denn der Wert wird nur in Relation zur Zeit gewonnen, im Gegensatze zu ihr aufgestellt. Wert und Zeit erfordern sich also gegenseitig wie zwei korrelative Begriffe. Wie tief eine solche Auffassung führt, wie gerade sie konstitutiv sogar für eine Weltanschauung werden kann, dies möchte ich hier nicht weiter verfolgen. Es genügt für den vorgesetzten Zweck, zu wissen, daß jeder Anlaß, von Wert zu reden, gerade dort wieder entfällt, wo keine Gefährdung durch die Zeit mehr möglich ist. Das Chaos kann, auch wenn es ewig ist, nur negativ gewertet werden. Form und Zeitlosigkeit oder Individuation und Dauer sind die beiden analytischen Momente, welche den Wert zunächst schaffen und begründen.

So ist denn jenes Fundamentalgesetz der Werttheorie durchgängig, auf individualpsychologischem und sozialpsychologischem Gebiete, zur Darstellung gebracht. Und nun kann in successiver Wiederaufnahme der eigentlichen Untersuchungsgegenstände erledigt werden, was noch von früher her, obwohl besondere Aufgabe dieses Kapitels, rückständig ist.

Als erste Folgerung darf aus dem Vorhergehenden diese gezogen werden, daß es ein Bedürfnis nach Zeitlosigkeit, einen Willen zum Wert, auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit gibt. Und dieser Wille zum Wert, der mit dem »Willen zur Macht« an Tiefe sich zu messen keine Scheu tragen möge, geht, wenigstens in der Form des Willens zur Zeitlosigkeit, dem individuellen Weibe ganz und gar ab. Die alten Frauen pflegen in den seltensten Fällen Bestimmungen über ihre Hinterlassenschaft zu treffen, was damit zusammenhängt, daß die Frauen kein Unsterblichkeitsbedürfnis besitzen. Denn es liegt über dem Vermächtnis eines Menschen die Weihe eines Höheren, Allgemeineren, und dies ist auch der Grund, warum es von den anderen Menschen geachtet wird.

Das Unsterblichkeitsbedürfnis selbst ist nur ein besonderer Fall des allgemeinen Gesetzes, daß nur zeitlose Dinge positiv gewertet werden. Hierin liegt sein Zusammenhang mit dem Gedächtnis begründet. Die Remanenz, welche die Erlebnisse eines Menschen bei ihm haben, ist der Bedeutung proportional, die sie für ihn gewinnen können. So paradox es klingt: der Wert ist es, der die Vergangenheit schafft. Nur was positiv gewertet wurde, nur das bleibt im Schutze des Gedächtnisses vor dem Zahn der Zeit bewahrt; und so darf auch das individuelle psychische Leben als Ganzes, soll es positiv bewertet werden, nicht Funktion der Zeit, es muß über die Zeit erhaben sein durch eine über den körperlichen Tod hinausgehende ewige Dauer. Hiemit sind wir dem innersten Motiv des Unsterblichkeitsbedürfnisses unvergleichlich näher gerückt. Die völlige Einbuße an Bedeutung, die das individuell erfüllte, lebensvoll gelebte Leben erleidet, wenn es mit dem Tode für immer restlos zu Ende sein soll, die Sinnlosigkeit des Ganzen in solchem Falle, dies spricht mit anderen Worten auch Goethe zu Eckermann aus (4. Februar 1829), führt zur Forderung nach Unsterblichkeit.

Das intensivste Verlangen nach Unsterblichkeit hat das Genie. Und auch dies fällt zusammen mit allen anderen Tatsachen, die bisher über seine Natur aufgedeckt wurden. Das Gedächtnis ist vollständige Besiegung der Zeit nur dann, wenn es, wie im universellen Menschen, in der universellen Form auftritt. Der Genius ist somit der eigentlich zeitlose Mensch, wenigstens ist dies und nichts anderes sein Ideal von sich selbst; er ist, wie gerade sein sehnsüchtiges und dringendes Begehren nach Unsterblichkeit beweist, eben der Mensch mit dem stärksten Verlangen nach Zeitlosigkeit, mit dem mächtigsten Willen zum Werte.22

Und nun tut sich vor dem geblendeten Auge eine fast noch wunderbarere Koinzidenz auf. Die Zeitlosigkeit des Genius wird nicht allein im Verhältnis zu den einzelnen Augenblicken seines Lebens kund, sondern auch in seiner Beziehung zu dem, was man aus der Zeitrechnung als seine Generation herausgreift und im engeren Sinne »seine Zeit« nennt. Zu dieser hat er nämlich de facto gar keine Beziehungen. Nicht die Zeit, die ihn braucht, schafft den Genius, er ist nicht ihr Produkt, nicht aus ihr zu erklären, und man erweist ihm keine Ehre, ihn mit ihr zu entschuldigen. Carlyle hat mit Recht darauf hingewiesen, wie vielen Epochen nur der bedeutende Mensch not tat, wie dringend sie seiner bedurften, und wie er doch nicht erschienen ist. Das Kommen des Genius bleibt ein Mysterium, auf dessen Ergründung der Mensch in Ehrfurcht verzichte. Und wie die Ursachen seines Auftretens nicht in seiner Zeit gefunden werden können, so bleiben auch, diese Übereinstimmung ist das zweite Rätsel, dessen Folgen nicht an eine bestimmte Zeit geknüpft. Die Taten des Genius leben ewig, an ihnen wird durch die Zeit nichts geändert. Durch seine Werke ist dem bedeutenden Menschen eine Unsterblichkeit auf Erden beschieden, und so ist er in dreifacher Weise zeitlos: seine universale Apperzeption oder ausnahmslose Wertung aller seiner Erlebnisse enthebt diese in seinem Gedächtnis der Vernichtung mit dem Augenblick; aus der Zeit, die seinem Werden vorangeht, ist er nicht emporgewachsen; und nicht der Zeit, in der er tätig ist, und auch keiner anderen, früher oder später ihr folgenden, fällt anheim, was er geschaffen hat.

21Ich wage auch daran zu erinnern, wie häufig reine Wissenschaftler erst knapp vor dem Tode mit religiösen und metaphysischen Problemen sich beschäftigen: Newton, Gauß, Riemann, Wilh. Weber.
22Man ist oft erstaunt darüber, wie Menschen von ganz gewöhnlicher, ja gemeiner Natur keinerlei Furcht vor dem Tode empfinden. Aber es wird so klar: nicht die Furcht vor dem Tode schafft das Unsterblichkeitsbedürfnis, sondern das Unsterblichkeitsbedürfnis schafft die Furcht vor dem Tode.