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Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Hier ist nun der glücklichste Ort, die Besprechung einer Frage einzufügen, die beantwortet werden muß, obwohl sie, merkwürdig genug, noch kaum von jemand aufgeworfen scheint. Sie betrifft nichts anderes als, ob das, was Genie genannt zu werden verdient, auch unter den Tieren (oder Pflanzen) sich findet. Es besteht nun, außer den bereits entwickelten Kriterien der Begabung, deren Anwendung auf die Tiere wohl kaum die Anwesenheit dermaßen ausgezeichneter Individuen unter ihnen ergeben dürfte, auch sonst genügende Berechtigung zu der, später noch zu begründenden, Annahme, daß es dort nichts irgendwie Ähnliches gebe. Talente dürften im Reiche der Tiere vorhanden sein wie unter den noch-nicht-genialen Menschen. Aber das, was man vor Moreau de Tours, Lombroso und Max Nordau immer als den »göttlichen Funken« betrachtet hat, das haben wir allen Grund auf die Tiere nicht auszudehnen. Diese Einschränkung ist nicht Eifersucht, nicht ängstliche Wahrung eines Privilegs, sondern sie läßt sich mit guten Gründen verteidigen.

Denn was wird durch das Erstauftreten des Genies im Menschen nicht alles erklärt! Der ganze »objektive Geist«, mit anderen Worten, daß der Mensch allein unter allen Lebewesen eine Geschichte hat!

Die ganze menschliche Geschichte (darunter ist natürlich Geistes- und nicht z. B. Kriegsgeschichte zu verstehen), läßt sie sich nicht am ehesten begreifen durch das Auftreten des Genies, der Anregungen, die von ihm ausgingen, und der Nachahmung dessen, was das Genie tat, durch mehr pithekoide Wesen? Des Hausbaues, des Ackerbaues, vor allem aber der Sprache! Jedes Wort ist von einem Menschen zuerst geschaffen worden, von einem Menschen, der über dem Durchschnitt stand, wie dies auch heute immer noch ausschließlich geschieht (von den Namen für neue technische Erfindungen muß man hiebei freilich absehen). Wie sollte es denn auch wohl sonst entstanden sein? Die Urworte waren »onomatopoetisch«: in sie kam ohne den Willen des Sprechenden, durch die bloße Heftigkeit der spezifischen Erregung, ein dem Erreger Ähnliches hinein; und alle anderen Worte sind ursprünglich Tropen, sozusagen Onomatopoesien zweiter Ordnung, Metaphern, Gleichnisse: alle Prosa ist einmal Poesie gewesen. Die meisten Genies sind also unbekannt geblieben. Man denke nur an die Sprichwörter, selbst an die heute trivialsten, wie: »eine Hand wäscht die andere«. Ja, das hat doch vor vielen Jahren ein geistvoller Mann zum ersten Male gesagt! Anderseits: wie viele Citate aus klassischen Autoren, aus den allergelesensten, wie viele Worte Christi kommen uns nicht heute vollkommen unpersönlich-sprichwörtlich vor, wie oft müssen wir uns erst darauf besinnen, daß wir in diesem Falle den Urheber kennen! Man sollte darum nicht von der »Weisheit der Sprache«, von den Vorzügen und den glücklichen Ausdrücken »des Französischen« reden. Ebensowenig wie das »Volkslied« ist die Sprache von einer Menge geschaffen worden. Mit jenen Redensarten sind wir gegen so viele einzelne undankbar, um ein Volk überreich zu beschenken. Der Genius selbst, der sprachschöpferisch war, gehört vermöge seiner Universalität nicht bloß der Nation an, aus der er stammt und in deren Sprache er sein Wesen ausgedrückt hat. Die Nation orientiert sich an ihren Genien und bildet nach ihnen ihren Idealbegriff von sich selbst, der darum nicht der Leitstern der Hervorragenden selber, wohl aber jener aller anderen sein kann. Aus verwandten Gründen aber wäre auch mehr Vorsicht geboten, wenn, wie so oft, Psychologie der Sprache und Völkerpsychologie ohne kritische Voruntersuchung als zusammengehörig behandelt werden. Weil die Sprache von einzelnen großen Männern geschaffen ist, darum liegt in ihr wirklich so viel erstaunliche Weisheit verborgen; wenn ein so inbrünstig tiefer Denker wie Jakob Böhme Etymologie treibt, so will dies doch etwas mehr sagen, als so mancher Geschichtsschreiber der Philosophie begreifen zu können scheint. Von Baco bis Fritz Mauthner sind alle Flachköpfe Sprachkritiker gewesen.23

Der Genius ist es hingegen, der die Sprache nicht kritisiert, sondern hervorgebracht hat und immer neu hervorbringt, wie auch all die anderen Geisteswerke, die im engeren Sinne den Grundstock der Kultur, den »objektiven Geist« bilden, soweit dieser wirklich Geist ist. So sehen wir, daß der zeitlose Mensch jener ist, der die Geschichte schafft: Geschichte kann nur von Wesen geschaffen werden, die außerhalb ihrer Kausalverkettung stehen. Denn nur sie treten in jenes unauflösliche Verhältnis zum absolut Zeitlosen, zum Werte, das ihren Produktionen einen ewigen Gehalt gibt. Und was aus allem Geschehenen in die Kultur eingeht, geht in sie ein unter dem Gesichtspunkte des ewigen Wertes.

Legen wir jenen Maßstab der dreifachen Zeitlosigkeit an den Genius an, so werden wir am sichersten auch bei der nun nicht mehr allzu schwierigen Entscheidung geleitet werden, wem das Prädikat des Genies zuzusprechen ist, und wem es aberkannt werden muß. Zwischen der populären Meinung, die beispielsweise Türck und Lombroso vertreten, welche den Begriff des Genies bei jeder über den Durchschnitt stärker hinausragenden intellektuellen oder werklichen Leistung anzuwenden bereit ist, und der Exklusivität jener Lehren Kantens und Schellings, welche einzig im schaffenden Künstler das Walten des Genius erblicken wollen, liegt, obwohl in der Mitte, doch zweifelsohne diesmal das Richtige. Der Titel des Genius ist nur den großen Künstlern und den großen Philosophen (zu denen ich hier auch die seltensten Genien, die großen Religionsstifter zähle24) zu vindizieren. Weder der »große Mann der Tat« noch »der große Mann der Wissenschaft« haben auf ihn Anspruch.

Die »Männer der Tat«, die berühmten Politiker und Feldherren, mögen wohl einzelne Züge haben, die an das Genie erinnern (z. B. eine vorzügliche Menschenkenntnis, ein enormes Personengedächtnis); auf ihre Psychologie kommt diese Untersuchung noch einmal zu sprechen; aber mit dem Genius kann sie nur verwechseln, wer schon durch den äußeren Aspekt von Größe allein völlig zu blenden ist. Das Genie ist in mehr als einem Sinne ausgezeichnet gerade durch den Verzicht auf alle Größe nach außen, durch reine innere Größe. Der wahrhaft bedeutende Mensch hat den stärksten Sinn für die Werte, der Feldherr-Politiker ein fast ausschließliches Fassungsvermögen für die Mächte. Jener sucht allenfalls die Macht an den Wert, dieser höchstens den Wert an die Macht zu knüpfen und zu binden (man erinnere sich an das oben von den Unternehmungen der Imperatoren Gesagte). Der große Feldherr, der große Politiker, sie steigen aus dem Chaos der Verhältnisse empor wie der Vogel Phönix, um zu verschwinden wie dieser. Der große Imperator oder große Demagog ist der einzige Mann, der ganz in der Gegenwart lebt; er träumt nicht von einer schöneren, besseren Zukunft, er sinnt keiner entflossenen Vergangenheit nach; er knüpft sein Dasein an den Moment, und sucht nicht auf eine jener beiden Arten, die dem Menschen möglich sind, die Zeit zu überspringen. Der echte Genius aber macht sich in seinem Schaffen nicht abhängig von den konkret-zeitlichen Bedingungen seines Lebens, die für den Feldherr-Politiker stets das Ding-an-sich bleiben, das, was ihm zuletzt Richtung gibt. So wird der große Imperator zu einem Phänomen der Natur, der große Denker und Künstler steht außerhalb ihrer, er ist eine Verkörperung des Geistes. Die Werke des Tatmenschen gehen denn auch meist mit seinem Tode, oft schon früher, und nie sehr viel später, spurlos zu Grunde, nur die Chronik der Zeit meldet von dem, was da geformt wurde, nur um wieder zerstört zu werden. Der Imperator schafft keine Werke, an denen die zeitlosen, ewigen Werte in ungeheuerer Sichtbarkeit für alle Jahrtausende zum Ausdruck kommen; denn dies sind die Taten des Genius. Dieser, nicht der andere, schafft die Geschichte, weil er nicht in sie gebannt ist, sondern außerhalb ihrer steht. Der bedeutende Mensch hat eine Geschichte, den Imperator hat die Geschichte. Der bedeutende Mensch zeugt die Zeit, der Imperator wird von ihr gezeugt und – getötet.

Ebensowenig wie der große Willensmensch besitzt der große Wissenschaftler, wenn er nicht zugleich großer Philosoph ist, ein Recht auf den Namen des Genius, heiße er sonst Newton oder Gauß, Linné oder Darwin, Kopernikus oder Galilei. Die Männer der Wissenschaft sind nicht universell, denn es gibt Wissenschaft nur vom Fache, allenfalls von Fächern. Das liegt keineswegs, wie man glaubt, an der »fortschreitenden Spezialisierung«, die es »unmöglich mache, alles zu beherrschen«: es gibt unter den Gelehrten auch im XIX. und XX. Jahrhundert noch manch ebenso staunenerregende Polyhistorie, wie sie Aristoteles, oder wie sie Leibniz besaß; ich erinnere an Alexander v. Humboldt, an Wilhelm Wundt. Jener Mangel liegt vielmehr im Wesen aller Wissenschaft und Wissenschaftler tief begründet. Das 8. Kapitel erst wird die letzte Differenz, die hier besteht, aufzudecken versuchen. Indes ist man vielleicht bereits hier zu dem Zugeständnis geneigt, auch der hervorragendste Mann der Wissenschaft sei keine so allumfassende Natur wie selbst jene Philosophen es waren, die an der äußersten Grenze dessen stehen, wo die Bezeichnung genial noch statthat (ich denke an Schleiermacher, Carlyle, Nietzsche). Welcher bloße Wissenschaftler fühlte in sich ein unmittelbares Verständnis aller Menschen, aller Dinge, oder auch nur die Möglichkeit, ein solches in sich und aus sich selbst heraus je zu verwirklichen? Ja, welchen anderen Sinn hätte denn die wissenschaftliche Arbeit der Jahrtausende, als diese unmittelbare Einsicht zu ersetzen? Dies ist der Grund, warum alle Wissenschaftler notwendig immer »Fachmänner« sind. Es kennt auch nie ein Wissenschaftler, der nicht Philosoph ist, selbst wenn er noch so Hervorragendes leistete, jenes kontinuierliche, nichtsvergessende Leben, das den Genius auszeichnet: eben wegen seines Mangels an Universalität.

 

Schließlich sind die Forschungen des Wissenschaftlers immer in den Stand der Kenntnisse seiner Zeit gebannt, er übernimmt einen Fonds von Erfahrungen in bestimmter Menge und Gestalt, vermehrt und verändert ihn um ein Geringes oder Größeres, und gibt ihn weiter. Aber auch von seinen Leistungen wird vieles weggenommen, vieles muß hinzugefügt werden, sie dauern als Bücher fort in den Bibliotheken, aber nicht als ewige, der Korrektur auch nur in einem Punkte entrückte Schöpfungen. Aus den berühmten Philosophien dagegen spricht wie aus den großen Kunstwerken ein Unverrückbares, Unverlierbares, eine Weltanschauung zu uns, an welcher der Fortschritt der Zeiten nichts ändert, die je nach der Individualität ihres Schöpfers, welche in ihr sichtbar zum Ausdruck gelangte, immer ihm verwandte Menschen findet, die ihr anhangen. Es gibt Platoniker und Aristoteliker, Spinozisten und Berkeleyaner, Thomisten und Anhänger Brunos noch heute, aber es gibt keinen Galileianer und keine Helmholtzianer, nirgends Ptolemäer, nirgends Kopernikaner. Es ist darum ein Unfug und verdirbt den Sinn des Wortes, wenn man von »Klassikern der exakten Wissenschaften« oder »Klassikern der Pädagogik« ebenso spricht, wie man mit gutem Recht von klassischen Philosophen und klassischen Künstlern redet.

Der große Philosoph also trägt den Namen des Genius mit Verdienst und Ehre; und wenn es auch des Philosophen größter Schmerz in Ewigkeit bleibt, daß er nicht Künstler ist – denn aus keinem anderen Grunde wird er Ästhetiker – so neidet doch nicht minder der Künstler dem Philosophen die zähe und wehrhafte Kraft des abstrakten systematischen Denkens – nicht umsonst werden Prometheus und Faust, Prospero und Cyprian, der Apostel Paulus und der »Penseroso« ihm Problem. Darum, däucht mir, sind beide einander gleich zu achten, und hat keiner vor dem anderen allzuviel voraus.

Freilich heißt es auch in der Philosophie mit dem Begriffe der Genialität nicht so verschwenderisch umzugehen, als dies gewöhnlich zu geschehen pflegt; sonst würde meine Darstellung mit Recht den Vorwurf der Parteilichkeit gegen die »positive Wissenschaft« auf sich laden, einer Parteilichkeit, die mir selbstverständlich fern liegt, da ich einen solchen Angriff ja zunächst als gegen mich selbst und einen großen Teil dieser Arbeit gekehrt empfinden müßte. Anaxagoras, Geulincx, Baader, Emerson als geniale Menschen zu bezeichnen, geht nicht an. Weder unoriginelle Tiefe (Angelus Silesius, Philo, Jacobi) noch originelle Flachheit (Comte, Feuerbach, Hume, Mill, Herbart, Locke, Karneades) sollte auf die Anwendung des Begriffes ein Recht erwirken können. Die Geschichte der Kunst ist heute in gleicher Weise wie die der Philosophie voll der verkehrtesten Wertungen; ganz anders die Geschichte der ihre eigenen Ergebnisse fortwährend berichtigenden und nach dem Umfang dieser Verbesserungen wertenden Wissenschaft. Die Geschichte der Wissenschaft verzichtet auf die Biographie ihrer wackersten Kämpfer; ihr Ziel ist ein System überindividueller Erfahrung, aus dem der einzelne verschwunden ist. In der Hingabe an die Wissenschaft liegt darum die größte Entsagung: denn durch sie verzichtet der einzelne Mensch als solcher auf Ewigkeit.

VI. Kapitel.
Gedächtnis, Logik, Ethik

Die Überschrift, welche ich diesem Kapitel voranstelle, ist sofort und mit Leichtigkeit einem schweren Mißverständnis ausgesetzt. Es könnte nach ihr scheinen, als huldige der Autor der Ansicht, die logischen und ethischen Wertungen seien Objekte ausschließlich der empirischen Psychologie, psychische Phänomene ganz so wie die Empfindung und das Gefühl, Logik und Ethik also spezielle Disziplinen, Unterabteilungen der Psychologie und aus ihr, in ihr zu begründen.

Ich bekenne gleich und vollständig, daß ich diese Anschauung, den »Psychologismus«, für gänzlich falsch und verderblich halte; falsch, weil das Unternehmen nie gelingen kann, wovon wir uns noch überzeugen werden; verderblich, weil es nicht einmal so sehr die hiedurch kaum berührte Logik und Ethik als die Psychologie zu Grunde richtet. Der Ausschluß der Logik und Ethik von der Begründung der Psychologie und ihr Verweis in einen Appendix der letzteren ist das Korrelat zu dem Überwuchern der Empfindungslehre, und hat mit dieser zusamt all das auf dem Gewissen, was sich heute als »empirische Psychologie« präsentiert: jenen Haufen toter Gebeine, denen kein Feinsinn und kein Fleiß mehr Leben einhaucht, in denen vor allem die wirkliche Erfahrung nicht wiederzuerkennen ist. Was also die unglücklichen Versuche betrifft, Logik und Ethik auf den Stufenbau einer, gleichgültig mit welchem Mörtel, zusammensetzenden Psychologie, als das zarte, jüngste Kind des Seelenlebens, zu setzen, so trage ich wenigstens kein Bedenken, gegen Brentano und seine Schule (Stumpf, Meinong, Höfler, Ehrenfels), gegen Th. Lipps und G. Heymans, gegen die ebenfalls dahin zu zählenden Meinungen von Mach und Avenarius, hier mich prinzipiell jener anderen Richtung anzuschließen, deren Positionen heute von Windelband, Cohen, Natorp, F. J. Schmidt, besonders aber von Husserl verteidigt werden (der selbst früher Psychologist war, seither aber zu der festesten Überzeugung von der Unhaltbarkeit dieses Standpunktes gelangt ist), jener Richtung, welche gegen die psychologisch-genetische Methode Humes den transcendental-kritischen Gedanken Kantens geltend macht und hochzuhalten weiß.

Da aber die vorliegende Arbeit keine ist, welche mit den allgemeinen, überindividuell gültigen Normen des Handelns und Denkens und den Bedingungen des Erkennens sich beschäftigte, da sie vielmehr, ihrem Ausgangspunkt wie ihrem Ziele nach, eben Unterschiede zwischen Menschen festzustellen trachtet, und nicht für beliebige Wesen (selbst für »die lieben Engelein« im Himmel) gültig zu sein beansprucht, wie die Philosophie Kantens ihren Grundgedanken nach, so durfte und mußte sie bisher psychologisch (nicht psychologistisch) sein, und wird es weiter bleiben, ohne an den Stellen, wo sich die Notwendigkeit herausstellen sollte, zu verabsäumen, selbst eine formale Betrachtung zu wagen, oder wenigstens darauf hinzuweisen, daß da oder dort das alleinige Recht der logischen, kritischen, transcendentalen Methode zustehe.

Der Titel dieses Kapitels rechtfertigt sich anders. Die langwierige, weil gänzlich neu zu führende Untersuchung des vorigen hat gezeigt, daß das menschliche Gedächtnis zu Dingen in intimer Beziehung steht, mit denen man es einer Verwandtschaft bisher nicht für würdig gehalten zu haben scheint. Zeit, Wert, Genie, Unsterblichkeit – all dies vermochte sie mit dem Gedächtnis in einem merkwürdigen Zusammenhange zu zeigen, dessen Existenz man offenbar noch gar nicht vermutet hat. Dieses fast völlige Fehlen aller Hinweise muß einen tieferen Grund haben. Er liegt, so scheint es, in den Unzulänglichkeiten und Schlampereien, welche die Theorien des Gedächtnisses immer wieder sich haben zu Schulden kommen lassen.

Hier lenkt zunächst die schon in der Mitte des XVIII. Jahrhunderts von Charles Bonnet begründete, im letzten Drittel des XIX. Jahrhunderts besonders durch Ewald Hering (und E. Mach) in Schwung gekommene Lehre den Blick auf sich, welche im Gedächtnis des Menschen nichts weiter sieht als die »allgemeine Funktion der organisierten Materie«, auf neue Reize, die vorangegangenen Reizen mehr oder weniger gleichen, anders, leichter und schneller zu reagieren als auf erstmalige Irritation. Diese Theorie glaubt also die menschlichen Gedächtnisphänomene durch die sonstige Erfahrung der Übungsfähigkeit lebender Wesen schon erschöpft, für sie ist das Gedächtnis eine Anpassungserscheinung nach Lamarckschem Muster. Gewiß, es besteht ein Gemeinsames zwischen dem menschlichen Gedächtnis und jenen Tatsachen, z. B. gesteigerter Reflexerregbarkeit bei gehäufter Wiederholung der Erregungen; das identische Element liegt in dem Fortwirken des ersten Eindruckes über den Moment hinaus, und das 12. Kapitel wird auf den tiefsten Grund dieser Verwandtschaft noch einmal zurückkommen. Es ist aber daneben doch ein abgrundtiefer Unterschied zwischen der Stärkung eines Muskels durch Gewöhnung an wiederholte Kontraktion, zwischen der Anpassung des Arsenikessers oder des Morphinisten an immer größere Quantitäten des Giftes hier, und der Erinnerung des Menschen an seine früheren Erlebnisse dort. Auf der einen Seite ist die Spur des Alten nur im Neuen verfolgbar, auf der anderen treten früher erlebte Situationen wieder, ganz als die alten, hervor in das Bewußtsein, so wie sie selbst waren, mit aller Individuation ausgestattet, nicht zu bloßer Nachwirkung auf den neuen Moment durch ein Residuum nutzbar gemacht. Die Identifikation beider Phänomene wäre so ungereimt, daß auf eine weitere Besprechung dieser allgemein-biologischen Ansicht verzichtet werden kann.

Mit der physiologischen Hypothese hängt die Associationslehre als Theorie des Gedächtnisses historisch durch Hartley und sachlich durch den Begriff der Gewöhnung zusammen. Sie leitet alles Gedächtnis aus dem mechanischen Spiel der Vorstellungsverknüpfungen nach ein bis vier Gesetzen ab. Dabei übersieht sie, daß das Gedächtnis (das kontinuierliche des Mannes) im Grunde eine Willenserscheinung ist. Ich kann mich auf etwas besinnen, wenn ich es wirklich will, entgegen beispielsweise meiner Schlafsucht, wenn ich nur wahrhaft entschlossen bin, diese zu unterdrücken. In der Hypnose, durch welche Erinnerung an alles Vergessene erzielt werden kann, tritt der Wille des Fremden an die Stelle des allzu schwachen eigenen und liefert so wieder den Beweis, daß es der Wille ist, welcher die zweckmäßigen Associationen aufsucht, daß alle Association durch die tiefere Apperzeption herbeigeführt wird. Hier mußte einem späteren Abschnitt vorgegriffen werden, welcher das Verhältnis zwischen Associations- und Apperzeptionspsychologie klarzustellen und die Berechtigung beider abzuwägen suchen wird.

Mit der Associationspsychologie, welche das psychische Leben zuerst zerspaltet, und wähnt, im Tanze der einander die Hände reichenden Bruchstücke es dann noch zusammenleimen zu können, hängt wiederum enge jene dritte Konfusion zusammen, die, ungeachtet des von Avenarius und besonders von Höffding ungefähr zur gleichen Zeit mit so viel Recht erhobenen Einspruches, noch immer das Gedächtnis mit dem Wiedererkennen zusammenwirft. Das Wiedererkennen eines Gegenstandes braucht durchaus nicht auf der gesonderten Reproduktion des früheren Eindruckes zu beruhen, wenn auch in einem Teile der Fälle im neuen Eindrucke die Tendenz zu liegen scheint, auf der Stelle den älteren wachzurufen. Aber es gibt daneben ein mindestens ebenso häufig vorkommendes unmittelbares Wiedererkennen, in welchem nicht die neue Empfindung von sich selbst wegführt und wie mit einem Streben verknüpft erscheint, sondern wo das Gesehene, Gehörte etc. nur mit einer spezifischen Färbung (»tinge« würde James sagen) auftritt, mit jenem »Charakter«, den Avenarius »das Notal«, Höffding »die Bekanntheitsqualität« nennt. Wer in die Heimat zurückkehrt, dem scheinen Weg und Steg »bekannt«, auch wenn er nichts mehr zu benennen und sich gar nicht leicht zurechtzufinden weiß, und keines besonderen Tages gerade gedenkt, an dem er hier gegangen; eine Melodie kann mir »bekannt vorkommen«, ohne daß ich weiß, wann und wo ich sie gehört habe. Der »Charakter« (im Avenariusschen Sinne) der Bekanntheit, der Vertrautheit etc. schwebt hier sozusagen über dem Sinneseindruck selbst, die Analyse weiß nichts von Associationen, deren »Verschmelzung« mit meiner neuen Empfindung, nach der Behauptung einer anmaßenden Pseudo-Psychologie, jenes unmittelbare Gefühl erst erzeugen soll, und sie vermag diese Fälle sehr gut von jenen anderen zu unterscheiden, wo schon leise und kaum merklich (in Henidenform) das ältere Erlebnis wirklich associiert wird.

Auch individualpsychologisch ist diese Distinktion eine Notwendigkeit. Im hochstehenden Menschen ist das Bewußtsein einer nicht interrupten Vergangenheit fortwährend so lebendig, daß er, etwa beim Wiedererblicken eines Bekannten auf der Gasse, sofort die letzte Begegnung als selbständiges Erlebnis reproduziert, während im weniger Begabten das einfache Bekanntheitsgefühl, das ihm ein Wiedererkennen ermöglicht, oft auch dann allein auftritt, wenn er jenes Zusammensein, sogar in seinen Einzelheiten, noch recht gut sich zu vergegenwärtigen vermöchte.

 

Stellen wir nun noch, zum Abschlusse dessen, die Frage, ob die anderen Organismen außer dem Menschen ebenfalls jene, von allem Ähnlichen wohl zu unterscheidende Fähigkeit besitzen, frühere Augenblicke ihres Lebens wieder in ihrer Gänze aufleben zu lassen, so ist diese Frage mit der größten Wahrscheinlichkeit im verneinenden Sinne zu beantworten. Die Tiere könnten nicht, wie sie es tun, stundenlang regungslos und ruhig auf einem Flecke verharren, wenn sie an ihr vergangenes Leben zurückdächten oder eine Zukunft in Gedanken vorausnähmen. Die Tiere haben Bekanntheitsqualitäten und Erwartungsgefühle (der die Heimkehr des Herrn nach zwanzig Jahren begrüßende Hund; die Schweine vor dem Tore des Metzgers, die zur Belegung geführte rossige Stute), aber sie besitzen keine Erinnerung und keine Hoffnung. Sie vermögen wiederzuerkennen (mit Hilfe des »Notals«), aber sie haben kein Gedächtnis.

Ist so das Gedächtnis als eine besondere, mit niederen Gebieten psychischen Lebens nicht zu verwechselnde Eigenschaft dargetan, scheint es zudem ausschließlicher Besitz des Menschen zu sein, so wird es nicht mehr wundernehmen, daß es mit jenen höheren Dingen, wie dem Wert- und Zeitbegriff, dem keinem Tiere eignenden Unsterblichkeitsbedürfnisse, der nur dem Menschen möglichen Genialität, in einem Zusammenhange steht. Und wenn es einen einheitlichen Begriff vom Menschen gibt, ein tiefstes Wesen der Menschheit, das in allen besonderen Qualitäten des Menschen zum Ausdrucke kommt, so wird man es geradezu erwarten müssen, daß auch die logischen und ethischen Phänomene, die den anderen Lebewesen allem Anscheine nach ebenso abgehen wie das Gedächtnis, mit diesem irgendwo sich berühren werden. Diese Beziehung heißt es nun aufsuchen.

Es kann zu dem Behufe von der wohlbekannten Tatsache ausgegangen werden, daß Lügner ein schlechtes Gedächtnis haben. Vom »pathologischen Lügner« steht es fest, daß er nahezu überhaupt »kein Gedächtnis hat«. Auf den männlichen Lügner komme ich im folgenden noch einmal zu sprechen; er bildet nicht die Regel unter den Männern. Faßt man hingegen ins Auge, was früher über das Gedächtnis der Frauen gesagt wurde, so wird man es neben die angeführte Erscheinung der mangelnden Erinnerungsgabe verlogener Männer stellen dürfen, wenn so viele Sprichwörter und Erzählungen, wenn Dichtung und Volksmund vor der Lügenhaftigkeit des Weibes warnen. Es ist klar: einem jeden Wesen, dessen Gedächtnis ein so minimales wäre, daß, was es gesagt, getan, erlitten hat, später nur im dürftigsten Grade von Bewußtheit ihm noch gegenwärtig bliebe, einem jeden solchen Wesen muß, wenn ihm die Gabe der Sprache verliehen ist, die Lüge leicht fallen, und dem Impulse zu ihr wird, wenn es auf die Erreichung praktischer Zwecke ankommt, von einem so beschaffenen Individuum, dem nicht der wahre Vorgang mit voller Intensität vorschwebt, schwer widerstanden werden können. Und noch stärker muß sich diese Versuchung geltend machen, wenn das Gedächtnis dieses Wesens nicht von jener kontinuierlichen Art ist, die nur der Mann kennt, sondern wenn das Wesen, wie W, sozusagen nur in Augenblicken, diskret, diskontinuierlich, zusammenhanglos lebt, in den zeitlichen Ereignissen aufgeht, statt über ihnen zu stehen, oder den Zeitablauf wenigstens zum Problem zu erheben; wenn es nicht, wie M, alle seine Erlebnisse auf einen einheitlichen Träger derselben bezieht, sie von diesem auf sich nehmen läßt, wenn ein »Zentrum« der Apperzeption fehlt, dem alle Vergangenheit stets in einheitlicher Weise zugezählt wird, wenn das Wesen sich nicht als eines und selbes in allen seinen Lebenslagen fühlt und weiß. Es kommt zwar wohl auch bei jedem Manne vor, daß er sich einmal »nicht versteht«, ja bei sehr vielen Männern ist es, wenn sie an ihre Vergangenheit zurückdenken, ohne daß dies mit den Phänomenen der psychischen Periodizität in Verbindung gebracht werden dürfte25, die Regel, daß sie die Substitution ihrer gegenwärtigen Persönlichkeit für den Träger jener älteren Erlebnisse nicht leicht auszuführen vermögen, daß sie nicht begreifen, wie sie dies oder jenes damals denken oder tun konnten; und doch wissen und fühlen sie sehr wohl, daß sie es trotzdem gedacht und getan haben, und zweifeln nicht im mindesten daran. Dieses Gefühl der Identität in allen Lebenslagen fehlt dem echten Weibe völlig, da sein Gedächtnis, selbst wenn es – das kommt in einzelnen Fällen vor – auffallend gut ist, stets alle Kontinuität vermissen läßt. Das Einheitsbewußtsein des Mannes, der sich in seiner Vergangenheit oft nicht versteht, äußert sich in dem Bedürfnisse sich zu verstehen, und diesem Bedürfnis immaniert die Voraussetzung, daß er stets ein und derselbe trotz seines Sichjetztnichtverstehens gewesen ist; die Frauen verstehen sich, wenn sie an ihr früheres Leben zurückdenken, nie, haben aber auch kein Bedürfnis sich zu verstehen, wie man schon aus dem geringen Interesse entnehmen kann, das sie den Worten des Mannes entgegenbringen, der ihnen etwas über sie selbst sagt. Die Frau interessiert sich nicht für sich – darum gibt es keine weibliche Psychologin und keine Psychologie des Weibes von einem Weibe – und ganz unfaßbar wäre ihr das krampfhafte, echt männliche Bemühen, die eigene Vergangenheit als eine logische Folge von kontinuierlichem, lückenlos kausal geordnetem, nicht sprunghaftem Geschehen zu interpretieren, Anfang, Mitte, Ende des individuellen Lebens zueinander in Beziehung zu bringen.

Von hier aus aber ist auch die Brücke zur Logik durch einen Grenzübergang zu schlagen möglich. Ein Wesen, das, wie W, das absolute Weib, sich nicht in den aufeinanderfolgenden Zeitpunkten als identisch wüßte, hätte auch keine Evidenz der Identität seines Denkobjektes zu verschiedenen Zeiten; da, wenn beide Teile, der Veränderung unterworfen sind, sozusagen das absolute Koordinatensystem fehlt, auf das Veränderung bezogen, mit Hilfe dessen Veränderung einzig bemerkt werden könnte. Ja ein Wesen, dessen Gedächtnis nicht einmal so weit reichte, um ihm die psychologische Möglichkeit zu gestatten, das Urteil zu fällen, ein Gegenstand oder ein Ding sei trotz des Zeitablaufes mit sich selbst identisch geblieben, um es also z. B. zu befähigen, irgend eine mathematische Größe in einer längeren Rechnung als dieselbe zu verwenden, einzusetzen und festzuhalten; ein solches Wesen würde im extremen Falle auch nicht imstande sein, vermöge seines Gedächtnisses die unendlich klein gesetzte Zeit zu überwinden, welche (psychologisch) jedenfalls erforderlich ist, um von A zu sagen, daß es im nächsten Momente doch noch A sei, um das Urteil der Identität A = A zu fällen, oder den Satz des Widerspruches auszusprechen, der voraussetzt, daß ein A nicht sofort dem Denkenden entschwinde; denn sonst könnte es das A vom non-A, das nicht A ist, und das es wegen der Enge des Bewußtseins nicht gleichzeitig ins Auge zu fassen vermag, nicht wirklich unterscheiden.

Das ist kein bloßer Scherz des Gedankens, kein neckisches Sophisma der Mathematik, keine verblüffende Konklusion aus durchgeschmuggelten Prämissen. Zwar bezieht sich sicherlich – es muß das, um möglichen Einwänden zu begegnen, der folgenden Untersuchung vorweggenommen werden – das Urteil der Identität immer auf Begriffe, nie auf Empfindungen oder Komplexe von solchen, und die Begriffe sind als logische Begriffe zeitlos, sie behalten ihre Konstanz, ob ich sie als psychologisches Subjekt konstant denke oder nicht. Aber der Mensch denkt den Begriff eben nie rein als logischen Begriff, weil er kein rein logisches, sondern auch ein psychologisches, »von den Bedingungen der Sinnlichkeit affiziertes« Wesen ist, er kann an seiner Statt immer nur eine, aus seinen individuellen Erfahrungen durch wechselseitige Auslöschung der Differenzen und Verstärkung des Gleichartigen hervorgewachsene Allgemeinvorstellung (eine »typische«, »konnotative«, »repräsentative« Vorstellung) denken, die aber das abstrakte Moment der Begrifflichkeit erhalten und wunderbarer Weise in diesem Sinne verwertet werden kann. Er muß also auch die Möglichkeit haben, die Vorstellung, in welcher er den de facto unanschaulichen Begriff anschaulich denkt, zu bewahren, zu konservieren; diese Möglichkeit hinwiederum wird ihm nur durch das Gedächtnis gewährleistet. Fehlte ihm also das Gedächtnis, so wäre für ihn auch die Möglichkeit dahin, logisch zu denken, jene Möglichkeit, die sich sozusagen immer nur an einem psychologischen Medium inkarniert.

23Im übrigen säume ich nicht, die Manen Bacos für diese Zusammenstellung um Verzeihung zu bitten.
24Über sie handelt kurz das 13. Kapitel.
25Welche der sich immer verstehende Mensch ebensogut kennt wie der sich nie verstehende.