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Geschlecht und Charakter

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Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Unter Voraussetzung der Richtigkeit der bisherigen Darlegungen ergibt sich die Notwendigkeit einer ganzen Reihe von anatomischen, physiologischen, histologischen und histochemischen Untersuchungen über die Unterschiede zwischen den Typen M und W in Bau und Funktion aller einzelnen Organe, über die Art, wie Arrhenoplasma und Thelyplasma sich in den verschiedenen Geweben und Organen besonders differenzieren. Die Durchschnittskenntnisse, die wir bis jetzt über all das haben, genügen selbst dem modernen Statistiker kaum mehr. Wissenschaftlich ist ihr Wert ganz gering. Daß z. B. alle Untersuchungen über sexuelle Unterschiede im Gehirn so wenig Wertvolles zu Tage fördern konnten, dafür ist auch dies ein Grund, daß man nicht den typischen Verhältnissen nachgegangen ist, sondern sich mit dem, was der Taufschein oder der oberflächlichste Aspekt der Leiche über das Geschlecht sagte, zufrieden gab und so jeden Hans und jede Grete als vollwertige Repräsentanten der Männlichkeit oder Weiblichkeit gelten ließ. Man hätte, wenn man schon psychologischer Daten nicht zu bedürfen glaubte, doch wenigstens, da Harmonie in der sexuellen Charakteristik der verschiedenen Körperteile häufiger ist als große Sprünge derselben zwischen den einzelnen Organen, sich einiger Tatsachen bezüglich der übrigen Körperbeschaffenheit versichern sollen, die für Männlichkeit und Weiblichkeit in Betracht kommen, wie der Distanz der großen Trochanteren, der Spinae iliacae ant. sup. etc. etc.

Dieselbe Fehlerquelle – das unbedenkliche Passierenlassen sexueller Zwischenstufen als maßgebender Individuen – ist übrigens auch bei anderen Untersuchungen nicht verstopft worden; und diese Sorglosigkeit kann das Gewinnen haltbarer und beweisbarer Resultate auf lange Zeit hintanhalten. Schon wer z. B. den Ursachen des Knabenüberschusses bei den Geburten nachspekuliert, dürfte diese Verhältnisse nicht ganz außer Acht lassen. Namentlich wird sich aber ihre Nichtberücksichtigung an jedermann rächen, der das Problem der geschlechtsbestimmenden Ursachen lösen zu wollen sich unterfängt. Bevor er nicht jedes zur Welt gekommene Lebewesen, das ihm zum Objekt der Untersuchung wird, auch auf seine Stellung zwischen M und W geprüft hat, wird man seinen Hypothesen oder gar seinen Beeinflussungsmethoden zu trauen sich hüten dürfen. Wenn er nämlich die sexuellen Zwischenstufen einerseits bloß in der bisherigen äußerlichen Weise unter die männlichen oder unter die weiblichen Geburten einreiht, so wird er Fälle für sich in Anspruch nehmen, die bei tieferer Betrachtung gegen ihn zeugen würden, und andere Fälle als Gegeninstanzen betrachten, die es tatsächlich nicht sind: ohne den idealen Mann und das ideale Weib entbehrt er eben eines festen Maßstabes, den er an die Wirklichkeit anlegen könnte, und tappt im ungewissen, oberflächlichen Schein. Maupas z. B., dem die experimentelle Geschlechtsbestimmung bei Hydatina senta, einem Rädertierchen, gelungen ist, hat noch immer 3–5% an abweichenden Resultaten erzielt. Bei niedrigerer Temperatur wurde die Geburt von Weibchen erwartet, und doch ergab sich dieser Satz von Männchen; entsprechend kamen bei hoher Temperatur gegen die Regel etwa ebensoviel Weibchen heraus. Es ist anzunehmen, daß dies sexuelle Zwischenstufen waren, sehr arrhenoide Weibchen bei hoher, sehr thelyide Männchen bei tiefer Temperatur. Wo das Problem viel komplizierter liegt, z. B. beim Rinde, um vom Menschen zu schweigen, wird der Prozentsatz der übereinstimmenden Resultate kaum je so groß sein wie hier und deshalb die richtige Deutung durch von den sexuellen Zwischenstufen herrührende Störungen viel schwerer beeinträchtigt werden.

Wie Morphologie, Physiologie und Entwicklungsmechanik, so ist auch eine vergleichende Pathologie der sexuellen Typen vorderhand ein Desiderat. Freilich wird man hier wie dort aus der Statistik gewisse Schlüsse ziehen dürfen. Wenn diese erweist, daß eine Krankheit beim »weiblichen Geschlechte« sehr erheblich häufiger sich findet als beim »männlichen«, so wird man hienach im allgemeinen die Annahme wagen dürfen, sie sei eine dem Thelyplasma eigentümliche, »idiopathische« Affektion. So dürfte z. B. Myxödem eine Krankheit von W sein; Hydrokele ist naturgemäß eine Krankheit von M.

Doch können selbst die am lautesten sprechenden Zahlen der Statistik hier so lange vor theoretischen Irrtümern nicht mit Sicherheit bewahren, als nicht von dem Charakter irgend eines Leidens gezeigt ist, daß es in unauflöslicher, funktioneller Beziehung an die Männlichkeit oder an die Weiblichkeit geknüpft ist. Die Theorie der betreffenden Krankheiten wird auch darüber Rechenschaft zu geben haben, warum sie »fast ausschließlich bei einem Geschlechte auftreten«, d. h. (in der hier begründeten Fassung) warum sie entweder M oder W zugehören.

III. Kapitel.
Gesetze der sexuellen Anziehung

 
Carmen:
»L'amour est un oiseau rebelle,
Que nul ne peut apprivoiser:
Et c'est bien en vain qu'on l'appelle,
S'il lui convient de refuser.
Rien n'y fait; menace ou prière:
L'un parle, l'autre se tait;
Et c'est l'autre que je prefère;
Il n'a rien dit, mais il me plaît.
.............
L'amour est enfant de Bohême
Il n'a jamais connu de loi.«
 
?

In den alten Begriffen ausgedrückt, besteht bei sämtlichen geschlechtlich differenzierten Lebewesen eine auf Begattung gerichtete Anziehung zwischen Männchen und Weibchen, Mann und Weib. Da Mann und Weib aber nur Typen sind, die in der Realität nirgends rein sich vertreten finden, so werden wir hievon nicht mehr so sprechen können, daß die geschlechtliche Anziehung ein Masculinum schlechtweg und ein Femininum schlechtweg einander zu nähern suche. Über die Tatsachen der sexuellen Wirkungen muß aber auch die hier vertretene Theorie, wenn sie vollständig sein soll, Rechenschaft geben können, ja es muß auch ihr Erscheinungsgebiet sich mit den neuen Mitteln besser darstellen lassen als mit den bisherigen, wenn jene vor diesen ihren Vorzug behaupten sollen. Wirklich hat mich die Erkenntnis, daß M und W in allen verschiedenen Verhältnissen sich auf die Lebewesen verteilen, zur Entdeckung eines ungekannten, bloß von einem Philosophen einmal geahnten Naturgesetzes geführt, eines Gesetzes der sexuellen Anziehung. Beobachtungen des Menschen ließen es mich gewinnen, und ich will daher von diesem hier ausgehen.

Jeder Mensch hat, was das andere Geschlecht anlangt, einen bestimmten, ihm eigentümlichen »Geschmack«. Wenn wir etwa die Bildnisse der Frauen vergleichen, die irgend ein berühmter Mann der Geschichte nachweislich geliebt hat, so finden wir fast immer, daß alle eine beinahe durchgängige Übereinstimmung aufweisen, die äußerlich am ehesten hervortreten wird in ihrer Gestalt (im engeren Sinne des Wuchses) oder in ihrem Gesichte, aber sich bei näherem Zusehen bis in die kleinsten Züge – ad unguem, bis auf die Nägel der Finger – erstrecken wird. Ganz ebenso verhält es sich aber auch sonst. Daher die Erscheinung, daß jedes Mädchen, von welchem eine starke Anziehung auf den Mann ausgeht, auch sofort die Erinnerung an jene Mädchen wachruft, die schon früher ähnlich auf ihn gewirkt haben. Jeder hat ferner zahlreiche Bekannte, deren Geschmack, das andere Geschlecht betreffend, ihm schon den Ausruf abgenötigt hat: »Wie einem die gefallen kann, verstehe ich nicht!« Eine Menge Tatsachen, welche den bestimmten besonderen Geschmack jedes Einzelwesens auch für die Tiere außer allen Zweifel setzen, hat Darwin gesammelt (in seiner »Abstammung des Menschen«). Daß Analoga zu dieser Tatsache des bestimmten Geschmackes aber selbst bei den Pflanzen sich deutlich ausgeprägt finden, wird bald besprochen werden.

Die sexuelle Anziehung ist fast ausnahmslos nicht anders als bei der Gravitation eine gegenseitige; wo diese Regel Ausnahmen zu erleiden scheint, lassen sich beinahe immer differenziertere Momente nachweisen, welche es zu verhindern wissen, daß dem unmittelbaren Geschmacke, der fast stets ein wechselseitiger ist, Folge gegeben werde; oder ein Begehren erzeugen, wenn dieser unmittelbare erste Eindruck nicht dagewesen ist.

Auch der Sprachgebrauch redet vom »Kommen des Richtigen«, vom »Nichtzueinanderpassen« zweier Leute. Er beweist so eine gewisse dunkle Ahnung der Tatsache, daß in jedem Menschen gewisse Eigenschaften liegen, die es nicht ganz gleichgültig erscheinen lassen, welches Individuum des anderen Geschlechtes mit ihm eine sexuelle Vereinigung einzugehen geeignet ist; daß nicht jeder »Mann« für jeden anderen »Mann«, nicht jedes »Weib« für jedes andere »Weib«, ohne daß es einen Unterschied macht, eintreten kann.

Jedermann weiß ferner aus eigener Erfahrung, daß gewisse Personen des anderen Geschlechtes auf ihn sogar eine direkt abstoßende Wirkung ausüben können, andere ihn kalt lassen, noch andere ihn reizen, bis endlich (vielleicht nicht immer) ein Individuum erscheint, mit dem vereinigt zu sein in dem Maße sein Verlangen wird, daß die ganze Welt daneben für ihn eventuell wertlos wird und verschwindet. Welches Individuum ist das? Welche Eigenschaften muß es besitzen? Hat wirklich – und es ist so – jeder Typus unter den Männern einen ihm entsprechenden Typus unter den Weibern zum Korrelate, der auf ihn sexuell wirkt, und umgekehrt, so scheint zumindest hier ein gewisses Gesetz zu walten. Was ist das für ein Gesetz? Wie lautet es? »Gegensätze ziehen sich an«, so hörte ich es formulieren, als ich, bereits im Besitze der eigenen Antwort auf meine Frage, bei verschiedenen Menschen hartnäckig auf das Aussprechen eines solchen drang und ihrer Abstraktionskraft durch Beispiele zu Hilfe kam. Auch dies ist in gewissem Sinne und für einen kleineren Teil der Fälle zuzugeben. Aber es ist doch zu allgemein, zerfließt unter den Händen, die Anschauliches erfassen wollen, und läßt keinerlei mathematische Formulierung zu.

 

Diese Schrift nun vermißt sich nicht, sämtliche Gesetze der sexuellen Anziehung – es gibt ihrer nämlich mehrere – aufdecken zu wollen, und erhebt somit keineswegs den Anspruch, jedem Individuum bereits sichere Auskunft über dasjenige Individuum des anderen Geschlechtes geben zu können, das seinem Geschmack am besten entsprechen werde, wie dies eine vollständige Kenntnis der in Betracht kommenden Gesetze allerdings ermöglichen würde. Nur ein einziges von diesen Gesetzen soll in diesem Kapitel besprochen werden, da es in organischem Zusammenhange mit den übrigen Erörterungen des Buches steht. Einer Anzahl weiterer Gesetze bin ich auf der Spur, doch war dieses das erste, auf das ich aufmerksam wurde, und das, was ich darüber zu sagen habe, ist relativ am fertigsten. Die Unvollkommenheiten im Beweismaterial möge man in Erwägung der Neuheit und Schwierigkeit der Sache mit Nachsicht beurteilen.

Die Tatsachen, aus denen ich dieses Gesetz der sexuellen Affinität ursprünglich gewonnen, und die große Anzahl jener, die es mir bestätigt haben, hier anzuführen, ist jedoch glücklicherweise in gewissem Sinne überflüssig. Ein jeder ist gebeten, es zunächst an sich selbst zu prüfen, und dann Umschau zu halten im Kreise seiner Bekannten; besonders empfehle ich eben jene Fälle der Erinnerung und Beachtung, wo er ihren Geschmack nicht verstanden oder ihnen gar einmal allen »Geschmack« abgesprochen hat, oder wo ihm dasselbe von ihrer Seite widerfahren ist. Jenes Mindestmaß von Kenntnis der äußeren Formen des menschlichen Körpers, welches zu dieser Kontrolle nötig ist, besitzt jeder Mensch.

Auch ich bin zu dem Gesetze, das ich nun formulieren will, auf eben dem Wege gelangt, auf welchen ich hier zunächst habe verweisen müssen.

Das Gesetz lautet: »Zur sexuellen Vereinigung trachten immer ein ganzer Mann (M) und ein ganzes Weib (W) zusammen zu kommen, wenn auch auf die zwei verschiedenen Individuen in jedem einzelnen Fall in verschiedenem Verhältnisse verteilt.«

Anders ausgedrückt: Wenn mμ das Männliche, wμ das Weibliche ist in irgend einem von der gewöhnlichen Auffassung einfach als »Mann« bezeichneten Individuum μ und wω das Weibliche, mω das Männliche dem Grade nach ausdrückt in irgend einer sonst oberflächlich schlechtweg als »Weib« gekennzeichneten Person ω, so ist bei jeder vollkommenen Affinität, d. h. im Falle der stärksten sexuellen Attraktion:

(Ia)   mμ + mω = C(onstans)1 = M = dem idealen Manne

und darum natürlich gleichzeitig auch

(Ib)   wμ + wω = C2 = W = dem idealen Weibe.

Man mißverstehe diese Formulierung nicht. Es ist ein Fall, eine einzige sexuelle Relation, für die beide Formeln Geltung haben, von denen aber die zweite aus der ersten unmittelbar folgt und nichts Neues zu ihr hinzufügt; denn wir operieren ja unter der Voraussetzung, daß jedes Individuum so viel Weibliches hat, als ihm Männliches gebricht. Ist es ganz männlich, so wird es ein ganz weibliches Gegenglied verlangen; ist es ganz weiblich, ein ganz männliches. Ist in ihm aber ein bestimmter größerer Bruchteil vom Manne und ein keineswegs zu vernachlässigender anderer Bruchteil vom Weibe, so wird es zur Ergänzung ein Individuum fordern, das seinen Bruchteil an Männlichkeit zum Ganzen, zur Einheit komplettiert; damit wird aber zugleich auch sein weiblicher Anteil in ebensolcher Weise vervollständigt. Es habe z. B. ein Individuum


Dann wird sein bestes sexuelles Komplement nach diesem Gesetze jenes Individuum ω sein, welches sexuell folgendermaßen zu definieren ist:



Man erkennt bereits in dieser Fassung den Wert größerer Allgemeinheit vor der gewöhnlichen Anschauung. Daß Mann und Weib, als sexuelle Typen, einander anziehen, ist hierin eben nur als Spezialfall enthalten, als jener Fall, in welchem ein imaginäres Individuum sein Komplement in einem ebenso imaginären findet.

Niemand wird zögern, die Tatsache des bestimmten sexuellen Geschmackes zuzugeben; damit ist aber auch die Berechtigung der Frage nach den Gesetzen dieses Geschmackes anerkannt, nach dem Funktionalzusammenhang, in welchem die sexuelle Vorliebe mit den übrigen körperlichen und psychischen Qualitäten eines Wesens steht. Das Gesetz, welches hier aufgestellt wurde, hat von vornherein nicht das geringste Unwahrscheinliche an sich: es steht ihm weder in der gewöhnlichen noch in der wissenschaftlich geeichten Erfahrung das geringste entgegen. Aber es ist an und für sich auch gewiß nicht »selbstverständlich«. Es könnte ja – denkbar wäre es, da das Gesetz selbst bis jetzt nicht weiter ableitbar ist – auch lauten: mμ – m{ω} = Const., d. h. die Differenz im Gehalte an M eine konstante Größe sein, nicht die Summe, also der männlichste Mann von seinem Komplemente, welches dann gerade in der Mitte zwischen M und W läge, ebensoweit entfernt stehen wie der weiblichste Mann von dem seinen, das wir in diesem Falle in der extremen Weiblichkeit zu erblicken hätten. Denkbar wäre das, wie gesagt, doch ist es darum nicht in der Realität verwirklicht. Folgen wir also, in der Erkenntnis, daß wir ein empirisches Gesetz vor uns haben, dem wissenschaftlichen Gebote der Bescheidung, so werden wir vorderhand nicht von einer »Kraft« sprechen, welche die zwei Individuen wie zwei Hampelmännchen gegeneinander laufen läßt, sondern in dem Gesetze nur den Ausdruck eines Verhältnisses erblicken, das in jeder stärksten sexuellen Anziehung in ganz gleicher Weise zu konstatieren ist; es kann nur eine »Invariante« (Ostwald), eine »Multiponible« (Avenarius) aufzeigen, und das ist in diesem Falle die stets gleich bleibende Summe des Männlichen wie die des Weiblichen in den beiden einander mit größter Stärke anziehenden Lebewesen.

Vom »ästhetischen«, vom »Schönheits«-Moment muß hier ganz abgesehen werden. Denn wie oft kommt es vor, daß der eine von einer bestimmten Frau ganz entzückt ist, ganz außer sich über deren »außerordentliche«, »berückende« Schönheit, und der andere »gern wissen möchte«, was an der Betreffenden »denn nur gefunden werden könne«, da sie eben nicht auch sein sexuelles Komplement ist. Ohne hier den Standpunkt irgend einer normativen Ästhetik einnehmen oder für einen Relativismus der Wertungen Beispiele sammeln zu wollen, kann man es aussprechen, daß sicherlich nicht nur vom rein ästhetischen Standpunkte Indifferentes, sondern selbst Unschönes vom verliebten Menschen schön gefunden wird, wobei unter »rein-ästhetisch« nicht ein Absolut-Schönes, sondern nur das Schöne, d. h. das nach Abzug aller »sexuellen Apperzeptionen« ästhetisch Gefallende verstanden werden soll.

Das Gesetz selbst habe ich in mehreren hundert Fällen (um die niederste Zahl zu nennen) bestätigt gefunden, und alle Ausnahmen erwiesen sich als scheinbare. Fast ein jedes Liebespaar, dem man auf der Straße begegnet, liefert eine neue Bestätigung. Die Ausnahmen waren insoferne lehrreich, als sie die Spur der anderen Gesetze der Sexualität verstärkten und zu deren Erforschung aufforderten. Übrigens habe ich auch selbst eine Anzahl von Versuchen in folgender Weise angestellt, daß ich mit einer Kollektion von Photographien rein-ästhetisch untadeliger Frauen, deren jede einem bestimmten Gehalte an W entsprach, eine Enquête veranstaltete, indem ich sie einer Reihe von Bekannten, »zur Auswahl der Schönsten«, wie ich hinterlistig sagte, vorlegte. Die Antwort, die ich bekam, war regelmäßig dieselbe, die ich im voraus erwartete. Von anderen, die bereits wußten, worum es sich handelte, habe ich mich in der Weise prüfen lassen, daß sie mir Bilder vorlegten, und ich aus diesen die für sie Schönste herausfinden mußte. Dies ist mir immer gelungen. Anderen habe ich, ohne daß sie mir vorher unfreiwillige Stichproben davon geliefert hatten, ihr Ideal vom anderen Geschlechte zuweilen mit annähernder Vollständigkeit beschreiben können, jedenfalls oft viel genauer, als sie selbst es anzugeben vermochten; manchmal wurden sie jedoch auch auf das, was ihnen mißfiel – was die Menschen im allgemeinen viel eher kennen als das, was ihnen gefällt – erst aufmerksam, als ich es ihnen sagte.

Ich glaube, daß der Leser bei einiger Übung es bald zu der gleichen Fertigkeit wird bringen können, die einige Bekannte aus einem engeren wissenschaftlichen Freundeskreis, von den hier vertretenen Ideen angeregt, bereits erlangt haben. Freilich wäre hiezu eine Erkenntnis der anderen Gesetze der sexuellen Anziehung sehr erwünscht. Als Proben auf das Verhältnis wirklicher komplementärer Ergänzung ließen sich eine Menge spezieller Konstanten namhaft machen. Man könnte z. B. auf den Gedanken geraten, die Summe der Haarlängen zweier Verliebter sei immer gleich groß. Doch wird dies schon aus den im zweiten Kapitel erörterten Gründen nicht immer zutreffen, indem nicht alle Organe eines und desselben Wesens gleich männlich oder gleich weiblich sind. Überdem würden solche heuristische Regeln bald sich vermehren und dann schnell zu der Kategorie der schlechten Witze herabsinken, weshalb ich hier von ihrer Anführung lieber absehen mag.

Ich verhehle mir nicht, daß die Art, wie dieses Gesetz hier eingeführt wurde, etwas Dogmatisches hat, das ihm bei dem Mangel einer exakten Begründung um so schlechter ansteht. Mir konnte aber auch hier weniger daran liegen, mit fertigen Ergebnissen hervorzutreten, als zur Gewinnung solcher anzuregen, nachdem die Mittel, die mir zur genauen Überprüfung jener Sätze nach naturwissenschaftlicher Methode zur Verfügung standen, äußerst beschränkte waren. Wenn also auch im einzelnen vieles hypothetisch bleibt, so hoffe ich doch im folgenden mit Hinweisen auf merkwürdige Analogien, die bisher keine Beachtung gefunden haben, die einzelnen Balken des Gebäudes noch durcheinander stützen zu können: einer »rückwirkenden Verfestigung« vermögen vielleicht selbst die Prinzipien der analytischen Mechanik nicht zu entbehren.

Eine höchst auffällige Bestätigung erfährt das aufgestellte Gesetz zunächst durch eine Gruppe von Tatsachen aus dem Pflanzenreiche, die man bisher in völliger Isolation betrachtet hat und denen demgemäß der Charakter der Seltsamkeit in hohem Grade anzuhaften schien. Wie jeder Botaniker sofort erraten haben wird, meine ich die von Persoon entdeckte, von Darwin zuerst beschriebene, von Hildebrand benannte Erscheinung der Ungleichgriffeligkeit oder Heterostylie. Sie besteht in folgendem: Viele dikotyle (und eine einzige monokotyle) Pflanzenspezies, z. B. Primulaceen und Geraniaceen, besonders aber viele Rubiaceen, lauter Pflanzen, auf deren Blüte sowohl Pollen als Narbe funktionsfähig sind, aber nur für Produkte fremder Blüten, die also in morphologischer Beziehung androgyn, in physiologischer Hinsicht jedoch diözisch erscheinen – diese alle haben die Eigentümlichkeit, ihre Narben und Staubbeutel auf verschiedenen Individuen zu verschiedener Höhe zu entwickeln. Das eine Exemplar bildet ausschließlich Blüten mit langem Griffel, daher hochstehender Narbe und niedrigen Antheren (Staubbeuteln): es ist nach meiner Auffassung das weiblichere. Das andere Exemplar hingegen bringt nur Blüten hervor mit tiefstehender Narbe und hochstehenden Antheren (weil langen Staubfäden): das männlichere. Neben diesen »dimorphen« Arten gibt es aber auch »trimorphe«, wie Lythrum salicaria, mit dreierlei Längenverhältnissen der Geschlechtsorgane: außer der Blütenform mit langgriffeligen und der mit kurzgriffeligen findet sich hier noch eine mit »mesostylen« Blüten, d. i. mittellangen Griffeln. Obwohl nur dimorphe und trimorphe Heterostylie den Weg in die Kompendien gefunden haben, ist auch damit die Mannigfaltigkeit nicht erschöpft. Darwin deutet an, daß, »wenn kleinere Verschiedenheiten berücksichtigt werden, fünf verschiedene Sitze von männlichen Organen zu unterscheiden seien«. Es besteht also auch die hier unleugbar vorkommende Diskontinuität, die Trennung der verschiedenen Grade von Maskulität und Muliebrität in verschiedene Stockwerke nicht allgemein zu Recht, auch in diesem Falle haben wir hie und da kontinuierlichere sexuelle Zwischenformen vor uns. Anderseits ist auch dieses diskrete Fächerwerk nicht ohne frappante Analogien im Tierreich, wo die betreffenden Erscheinungen als ebenso vereinzelt und wunderbar angesehen wurden, weil man sich der Heterostylie gar nicht entsann. Bei mehreren Insektengattungen, nämlich bei Forficuliden (Ohrwürmern) und Lamellicornien (und zwar bei Lucanus cervus, dem Hirschkäfer, bei Dynastes hercules und Xylotrupes gideon) gibt es einerseits viele Männchen, welche den sekundären Geschlechtscharakter, der sie von den Weibchen am sichtbarsten scheidet, die Fühlhörner zu sehr großer Länge entwickeln; die andere Hauptgruppe der Männchen hat nur relativ wenig entwickelte Hörner. Bateson, von dem die ausführlichere Beschreibung dieser Verhältnisse herrührt, unterscheidet darum unter ihnen »high males« und »low males«. Zwar sind diese beiden Typen durch kontinuierliche Übergänge miteinander verbunden, aber die zwischen ihnen vermittelnden Stufen sind selten, die meisten Exemplare stehen an der einen oder der anderen Grenze. Leider ist es Bateson nicht darum zu tun gewesen, die sexuellen Beziehungen dieser beiden Gruppen zu den Weibchen zu erforschen, da er die Fälle nur als Beispiele diskontinuierlicher Variation anführt; und so ist nicht bekannt, ob es zwei Gruppen auch unter den Weibchen der betreffenden Arten gibt, die eine verschiedene sexuelle Affinität zu den verschiedenen Formen der Männchen besitzen. Darum lassen sich auch diese Beobachtungen nur als eine morphologische Parallele zur Heterostylie, nicht als physiologische Instanzen für das Gesetz der sexuellen Anziehung verwenden, für das die Heterostylie in der Tat sich verwerten läßt.

 

Denn in den heterostylen Pflanzen liegt vielleicht eine völlige Bestätigung der Ansicht von der allgemeinen Gültigkeit jener Formel innerhalb aller Lebewesen vor. Es ist von Darwin nachgewiesen und seither von vielen Beobachtern in gleicher Weise konstatiert worden, daß bei den heterostylen Pflanzen Befruchtung fast nur dann Aussicht auf guten Erfolg hat, ja oft nur in dem Falle möglich ist, wenn der Pollen der makrostylen Blüte, d. i. derjenige von den niedrigeren Antheren, auf die mikrostyle Narbe eines anderen Individuums, welches sodann lange Staubfäden hat, übertragen wird, oder der aus hochstehenden Staubbeuteln stammende Pollen einer mikrostylen Blüte auf die makrostyle Narbe einer anderen Pflanze (mit kurzen Filamenten). So lang also in der einen Blüte der Griffel, d. h. so gut weiblich in ihr das weibliche Organ entwickelt ist, so lang muß in der anderen, von der sie mit Erfolg empfangen soll, das männliche, der Staubfaden sein, und umso kürzer in der letzteren der Griffel, dessen Länge den Grad der Weiblichkeit mißt. Wo dreierlei Griffellängen vorhanden sind, da fällt die Befruchtung nach derselben erweiterten Regel am besten aus, wenn der Pollen auf diejenige Narbe übertragen wird, die auf einer anderen Blüte in derselben Höhe steht wie der Staubbeutel, aus welchem der Pollen stammt. Wird dies nicht eingehalten, sondern etwa künstliche Befruchtung mit nicht-adäquatem Pollen herbeigeführt, so entstehen, wenn diese Prozedur überhaupt von Erfolg begleitet ist, fast immer nur kränkliche und kümmerliche, zwerghafte und durchaus unfruchtbare Sprößlinge, die den Hybriden aus verschiedenen Spezies äußerst ähneln.

Den Autoren, welche die Heterostylie besprochen haben, merkt man es insgesamt an, daß sie mit der gewöhnlichen Erklärung dieses verschiedenartigen Verhaltens bei der Befruchtung nicht zufrieden sind. Diese besagt nämlich, daß die Insekten beim Blütenbesuch gleich hoch gestellte Sexualorgane mit der gleichen Körperstelle berühren und so den merkwürdigen Effekt herbeiführen. Darwin gesteht jedoch selbst, daß die Bienen alle Arten von Pollen an jeder Körperstelle mit sich tragen; es bleibt also das elektive Verfahren der weiblichen Organe bei Bestäubung mit doppelt und dreifach verschiedenen Pollen nach wie vor aufzuhellen. Auch scheint jene Begründung, so ansprechend und zauberkräftig sie sich ausnimmt, doch etwas oberflächlich, wenn eben mit ihr verständlich gemacht werden soll, warum künstlicher Bestäubung mit inadäquatem Pollen, sogenannter »illegitimer Befruchtung«, so schlechter Erfolg beschieden ist. Jene ausschließliche Berührung mit »legitimem« Pollen müßte dann die Narben durch Gewöhnung nur für den Blütenstaub dieser einen Provenienz aufnahmsfähig haben werden lassen; aber es konnte soeben Darwin selbst als Zeuge dafür einvernommen werden, daß diese Unberührtheit durch anderen Pollen vollkommen illusorisch ist, indem die Insekten, welche als Ehevermittler hiebei in Anspruch genommen werden, tatsächlich viel eher eine unterschiedslose Kreuzung begünstigen.

Es scheint also die Hypothese viel plausibler, daß der Grund dieses eigentümlich auswählenden Verhaltens ein anderer, tieferer, in den Blüten selbst ursprünglich gelegener ist. Es dürfte sich hier wie beim Menschen darum handeln, daß die sexuelle Anziehung zwischen jenen Individuen am größten ist, deren eines ebensoviel von M besitzt wie das andere von W, was ja wieder nur ein anderer Ausdruck der obigen Formel ist. Die Wahrscheinlichkeit dieser Deutung wird ungemein erhöht dadurch, daß in der männlicheren, kurzgriffeligen Blüte die Pollenkörner in den hier höher stehenden Staubbeuteln auch stets größer, die Narbenpapillen kleiner sind als die homologen Teile in der langgriffeligen weiblicheren. Man sieht hieraus, daß es sich kaum um etwas anderes handeln kann als um verschiedene Grade der Männlichkeit und Weiblichkeit. Und unter dieser Voraussetzung erfährt hier das aufgestellte Gesetz der sexuellen Affinität eine glänzende Verifikation, indem eben im Tier- und im Pflanzenreiche – an späterem Orte wird hierauf zurückzukommen sein – Befruchtung stets dort den besten Erfolg aufweist, wo die Eltern die größte sexuelle Affinität zueinander gehabt haben.8

Daß im Tierreich das Gesetz in voller Geltung besteht, wird erst bei der Besprechung des »konträren Sexualtriebes« zu großer Wahrscheinlichkeit erhoben werden können. Einstweilen möchte ich hier nur darauf aufmerksam machen, wie interessant Untersuchungen darüber wären, ob nicht auch die größeren, schwerer beweglichen Eizellen die flinkeren und schlankeren unter den Spermatozoiden stärker anziehen als die kleineren, dotterreichen und zugleich weniger trägen Eier, und diese nicht gerade die langsameren, voluminöseren unter den Zoospermien an sich locken. Vielleicht ergibt sich hier wirklich, wie L. Weill in einer kleinen Spekulation über die geschlechtsbestimmenden Faktoren vermutet hat, eine Korrelation zwischen den Bewegungsgrößen oder den kinetischen Energien der beiden Konjugationszellen. Es ist ja noch nicht einmal festgestellt – freilich auch sehr schwierig festzustellen – ob die beiden Generationszellen, nach Abzug der Reibung und Strömung im flüssigen Medium, eine Beschleunigung gegeneinander aufweisen oder sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit bewegen würden. So viel und noch einiges mehr könnte man da fragen.

Wie schon mehrfach hervorgehoben wurde, ist das bisher besprochene Gesetz der sexuellen Anziehung beim Menschen (und wohl auch bei den Tieren) nicht das einzige. Wäre es das, so müßte es ganz unbegreiflich scheinen, daß es nicht schon längst gefunden wurde. Gerade weil sehr viele Faktoren mitspielen, weil noch eine, vielleicht beträchtliche, Anzahl anderer Gesetze erfüllt sein muß9, darum sind Fälle von unaufhaltsamer sexueller Anziehung so selten. Da die bezüglichen Forschungen noch nicht abgeschlossen sind, will ich von jenen Gesetzen hier nicht sprechen und bloß der Illustration halber noch auf einen weiteren, mathematisch wohl nicht leicht faßbaren der in Betracht kommenden Faktoren hinweisen.

Die Erscheinungen, auf die ich anspiele, sind im einzelnen ziemlich allgemein bekannt. Ganz jung, noch nicht 20 Jahre alt, wird man meist durch ältere Frauen (von über 35 Jahren) angezogen, während man mit zunehmendem Alter immer jüngere liebt; ebenso ziehen aber auch (Gegenseitigkeit!) die ganz jungen Mädchen, der »Backfisch«, ältere Männer oft jüngeren vor, um später wieder mit ganz jungen Bürschlein nicht selten die Ehe zu brechen. Das ganze Phänomen dürfte viel tiefer wurzeln, als es nach der anekdotenhaften Art aussehen möchte, in der man meist von ihm Notiz nimmt.

Trotz der notwendigen Beschränkung dieser Arbeit auf das eine Gesetz wird es im Interesse der Korrektheit liegen, wenn nun eine bessere mathematische Formulierung, die keine unwahre Einfachheit vortäuscht, versucht wird. Auch ohne alle mitspielenden Faktoren und in Frage kommenden anderen Gesetze als selbständige Größen einzuführen, erreichen wir diese äußerliche Genauigkeit durch Hinzufügung eines Proportionalitätsfaktors.

8Für spezielle Zwecke der Züchter, deren Absichten meist auf Abänderung der natürlichen Tendenzen gehen, muß hievon freilich oft abgegangen werden.
9Gewöhnlich denkt man, wenn von einer Konstanz im sexuellen Geschmack des Mannes oder der Frau gesprochen wird, zunächst an die Bevorzugung einer Lieblingsfarbe des Kopfhaares beim anderen Geschlechte. Es scheint auch wirklich, wo überhaupt einer bestimmten Farbe der Haare der Preis gegeben wird (dies ist nicht bei allen Menschen der Fall), die Vorliebe für diese ziemlich tief zu liegen.