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TEIL I

Das Leben mit Kindern aus neuer Perspektive

KAPITEL 1

Kinder ins Leben zu begleiten ist eine unverzichtbare, aber schwierige Aufgabe

Eine der besten Dinge am Elternsein ist die Chance, unsere Kinder von ganzem Herzen zu lieben. Wie tief und vollkommen diese Liebe ist, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Doch gibt es auch solche Momente, in denen wir Eltern alles andere als liebevolle Gefühle hegen. Wir reißen uns jedoch zusammen – und lieben wieder.

Im Blick auf Ihre eigene Familie haben Sie wahrscheinlich bemerkt, dass jede neue Elterngeneration ihren Kindern ein stärkeres, liebevolleres Fundament zu vermitteln versucht, als sie es selbst erhalten hat. Unter halbwegs günstigen Umständen gelingt das den meisten Eltern auch.

Sie spielen für das Wohlergehen Ihrer Kinder eine entscheidende Rolle.

Sie brauchen Ihre Liebe, viel herzliche Aufmerksamkeit und Ihr Vertrauen darauf, dass sie gut sind. Jeder Versuch, sie zu verstehen und zu leiten, lohnt sich. Ihre Arbeit als Mutter und Vater geschieht in kleinen, alltäglichen Interaktionen. Sie putzen Ihrem Kind sanft die Nase. Sie spielen draußen Fangen, bis es dunkel wird. Sie sagen nichts, wenn Ihrem Kind der ketchuptriefende Hotdog auf den Fußboden fällt. Abends glauben Sie dann vielleicht, den ganzen Tag nichts geschafft zu haben. Wäre ich Ihnen jedoch heimlich gefolgt, so könnte ich hundert Taten Ihrer stillen Fürsorge aufzählen, die Ihnen vor lauter Müdigkeit nicht mehr einfallen.

Leider genießt Ihr elterliches Engagement so gut wie kein öffentliches Interesse. Wo gibt es eine Schlagzeile darüber, dass der Nachbarhund Ihrem Kind endlich keine Angst mehr einjagt oder Sie zwischen Geschwistern einen Streit geschlichtet haben, ohne selbst zu explodieren? Ohne jegliches Aufsehen und in zahllosen Interaktionen prägen Sie die Persönlichkeit Ihres Kindes. Ohne Ihre Liebe und Präsenz in der gemeinsam verbrachten Zeit würden Genialität, Neugier und Vitalität der Kinder verkümmern.

Durch jahrelange Erfahrung im Zuhören haben wir drei grundlegende Einsichten über das Elterndasein gewonnen:

Wir tun unser Allerbestes. Väter besuchen direkt nach ihrer 24-Stunden-Schicht einen Elternabend. Trotz Grippe und 39° Fieber lassen Mütter ihre Kleinen nicht im Stich. Eltern ohne Krankenversicherung verkaufen all ihr Hab und Gut, damit ihr Kind medizinisch versorgt werden kann. Im Leben mit Kindern ist Mut nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Wir brauchen gute Unterstützung. Damit wir unser Bestes geben können, brauchen wir herzliche, auf respektvoller Wertschätzung gründende Beziehungen. Wir benötigen die Bestätigung, dass unsere Kinder von Grund auf gut sind und sich ebenfalls bemühen, ihr Bestes zu geben. Und wir brauchen für den emotionalen Stress, der zum Leben mit Kindern gehört, eine gute Bewältigungsstrategie.

Über die Erziehung unserer Kinder entwickeln wir Führungsqualitäten. Wenn unsere Kinder wiederholt nach dem „Warum“ fragen, gibt uns das Gelegenheit, gründlich über alle wichtigen Menschheitsfragen nachzudenken: Gerechtigkeit, Mitgefühl, Integrität, Höflichkeit, Privateigentum, unser Umgang mit anderen Lebewesen, Frieden stiften, Wiedergutmachung, Förderung von Persönlichkeitsentwicklung und der Sinn des Lebens. Um Fürsprecher unserer Kinder zu sein, lernen wir, gute Beziehungen zu anderen aufzubauen und sie zur Mitarbeit zu gewinnen. Um in der Familie die „Leitwölfe“ zu sein, lernen wir, schon am Esstisch oder morgens auf dem Schulweg zu leiten und zu inspirieren. Und wenn möglich, setzen wir unsere Führungsqualitäten zu positiver Veränderung unserer Gemeinden ein.

Ihre Bedeutung als Eltern ist offensichtlich – auf sich allein gestellt wären Ihre Kinder Gefahren und großem Leid ausgeliefert –, aber es ist offensichtlich schwer, Ihre wichtige Arbeit nicht als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Als Hausmann oder Hausfrau spüren Sie bei der beiläufigen Frage nach Ihrer Arbeit den Mut sinken, wenn Sie erlebt haben, dass mit der Antwort, „Ich bin zu Hause bei meinen Kindern“, das Gespräch beendet ist. Als Erwerbstätige hat man schnell das Gefühl, auf der Stelle zu treten, fühlt sich gestresst und unfähig, allen Anforderungen gerecht zu werden. In welcher Situation Sie sich auch wiederfinden, allzu leicht vergisst man seine Bedeutung als Eltern, obwohl man doch täglich für das Überleben der Familie sorgt.

Beim Zusammenkleben des Spielzeugfliegers Ihres Kindes oder wenn Sie eine Orange in mundgerechte Stückchen zerteilen, wird Ihnen nicht bewusst sein, dass sich Ihre Fürsorge noch über viele Generationen hinweg auswirken wird. Dennoch werden Sie durch Ihre unauffällige Güte dafür sorgen, dass Ihre Kinder eines Tages mit ihrem eigenen Nachwuchs sogar noch aufmerksamer und weiser umgehen werden.

Ob nun anerkannt oder nicht, wie Sie Ihre Kinder ins Leben begleiten, spielt eine entscheidende Rolle. Mit Ihrer Liebe und Ihrem Urteil prägen Sie Ihr Kind täglich unzählige Male und dieser Eindruck bleibt haften. Sie werden ihn als dauerhaftes Werk weitergeben.

Wir sind gute Menschen, wir erfüllen eine wichtige Aufgabe und unsere Kinder sind reizende und wertvolle Wesen. Warum also ist es so schwierig? Warum schleppen wir uns oft durch den Tag und erleben die Essens- und Einschlafrituale als so quälend?

Leicht werfen wir uns dann mangelnde Geduld vor oder tadeln die Kinder für ihr unausstehliches Verhalten. Doch diese Hemmnisse sind so universell, dass sich dahinter Faktoren vermuten lassen, die über unseren unmittelbaren Einflussbereich hinausreichen. Vor der Geburt unserer Kinder hatten wir doch Energie. Geduld war damals auch nicht gerade ein Fremdwort. Und selbst wenn wir Kämpfe auszufechten hatten, konnten wir daraus eher lernen und wachsen als heute. Also, was ist hier los?

Äussere Faktoren erschweren das Leben mit Kindern

Tatsächlich gibt es mächtigere Einflussfaktoren, die das Leben mit Kindern erschweren – gesellschaftliche Zwänge, die uns die so nötige Zeit für Geborgenheit mit unseren Kindern streitig machen. Hier folgt zusammengefasst die Situation in den USA:

• Man braucht über 200.000 USD und darüber hinaus unermesslich viel Nestwärme, Großzügigkeit und Weisheit, um in den USA ein Kind bis zum 18. Lebensjahr gut zu versorgen. Aber die Eltern erhalten keine Vorbereitung, finanzielle Unterstützung oder Schutz vor erdrückenden Lebensumständen. Die Kindererziehung hat damit den wirtschaftlichen Stellenwert eines Hobbys.

• Die üblichen Erziehungsgewohnheiten und arbeitsrechtlichen Regelungen halten Väter eher von ihren Kindern fern.

• Armut, Rassismus, Sexismus und andere diskriminierende Faktoren verschlimmern die Mühen und den Stress der Eltern und verletzen unsere Kinder.

• Eltern sind öffentliche Zielscheibe für Kritik.

Wir wollen nun jede dieser Belastungen genauer betrachten:

Das Aufziehen von Kindern ist Privatsache, ein 24-Stunden-Job, der schlagartig mit dreijähriger Intensivpflege des Kindes beginnt. Daran schließen sich noch mindestens 15 weitere Jahre an, in denen Folgendes von uns Eltern erwartet wird: Hingabe, Führung, Forschung, Fürsprache, Diplomatie, Nachtarbeit, Toilettentraining, Körperpflege, Nachhilfeunterricht, Kochen, Fahrdienst, Erste Hilfe und vieles mehr. Vor allem sollen wir täglich und jederzeit ein Vorbild an Fürsorge und Weisheit sein, im Großen wie im Kleinen.

Außerdem braucht Ihr Kind zum Gedeihen reichlich Aufmerksamkeit. Es braucht Spiel – und wie viel! Und Eltern, die von ihm hingerissen sind. Liebe steht im Mittelpunkt dieser Aufgabe und die von Ihrem Kind zurückfließende Liebe wird Ihr Leben bereichern. Dafür müssen Sie mit ihm bis zu seinem zweiten Lebensjahr aber auch mindestens zehn Erkältungen durchstehen. Es wird Sie nachts oft aufwecken, in endlose Sorgen treiben und zu guter Letzt wird es Ihnen wahrscheinlich eines Tages unverblümt sagen, für wie doof es Sie hält. Und doch braucht es weiterhin Ihre Liebe. Das eigene Kind aufzuziehen ist nun wirklich kein Hobby!

Hohe Arbeitsbelastung und die überholte Vorstellung, dass für Kinder hauptsächlich die Mutter zuständig sei, kann Väter von ihren Kindern entfremden, was beiden die elterliche Fürsorge erschwert. Spielt der Vater trotz seiner Anwesenheit nur eine untergeordnete Rolle, leiden alle darunter. Das heißt aber natürlich nicht, dass die Familie „zerrüttet“ ist, wenn es Vater oder Mutter nicht gelingt, ihre Elternrolle voll und ganz einzunehmen. Die Resilienz-Forschung bestätigt den gesunden Menschenverstand: Dem Kind genügt eine liebende Person, damit es die für einen gelingenden Start ins Leben notwendige positive Beachtung erhält. Aber diese eine Person braucht unbedingt selbst Unterstützung!

Ungerechtigkeit zehrt an der Kraft vieler Eltern. In den USA gilt jedes fünfte Kind als arm (Anmerk. d. Verlags: in Deutschland in 2015 vergleichbar). Mit dieser Armut gehen das Aufwachsen in gefährlicher Umgebung, Hunger, schlechter Gesundheitszustand und niedrige Schulbildung einher. Eltern führen unter solchen Bedingungen ein aufreibendes Leben. Ihren Kindern fehlt oft die Gelegenheit, unbeschwert zu spielen und sich in der Freude der umgebenden Erwachsenen zu sonnen. Und wenn eine Familie auch noch zur Zielscheibe von Rassismus, Homophobie oder ähnlicher Diskriminierung wird, dann steht das Potenzial aller Familienmitglieder auf dem Spiel.

Schließlich haben Sie wahrscheinlich entdeckt, dass Sie wegen Ihrer Art der Kindererziehung von Bekannten und sogar völlig Fremden kritisiert werden. Erwachsene haben kleinen Kindern gegenüber oft wenig Geduld. In der Öffentlichkeit gehen viele von uns deshalb aus Angst hart mit den eigenen Kindern um und schelten beispielsweise die Sprösslinge lautstark, damit bloß nicht irgendjemand anderes auf diese Idee kommt oder wir als unfähig angesehen werden.

 

Wenn sich Kinder danebenbenehmen, werden die Eltern dafür verantwortlich gemacht. Auch wenn sich die Kinder in der Schule schwertun, wird die Schuld bei den Eltern gesucht. Aber alle Eltern, denen ich jemals zugehört habe, gaben ihr Bestes. Alle Eltern sind mit Herausforderungen konfrontiert, die sie nicht selbst zu verantworten haben.

Wir sind auch mit inneren Herausforderungen konfrontiert

Abgesehen von diesen gesellschaftlichen Hürden, stehen wir auch inneren Herausforderungen gegenüber. Unser Erziehungsstil wird teilweise von den besten Erfahrungen mit unseren eigenen Eltern geprägt. Unwissentlich werden wir zur Schlafenszeit zur liebenswürdigen Kopie unseres Vaters oder wir begleiten unser Kind beim Versuch, einen Nagel in die Wand zu schlagen, ebenso geduldig wie unsere Mutter. Aber manche unserer Erziehungsstrategien spiegeln auch den Druck der belastenden Lebensbedingungen unserer Eltern wider, den sie durch ihre Erziehung an uns weitergegeben haben. Also werden wir nach einem frustrierenden Tag so beißende Drohungen ausstoßen wie früher unser Vater oder unser Kind so am Arm zerren, wie das unsere Mutter mit uns gemacht hat. Und wahrscheinlich haben Sie bemerkt, dass Sie es nicht verhindern können, dass manchmal nackte Emotionen die Oberhand bekommen, obwohl Sie sich geschworen haben, weder zu brüllen noch zu prügeln oder ein Donnerwetter loszulassen. Wir sind gute Eltern, aber wir schleppen eben auch einigen Ballast mit uns herum.

Das leben mit Kindern ist Arbeit an den Emotionen

Sie können nicht vorhersagen, wie Sie sich fühlen, wenn Sie zu Eltern werden. Aber ausbleiben werden die Gefühle sicher nicht! Sie werden von außergewöhnlichen Hoffnungen und tiefsitzenden Ängsten hin- und hergerissen, von überfließender Dankbarkeit und bitterem Groll, Liebe und Hass. Da sind Sorgen, da ist Freude. Stolz und zuversichtlich beobachten Sie, wie Ihr Kind auf dem Spielplatz spontan Freundschaft schließt. Aber wenn es um zwei Uhr morgens wegen Ohrenschmerzen weint, werden Sie von Hilflosigkeit überfallen. Wenn Gefühle aufkommen, dann gleich heftig.

Allerdings werden diese von den Gefühlsausbrüchen unserer Kinder weit übertroffen! Gute Kinder weinen nicht bloß, sie werden von Schluchzern durchgeschüttelt. Sie legen keine Beschwerde ein, sie bekommen einen Wutanfall. Völlig normale Kinder kreischen und werfen mit Gegenständen um sich. Sie rennen schreiend durchs Haus, teilen Tritte aus und beben vor Zorn. Wenn Sie mit einem Kind leben, dann haben Sie es mit einem Beethoven der Emotionen zu tun, einem Genie in den Gefilden leidenschaftlichen Ausdrucks.

Die Arbeit an den Emotionen lässt sich im Leben mit Kindern nicht vermeiden. Ob Sie Ihren Ärger herunterschlucken und geduldig zu bleiben versuchen oder vor der Familie ausrasten, alles gehört zur emotionalen Arbeit. Sie können versuchen ruhig und vernünftig zu bleiben, aber Gefühle herunterzuschlucken tut uns Menschen auf Dauer nicht gut. Wir können die viel gepriesenen zehn tiefen Atemzüge nehmen und Ärger zurückhalten. Aber nach einer Weile reizt es uns, unter einem Vorwand die wahren Gefühle zu zeigen, und wir explodieren am Ende doch noch. Für den Umgang mit dieser emotionalen Arbeit haben sich bisher noch keine guten Strategien etabliert. Nur eines ist sicher: Wozu wir uns auch entschließen, keinesfalls dürfen wir unsere Gefühle ignorieren.

Was kann nun in einer Durchschnittsfamilie zu einer erheblich stressbelasteten Eltern-Kind-Beziehung führen? Was Eltern manchmal so alles begegnet, kann ich bereits anhand einiger Erfahrungen aus meiner Verwandtschaft demonstrieren: Im Kindesalter stieß mein Mann seinen Bruder auf der Golden Gate Bridge aus dem fahrenden Auto. Die Mutter musste mitten auf der Fahrspur anhalten, zurückrennen und ihren Sohn von der Schnellstraße auflesen. Meine Schwester fiel in ihrer Entwicklung bis zu schwerster geistiger Behinderung zurück und nach einem Jahr erkannte sie uns nicht mehr und konnte nicht einmal mehr willentlich ihre Körperglieder bewegen. Mein Bruder schoss mit einem Luftgewehr seinem Freund um Haaresbreite ein Auge aus. Meine Cousine erkrankte mit zwölf Jahren an einer chronischen Gelenkentzündung und saß monatelang im Rollstuhl. Mein Onkel, ein Pilot der Luftwaffe, kehrte so schwer traumatisiert aus dem Vietnamkrieg zurück, dass er es weder mit Frau und Tochter noch mit sonst jemandem aushielt. Nirgendwo fand er Trost und nahm sich schließlich das Leben.

Sie können sich vorstellen, wie jedes der betroffenen Familienmitglieder mit den Nerven am Ende war. Viele leiden noch heute sehr daran. Und das ist nur eine kleine Stichprobe aus einer Mittelschichtssippe, der es an nichts fehlte, außer an emotionaler Unterstützung.

Die wenigsten Eltern bleiben von ernsten Schwierigkeiten völlig verschont. Dann tasten wir uns oft Schritt für Schritt voran und wahren in der Öffentlichkeit das Gesicht. Aber das Leben mit unseren Kindern kann uns bis auf die Knochen zermürben, und zwar ganz unabhängig von unserem sozialen Status.

Sich der emotionalen Arbeit zu stellen – Ablademöglichkeiten für Stress zu suchen und die selbst errichteten Schutzwälle abzutragen –, das ist noch nicht zur allgemeinen Norm geworden. Wenn wir von Gefühlen überflutet werden, aber keine seelische Unterstützung bekommen, verlieren wir die Orientierung. Dann befinden wir uns auf unbekanntem Terrain. Wir fühlen uns schlecht und tun Dinge, die wir später bereuen. Aber wir fühlen uns zu isoliert oder schämen uns zu sehr, als dass wir über unsere Kämpfe reden. Eine kleine Minderheit von uns hat sich vielleicht kleinlaut zu einer Beratung oder Selbsthilfegruppe geschleppt. Dort haben wir uns vielleicht im geschützten Raum unseren Problemen gestellt und uns zur Arbeit an den Emotionen durchgerungen. Die Erfahrungen anderer in ähnlich schwierigen Situationen haben uns vielleicht gelehrt, dass wir mit unseren Kämpfen nicht alleine sind. Aber die meisten Eltern spüren den rumorenden Emotionen nicht wirklich nach. Uns fällt nur auf, dass wir umso gereizter reagieren, je älter die Kinder werden. Diese wirken dann umso weniger liebenswert. Wir reden uns ein, wahrscheinlich wäre alles in Ordnung, verpulvern aber, um des häuslichen Friedens willen, viel Energie beim Meiden der emotionalen Tretminen.

Innerlich arbeitet also jeder von uns hart. Wir müssen mit den Verstimmungen unserer Kinder und auch mit unseren eigenen fertig werden. Wir wollen unserem Sohn helfen, wenn er von einem Freund schroff abgewiesen wird, müssen aber auch unsere eigenen Isolationsgefühle bewältigen. Wir wollen unseren Kindern beim Lernen zur Seite stehen, haben aber in Sachen Kindererziehung auch viel zu lernen. Wohin sollen wir uns also wenden? Was können wir tun, wenn wir zu erschöpft oder zu streitsüchtig sind, um für unsere Familie genießbar zu sein?

Es gibt einen Ausweg

Wir haben gute Neuigkeiten: Es gibt gute und einfache Möglichkeiten, mit den emotionalen Belastungen des Elterndaseins fertigzuwerden. Sie können mehr Heiterkeit in Ihre Familie bringen. Und freuen dürfen Sie sich darüber, dass Probleme aufgrund Ihres Handelns als Mutter oder Vater verschwinden. Dafür gibt es hilfreiches Handwerkszeug.

Wenn Sie unsere Zuhörstrategien anwenden, können Sie Ihre seelische Standfestigkeit auf neue Weise stärken und Ihr unterstützendes Netzwerk ausbauen. Anstatt viel Kraft zur Kontrolle des kindlichen Verhaltens aufzuwenden, konzentrieren Sie sich auf den Aufbau einer stabilen Verbindung zu Ihrem Kind, die Sie bei Verschleißerscheinungen sofort reparieren. Elterliche Führung wird Ihnen auch ohne Zuckerbrot und Peitsche gelingen. Dabei bringen Sie Ihr Kind durch sinnvolle Grenzen sogar noch näher an sich heran! Auch werden Sie bisher unbemerkte Aspekte seiner Intelligenz entdecken. Und abends werden Sie sich mit größerer Gewissheit schlafen legen, dass Sie die wichtigsten Bedürfnisse Ihres Kindes erfüllt haben.

Auf Ihrem Weg werden Sie dennoch einigen Hindernissen begegnen. Denn aufgrund all der Schwachstellen in unserer Gesellschaft bleibt keiner völlig von Problemen verschont. Aber mit einer klareren Perspektive überstehen Sie und Ihr Kind schwierige Zeiten, ohne dabei alle Kräfte einzubüßen.

Wir skizzieren das Grundgerüst für ein harmonisches Leben mit Kindern und fünf einfache Strategien des Zuhörens, mit deren Hilfe Sie Ihren Kindern und Ihrem eigenen besten Selbst näherkommen.

KAPITEL 2

Verbundenheit ist der Schlüssel

Ihr Kind hat einen einzigartigen und erstaunlichen Verstand. Damit er jedoch gut funktioniert und sich entwickelt, braucht Ihr Kind das Gefühl der engen Verbundenheit mit Ihnen ebenso dringend wie Nahrung, Schutz, Sauberkeit und Schlaf.

Fühlt sich Ihr Kind mit Ihnen verbunden, dann werden im Gehirn die zum Lernen, Erinnern und Denken benötigten Nervenbahnen ausgebildet. Ebenso wie der Körper Ihres Kindes Nahrung zum Wachsen braucht, benötigt sein Verstand, dass Sie Ihr Kind mit Anteilnahme und Unterstützung füttern. Jede positive Interaktion hilft ihm bei seiner Potenzialentfaltung nicht nur heute, sondern auch in den folgenden Jahrzehnten. Wenn Ihr Kind spürt, dass Sie ihm zur Seite stehen, kann es lernen, kooperieren und sich mit anderen verbinden.

Sich sicher verbunden zu fühlen, hilft Ihrem Kind also beim Aufbau seiner Intelligenz und dem Gebrauch der bereits vorhandenen Intelligenzfunktionen.


Hier nun geht es um die Strukturen des Gehirns und weshalb eine sichere Verbindung für das Wohlergehen Ihres Kindes lebenswichtig ist:

Der Hirnstamm befindet sich als ältester Teil des menschlichen Gehirns am oberen Ende der Wirbelsäule. Wie eine Art Wachposten und Betriebsleiter steuert er das körperliche Wohlbefinden Ihres Kindes. Zuständig für die Regulation von Reflexen, Herzschlag, Atmung und zahlreichen weiteren Körperfunktionen, reagiert der Hirnstamm auf jedes Anzeichen einer Bedrohung blitzschnell. Bei einem plötzlichen lauten Geräusch löst der Hirnstamm in Ihrem Kind zum Beispiel Erschrecken und Herzrasen aus. Zwar ist dieser Teil des Gehirns nicht an Denkprozessen beteiligt, aber dennoch hängt von seinen bedeutsamen Aufgaben das Überleben Ihres Kindes ab.

Das limbische System besteht aus mehreren komplexen Teilen, die das sozial-emotionale Zentrum des Gehirns bilden. Evolutionsgeschichtlich an zweiter Stelle, ist das limbische System für den Aufbau sozialer Beziehungen zuständig. Das limbische System Ihres Kindes sendet Signale aus, anhand derer Sie den Gefühlszustand Ihres Kindes von Augenblick zu Augenblick „deuten“ können. Außerdem überprüft es wie ein unsichtbarer Radarstrahl alle eingehenden Daten - Bilder, Töne, Geschmacks-, Berührungsempfindungen und mehr – auf Informationen zur Sicherheit Ihres Kindes. Gefragt wird sozusagen: „Bin ich erwünscht? Gehöre ich dazu? Kann sich hier jemand um mich kümmern?“

Zu den Besonderheiten des limbischen Systems gehört die Auswertung körpersprachlicher Signale. Augenkontakt, Gesichtsausdruck, Tonfall, Körperhaltung und Bewegung, all das liefert dem Kind Informationen über die Gemütslage anderer Menschen. Signalisieren Sie oder ein anderer fürsorglicher Erwachsener: „Ich bin hier. Ich mag dich. Ich bin für dich da“, dann kann die Psyche Ihres Kindes die angebotene Verbundenheit spüren. Das befriedigt sein angeborenes Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Schutz.


Kinder mussten dieses feine Gespür für den Gemütszustand der anderen entwickeln, weil ihr Leben davon abhing. Lange vor Beginn der Zivilisation überlebte ein Kind nur, wenn es spürte, welcher Erwachsene seine Bedürfnisse in einer unberechenbaren Umwelt erfüllen konnte. Bestimmt haben Sie die Vorliebe Ihres Kindes für gelassene und verbindende Erwachsene bemerkt. Wenn zum Beispiel Onkel Raymond zum Essen kommt und Ihr Kind in dröhnendem Tonfall mit Fragen überschüttet, wird es sich wahrscheinlich an Ihre Seite klammern. Obwohl Onkel Raymond es nicht böse meint, empfängt das limbische System Ihres Kindes nur die eine Kurzmeldung: „Achtung, dieser Erwachsene erkennt deine Signale nicht! Abstand halten!“

Wenn sich Ihr Kind sicher verbunden und beschützt fühlt, kann das limbische System eine sehr wichtige Aufgabe erfüllen: die Kommunikation zwischen allen anderen Gehirnbereichen koordinieren. Es öffnet den Zugang zum präfrontalen Kortex und dann arbeitet das Zentrum des logischen Denkens auf Hochtouren. Verbundenheit „knipst das Licht im Oberstübchen an“.

 

Der präfrontale Kortex macht ihr Kind einzigartig menschlich. Als Teil der gefalteten grauen Masse hinter der Stirn gehört er zum entwicklungsgeschichtlich jüngsten Bereich des menschlichen Gehirns. Der präfrontale Kortex ist deswegen bedeutsam, weil er aktiviert sein muss, damit Ihr Kind denken kann. Erst dann kann es logisch denken und hat die nötige Aufmerksamkeit zum Experimentieren und Lernen. Je nach Alter und Entwicklungsstand kann es seine Impulse mehr oder weniger regulieren. Es kann etwas planen und durchführen. Auch erinnert es sich daran, was Sie ihm vor wenigen Minuten wegen des schlafenden Babys gesagt haben, oder dass es heute mit den Hausaufgaben früh anfangen soll. Und hier entwickelt sich mit der Zeit auch das Urteilsvermögen des Kindes.


Wenn sich Ihr Kind verbunden fühlt, kann es denken

Wenn sich Ihr Kind verbunden fühlt, versteht es, dass die auskühlenden Plätzchen auf dem Küchentisch für den Besuch bei Tante Mae sind, und begnügt sich stattdessen mit Käsekräckern. In Verbindung mit Ihnen kann es friedlich abwarten, bis Sie zuerst das Baby eine Runde huckepack getragen haben. Wenn sich Ihr Kind verbunden fühlt, wird es bei seinen ersten Versuchen des Rollschuhfahrens über die Stolperer lachen und trotz der Herausforderung beharrlich bleiben. Wenn das Bedürfnis nach Verbundenheit befriedigt ist, dann lernt Ihr Kind.

Und während sein Gefühl der starken Verbundenheit zu Ihnen wächst, ist Ihre ständige Nähe irgendwann nicht mehr notwendig und Ihr Kind kann das Verbundenheitsgefühl mit ins Klassenzimmer nehmen, hin zu den spielenden Nachbarskindern oder ins Ferienlager, und wird dabei nicht aufhören, zu lernen und Spaß zu haben.

Unterbrochene Verbindung: der unsichtbare Ausschaltknopf

Hier geht es ja um Kinder, also kann nicht immer alles glattgehen! Die Verbindung zu Ihrem Kind wird oft unabsichtlich unterbrochen werden. Sobald es sich bedroht, oder frustriert fühlt oder von einer anderen Emotion überflutet wird, verliert es das Verbundenheitsgefühl. Und zack! Der präfrontale Kortex macht dicht. Ihr Kind kann dann wirklich nicht denken. Das geschieht blitzschnell und Sie haben es schon unzählige Male erlebt.

Sie erlauben vor dem Essen eine halbe Stunde Fernsehen, weil sich Ihr Kind während des Fütterns des Babys engelgleich verhielt. Aber nach der Fernsehsendung reagiert es störrisch. Es weigert sich, beim Tischdecken zu helfen, und bleibt kaum eine Minute still sitzen. Es macht ein großes Theater.

Sie verlassen das Zimmer, um zu kochen, nachdem die Kinder eine ganze Weile zufrieden in Ihrer Nähe gespielt haben. Wenige Minuten später haben sie miteinander Zoff.

Sie fahren mit Ihrem Kind kurz zum Supermarkt. Den ganzen Vormittag über war es zufrieden. Vor dem Einkauf fahnden Sie nach Ihren Schlüsseln, füttern die Katze, telefonieren und tanken noch schnell. In der Gemüseabteilung angekommen, nörgelt Ihr Kind weinerlich und besteht auf Gummibärchen, die Sie ihm sonst nie kaufen.

Was solche Situationen schwierig macht, hat mit dem Aufbau des Gehirns zu tun. Dieses ist nämlich zur beständigen Kommunikation mit anderen bestimmt und braucht zum Funktionieren eine kooperative und förderliche Umgebung. Wenn das Kind zum Beispiel allein vor dem Fernseher sitzt oder ein Elternteil das Zimmer verlässt, kann sein Gefühl, gesehen zu werden und erwünscht zu sein, empfindlich gestört werden. Und sogar ein zufriedenes Kind kann durch den langen Verbindungsabbruch auf dem Weg zum Supermarkt völlig aus dem Gleichgewicht geraten.


Ein sich verletzt fühlendes Kind kann nicht denken

Sobald die gefühlte Verbundenheit des Kindes zu Ihnen oder seiner Betreuungsperson unterbrochen wird, fühlt es sich sofort verunsichert. Das limbische System sendet ein Alarmsignal: Hier ist es gerade nicht sicher! Sofort schaltet der präfrontale Kortex ab – das Zentrum des logischen Denkens, Planens, der Impulskontrolle und Aufmerksamkeit.

Ein sich verunsichert oder verletzt fühlendes Kind, das nicht denken kann, zieht die Schwester vielleicht an den Haaren oder zerbricht bei Hausaufgabenbeginn seinen Bleistift aus Protest.

Hier sind einige einfache Signale, die Ihr Kind vielleicht sendet, wenn es sich verunsichert fühlt und nicht denken kann:

• Es kann Ihrem Blick nur sekundenlang standhalten.

• Es kooperiert nicht.

• Es wirkt teilnahmslos oder unglücklich.

• Sein Verhalten wirkt festgefahren. Es lutscht am Daumen, schnappt anderen die Sachen weg, kann trotz Müdigkeit nicht einschlafen, will Unerlaubtes haben, weist Hilfe ab, schlägt oder kränkt andere, zieht sich zurück und spürt ganz offensichtlich Ihre Liebe nicht.

Durch diese wichtigen Signale rufen unsere Kinder um Hilfe. Jetzt sind wir gefragt und müssen sie wieder auf den richtigen Kurs bringen, wo sie eigentlich auch selbst gern wären.

Ihr Kind will kein Theater machen

Wenn das Verhalten Ihres Kindes entgleist, dann ist es so, weil ihm etwas so schwer zu schaffen macht wie ein Beinbruch. Mit einem gebrochenen Bein kann Ihr Kind nicht laufen oder rennen, bevor der Bruch gerichtet wurde und abgeheilt ist. Ein Kind, dessen Gefühl der Verbundenheit zu Ihnen abgebrochen ist, verliert die Impulskontrolle und sein Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht. Logisches Denken ist nicht möglich. Ihr Kind will nicht absichtlich Theater machen. Seine Quengelei ist keine bewusste Manipulation. Lieber wäre es fröhlich und kooperativ, aber wenn es das Gefühl der Verbundenheit verliert, gerät sein ganzes System aus den Fugen.

Man könnte meinen, in Ihrem Kind gäbe es einen Ausschaltknopf. Ein denkendes Kind kann sich großzügig verhalten, doch wenn das Denken abgeschaltet ist, darf keiner seine Sachen anfassen. Mit der kleinen Schwester liebevoll umzugehen ist kein Problem, solange das Kind klar denken kann. Wenn nicht, wird seine Umarmung zu heftig oder sein Kuss wird zum Biss. Ein denkendes Kind kann ein wenig abwarten, bis es Ihre Aufmerksamkeit bekommt, wenn aber die Verbindung zu Ihnen unterbrochen ist, wird es sein Geschwisterchen sogar umrennen, um als Erster bei Ihnen zu sein. Wenn Kinder nicht denken können, versuchen sie verzweifelt, die Verbundenheit wiederherzustellen, und wir bekommen es an ihrem Verhalten zu spüren.

Ab und zu gelingt es einem Kind tatsächlich, seine Bedürfnisse noch in Worte zu fassen, bevor es das Gefühl der Verbundenheit verliert. Doch selbst das geschieht dann nicht gerade sehr höflich. Die Tochter einer Freundin war bei der Geburt ihrer Schwester vier Jahre alt. Mehrere Monate lang verhielt sie sich dem Neugeborenen gegenüber ausgesprochen liebevoll und aufmerksam. Doch schließlich wurde die gefühlte Verbundenheit zur Mutter aufgerieben. Da baute sie sich vor ihr auf und schrie: „Mami, leg das Scheiß-Baby weg und kümmere dich um mich!“ So viel Geistesgegenwart besaß das Mädchen, dass sie noch ein Signal senden konnte, bevor ihr Denken ganz aussetzte.


Ihr Kind weiss instinktiv, wie es sich von Verletzungen erholt

Das Leben birgt viele Anlässe, die im Kind das Gefühl der Verbundenheit unterbrechen, seine Gefühle verletzen, sein Denken anhalten und es aus dem Gleichgewicht werfen. Zum Glück wurde Ihr Kind mit einem robusten seelischen Reparaturmechanismus geboren. Die aufgewühlten Gefühle brauchen ein Ventil und das Kind muss unbedingt wieder Ihre Fürsorge spüren. Es gibt nur eine einzige Handlung, die ihm einerseits erlaubt, seine Gefühle auszudrücken, und gleichzeitig Ihre liebevolle Zuwendung übermittelt: das Zuhören. Ja, Zuhören kann tatsächlich die Verletzung heilen.

Halten Sie einfach inne, suchen Sie die Nähe zum Kind und unterbrechen Sie sanft das unerwünschte Verhalten. Machen Sie dabei nicht viel Worte: Ihr Kind kann Anweisungen ohnehin nicht folgen, wenn sein Denken nicht funktioniert! Greifen Sie sanft, aber bestimmt ein, damit es keinen Schaden mehr anrichten kann oder nicht mehr einfach vor den Hausaufgaben wegrennt. Dann legen Sie Ihrem Kind sanft die Hand auf den Rücken oder setzen sich zu ihm auf den Boden, falls es dort liegt und Tritte verteilt. Hören Sie allem zu, was es sagt und zeigt. Nehmen Sie die Bedeutung seiner Körpersprache auf. Ihr Kind braucht jemanden, der seine schwierigen Gefühle versteht. Während Sie zuhören, werden die Gefühle des Verletzt-Seins durch Weinen, Wutanfälle, Lachen oder dem Angst abbauendem Schwitzen und Zittern geheilt.