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Bedeutsame Verletzungen werden über Aufruhr wegen Kleinigkeiten geheilt

Sobald Sie sich daran gewöhnt haben, dass unsere Kinder ihre tiefsten Gefühle an winzige Probleme heften, werden Sie mit Bleib-Ganz-Ohr entspannter umgehen. Bemerkenswerte Verhaltensänderungen können sichtbar werden, nachdem Ihr Kind lange und heftig über einen zerbrochenen Lippenstift geweint hat, oder darüber, dass der Bruder den begehrten blauen Kindersitz ergattert hat.

Ihr Kind wird von winzigen Unstimmigkeiten getriggert, weil es von seinen eigentlichen verletzten Gefühlen, leicht derart betäubt wird, dass es diese nur indirekt abladen kann. Eine Vierjährige reagiert vielleicht während der Dienstreise ihres Vaters gereizt. Ihr Verhalten entgleist, doch auf die Frage, „Vermisst du den Papa, Schätzchen?“, folgen ausdrucksloser Blick und die Antwort „Nein“. In Wahrheit fühlt sie sich jedoch todunglücklich und davon so überwältigt, dass sie seine Abwesenheit nicht beweinen kann. Sie fühlt sich betäubt. Ihr Schmerz ist zu groß, als dass sie ihn offen angehen kann.

Dann kommt aber eine Freundin zum Spielen und probiert ohne zu fragen ihr blaues Tutu an. Das Mädchen bricht in Tränen aus. Diese leise Andeutung eines Verlusts – was, wenn die Freundin das Tutu behält? – löst die eingefrorenen Gefühle aus. Sie brechen nun an das blaue Tutu geheftet hervor! Je stärker der Schmerz des Kindes ist, umso geringer kann der Anlass fürs Ausweinen sein. Das Mädchen kann wegen des möglichen Verlusts des Tutu ausflippen. Aber sie erträgt es nicht, sich auf Papas Abwesenheit zu konzentrieren.

Man hat uns allen beigebracht, dass gute Eltern einschreiten, indem sie beispielsweise aushandeln, dass jedes der Mädchen das Tutu abwechselnd fünf Minuten tragen darf. Stattdessen ermöglicht Ihnen Bleib-Ganz-Ohr eine interessante Alternative: Die Eltern können den Heilungsinstinkt des Kindes unterstützen. Beim Näherkommen kann die Mutter sanft sagen: „Ja, sie hat dein Tutu angezogen. Bestimmt gibt sie es dir zurück, wenn sie fertig ist.“ Daraufhin kann das Kind seine große Traurigkeit fließen lassen. Über den Papa muss dabei kein einziges Wort fallen. Wir können darauf vertrauen, dass unsere Kinder ihre Gefühle an etwas für sie Passendes knüpfen werden. Das heftige Weinen über das Tutu deutet darauf hin, dass es dem Mädchen hier als perfektes und dringend benötigtes emotionales Ventil zur Freisetzung und Heilung der Gefühle dient.

Unterstützen Sie Ihr Kind sanft

Den meisten von uns begegnete man als Kind bei einem Wutanfall nicht wohlwollend. Somit folgen hier noch einige Details zum Ausprobieren, falls Sie dem Mitgefühl für ihr aufgebrachtes Kind erst langsam auf die Beine helfen wollen.

Gehen Sie schonend auf die schmerzhaften Einzelheiten ein. Dies ist das Gegenteil des Versuchs, schnell alles in Ordnung zu bringen, und wirkt sich auf Ihr Kind zutiefst heilsam aus. Wenn Sie sanft, ohne einen Anflug Besorgnis, auf das Schmerzliche hinweisen, wird Ihr Kind eine neue Welle heftiger Gefühle freilassen: „Du wolltest ja wirklich die Teetasse, die sie genommen hat. Hm, ich sehe, sie hat sie immer noch.“ „Bald muss ich gehen. Wenn ich weg bin, habe ich dich immer noch lieb.“ „Das ist wirklich schwer.“ „Komm, wir schauen uns jetzt dein Knie an.“ „Jetzt sagen wir Tschüss.“ „Bruno hat das blaue Fahrrad.“ „Der Orangensaft ist alle.“ Und wenn die Kinder älter sind: „Die Party bedeutet dir wirklich sehr viel. Ich wünschte, ich könnte dir erlauben hinzugehen.“ „Er hat dich noch nicht mal angerufen.“ „Du wolltest das so sehr. Dein Plan war gut.“ Oft übermittelt ein einfacher Satz wie „Ich weiß“ oder „Ich bin ganz nah bei dir“ Ihre Liebe am besten.

Verweisen Sie darauf, dass Ihr Kind zum gegenwärtigen Zeitpunkt sicher ist. „Ja, sie hat das Buch genommen, das du wolltest. Du kannst mit ihr reden, sobald dir danach ist.“ „Dein Körper weiß schon, wie er sich heilt.“ „Du bekommst ein andermal einen Keks.“ „Ich kann nicht zulassen, dass Du einfach so zugreifst. Bleib erst mal auf meinem Schoß.“ „Sie wollte dir nicht weh tun.“ „Ja, du willst das wirklich. Sobald er fertig ist, bist du dran.“ Und in den Teenagerjahren oder darüber hinaus zeigen Sie Ihren Kindern einfach, dass Sie an sie glauben: „Du wirst das schon herausbekommen.“ „Du bist doch eine gute Freundin, egal, was Sie heute gesagt haben.“ „Ich glaube, du kannst mit ihr darüber reden. Du wirst herausfinden, wie.“

Wenn Ihr Kind gegen etwas Widerstand leistet, erlauben Sie ihm, sich erst ganz auszuweinen, bevor es nachgibt. Kinder nehmen oft Tätigkeiten wie das Aufräumen, sich Anziehen, eine Wanderung, Hausaufgaben, oder einen Aufsatz schreiben als Vorwand, um tiefsitzende Verletzung, Verwirrung oder Hilflosigkeit auszudrücken. Wenn also nicht gerade das Haus in Flammen steht, dann lassen Sie Ihrem Kind die Gelegenheit, sich auszuweinen, während es Ihnen klarmacht, dass es niemals tun wird, was gerade von ihm erwartet wird. Geben Sie ihm so viel Zeit, wie es dazu braucht. Erinnern Sie es ab und zu besonnen an den nächsten Schritt, und fragen Sie sanft nach, ob es dazu bereit ist: „Gehen wir ein Stück näher zum Auto? Jetzt ist Zeit zum Losfahren.“, „Der Tisch ist abgeräumt. Zeit für die Hausaufgaben!“, „Serena hatte den Fanghandschuh. Bist du bereit, ihn zurückzugeben?“. Ihr Kind darf sich angesichts des bloßen Gedankens an den nächsten Schritt ausweinen. Zeigen Sie ihm Ihr Vertrauen in seine Psyche. Bekommt es die Zeit, die es braucht, dann wird Ihr Kind am Ende zur Kooperation bereit sein. Geben Sie nicht nach. Geben Sie nicht auf. Geben Sie dem Kind Ihre Gegenwart. Es wird sich mit Ihnen verbinden und seine Sicht der Dinge wird sich verbessern.

Beginnen Sie an Ort und Stelle des Wutanfalls oder des Tränenausbruchs mit Bleib-Ganz-Ohr. Wenn Sie ihr Kind sofort an einen anderen Ort tragen, wird es abgelenkt. Wenn möglich, hören Sie ihm da, wo es angefangen hat, mindestens fünf Minuten zu, bevor Sie mit ihm weggehen, um andere nicht weiter zu stören.

Umhüllen Sie Ihr Kind mit ruhiger Zuversicht. Machen Sie vom Herzen kommende, sanfte und sachliche Aussagen. Ihr Kind fühlt sich verletzlich und aufgewühlt, aber es braucht kein Mitleid. Schließlich ist es auf dem Weg der Besserung! Sagen Sie zum Beispiel zu Ihrem untröstlichen Kind: „Er wird in einer Weile damit fertig sein.“, nachdem ihm ein Freund den Ball weggeschnappt hat. Sagen Sie das sanft und ebenso gelassen zuversichtlich, als sagten Sie: „Der Himmel ist blau.“ Damit helfen Sie Ihrem Kind, sich auszuweinen und bald wieder zu erholen. Seien Sie Ihrem Kind ein stabiler Anker, indem Sie sich darauf konzentrieren, dass es in diesem hochemotionalen Augenblick Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit bekommt. Somit hat es alles, was es wirklich braucht.

Es folgen Reaktionsweisen mancher Eltern auf weinende Kinder, die erfahrungsgemäß nicht wirklich hilfreich sind.

Benennen Sie nicht die Gefühle Ihres Kindes. Erwiesenermaßen wird das Kind durch die Nennung des Gefühls beruhigt. Genauer gesagt, bringt es den emotionalen Reinigungsprozess zum Stillstand. Da meist das Weinen selbst für das Leid des Kindes gehalten wird, glauben Erwachsene, sie hätten ihm geholfen, wenn es damit aufhört. Aber das Weinen ist nicht der Schmerz selbst. Der Schmerz blockierte das Denken des Kindes bereits, bevor es überhaupt mit dem Weinen anfing. Oder es handelt sich um eine alte Verletzung, die noch immer nicht geheilt ist. Vielleicht weint das Kind auch, weil sein Denken zum hundertsten Mal durch etwas Winziges, das der Verletzung sehr ähnelt, blockiert wurde.

Das Weinen selbst ist der Heilungsprozess. Wird das Kind zum Beispiel davon abgelenkt mit: „Ich sehe, dass du ärgerlich bist. Du wolltest nicht, dass Opa beim Damespiel gewinnt.“, dann ist eine Gelegenheit verpasst. Der präfrontale Kortex des Kindes wird in diesem Moment dazu aufgerufen, die Worte der Erwachsenen zu verarbeiten, und somit kann das Kind nicht länger das Gefühl des Schmerzes abladen.

Es wird aber am nächsten Tag zurückkehren und Verhaltensprobleme verursachen. Also benennen Sie das Gefühl nicht. Es gehört zu Ihrem Kind. Seine Aufgabe ist es, dem Gefühl einen Namen zu geben, wenn es das möchte. Ihre Aufgabe ist allein das Zuhören!

Fragen Sie Ihr Kind nicht, was passiert ist, es sei denn, seine Gesundheit ist gefährdet. Zeigen Sie Interesse, achten Sie aber darauf, dass Sie, außer in Ausnahmesituationen, nicht wissen müssen, was passiert ist. Sie werden gebraucht, um zuzuhören und die Auswirkung des Geschehens zu verstehen. Die Einzelheiten sind eben genau das – Einzelheiten. Wenn nötig, wird Ihr Kind später darüber sprechen.

Hier ein Beispiel:


Eines Tages, kurz nach dem Frühstück, fing meine zweijährige Tochter anscheinend grundlos zu weinen an. Sie weinte ununterbrochen und wanderte dabei von Zimmer zu Zimmer. Ich folgte ihr, sagte ein paar Worte und versuchte einfach, bei ihr zu bleiben. Ab und zu schaute sie mich an, die meiste Zeit aber machte sie ein trauriges Gesicht und vergoss dicke Tränen. Sie wirkte weder krank, noch hatte sie körperliche Schmerzen, also blieb ich fast zwei Stunden bei ihr, bis sie sich schließlich besser fühlte. Anschließend verlief unser Tag gut.

Am nächsten Tag geschah das Gleiche. Sie weinte wieder zwei Stunden und strich wortlos durchs Haus. Aber der restliche Tag verlief prima. Am dritten Tag weinte sie morgens noch einmal sehr lange. Danach kuschelte sie sich aber in meinen Schoß und fragte, „Wieso geht Papa arbeiten?“. Jetzt ergab alles endlich Sinn. Der Papa ging jeden Tag nach dem Frühstück aus dem Haus und sie verstand das einfach nicht. Nach drei Tagen des Weinens war sie in der Lage, mich danach zu fragen. Ab da ging es ihr morgens gut. Sie hatte etwas für sich verarbeitet.

 

Nehmen Sie den Zorn Ihres Kindes nicht persönlich. Beim Weinen streifen die Kinder unangenehme Gedanken und Gefühle ab. Also werden wir unser Kind früher oder später etwas Entmutigendes sagen hören wie: „Du hast mich nicht lieb!“, „Ich will eine andere Mami!“, „Ich kann dich nicht leiden, Papa.“, „Mein Bruder stinkt. Ich mach ihn tot!“.

Dann warten Sie ab! Ihr Kind tut nur, was es tun muss, damit es schädliche Gefühle loswird. Wenn Sie Ihre unterstützende Haltung bewahren (natürlich müssen Sie ihm nicht zustimmen), werden diese schrecklichen Gedanken an Schwung verlieren und die Bitterkeit Ihres Kindes schwindet. Versuchen Sie, Ihrem Kind zu sagen: „Egal, wie du dich fühlst, ich liebe dich immer.“ oder „Du musst mich jetzt nicht lieb haben, ich verstehe das.“ oder „Ich lass nicht zu, dass du Daryl wehtust, Schätzchen.“. Ihr Kind hat nicht sein abschließendes Urteil über Sie oder sonst jemanden gefällt. Sobald es diese giftigen Gefühle losgeworden ist, wird es wieder wahrnehmen, wie gut Sie sind.

Tadeln Sie Ihr Kind nicht. Viele wurden in solch einer Vorwurfs-Kultur erzogen, dass uns das Tadeln gar nicht auffällt. Aber Gedanken dieser Art behalten wir besser für uns: „Das ist doch keine Grund zum Heulen!“, „Willst du denn kein großer Junge sein?“, „Brave Kinder sagen so etwas nicht.“, „Du solltest dich lieber beherrschen, kleines Fräulein!“. Natürlich dürfen wir Eltern so denken und fühlen. Tatsächlich kann man viele Gefühle, die unsere Kinder in uns auslösen, in höflicher Gesellschaft gar nicht laut äußern! Aber wir untergraben durch scharfe Kritik das Wohlergehen unserer Kinder. Bei unserem einfühlsamen Zuhörer sind wir dagegen am richtigen Ort, um uns abzureagieren, weit weg von den leicht empfänglichen Ohren unserer Kinder. Diese Zuhörstrategie des gegenseitigen einfühlsamen Zuhörens werden wir im 7. Kapitel darstellen.

Diskutieren Sie nicht das Weinen oder den Wutanfall mit Ihrem Kind im Nachhinein. Es ist langwierig und führt zu nichts. Da gibt es nichts herauszufinden. Sobald ein Kind hinderliche Gefühle abgeladen hat, ist es bereit, sich an seinem neu befreiten Geist zu erfreuen. Wenn Sie Ihr Kind nach jedem Gefühlsausbruch ausfragen, wird es Ihnen immer weniger anvertrauen. Hören Sie einfach nur gut zu. Und dann trauen Sie Ihrem Kind zu, dass es beim Spielen, Schlafen oder Essen die Dinge für sich klärt. Es wird wissen, dass es seinem Bruder nichts wegnehmen durfte. Es ist keine Belehrung nötig.

Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, die emotionale Arbeit Ihres Kindes mit dem Verdauungssystem zu vergleichen. Isst es beispielsweise eine Banane, dann werden dieser von seinem Verdauungssystem die Nährstoffe entzogen und kein Gedanke wird daran verschwendet! Ihr Kind ist gestärkt, obwohl die Banane nicht restlos verdaut werden kann. Der Körper nimmt sich, was er braucht, und hat für den Rest ein ausgeklügeltes Entsorgungssystem. Der unverdauliche Teil wird ausgeschieden. Die ersten Jahre erfolgt dieser Prozess sehr häufig und ist lästig, für uns Eltern nicht gerade eine angenehme Beschäftigung. Aber wir machen für diese Notwendigkeit alle möglichen Zugeständnisse.

Nun betrachten Sie die täglichen Erlebnisse Ihres Kindes. Sie bieten ihm die besten Lebensumstände, die Sie möglich machen können. Ihr Kind lernt und gedeiht. Aber jeden Tag gibt es Momente, in denen sein empfindliches System angegriffen wird. Es wird von der Katze gekratzt. Mama ist schwanger, müde und genervt. Es wird vom Nachbarkind beschimpft. Abends ist ihm sein Zimmer unheimlich. All diese Erlebnisse sind emotional aufgeladen. Um weiterhin klar denken zu können, diese Erlebnisse zu verarbeiten und daraus zu lernen, muss Ihr Kind diese Ladung entschärfen. Und es hat eine Methode dafür! Sie spielen nach dem Essen mit ihm Fangen und es schüttet sich vor Lachen aus, lässt dabei Spannung ab und nährt seine Gewissheit, dass Sie es wertschätzen. Als Nächstes verschwindet ein winziger Puppenschuh im Abfluss der Badewanne und Ihr Kind nimmt das zum Anlass, sich ordentlich auszuweinen. Voilà! Ihr Kind hat in seinem Inneren gut aufgeräumt und ist für einen guten neuen Tag gerüstet.

Wenn Ihr Kind pinkelt oder Stuhlgang hat, macht Ihnen das in der Regel keine Sorgen. Und gewiss fühlen Sie sich nicht dazu gezwungen, diese Ausscheidungen genauer zu untersuchen und zu diskutieren. Sie werden in die Toilette gespült und fertig. Bestimmt werden Sie Ihrem Kind das Freisetzen emotionaler Spannung gern auch so unkompliziert ermöglichen wollen. Es lacht, hat einen Wutanfall, weint oder zittert und windet sich in Angst. Sie geben ihm dabei den nötigen Halt. In seinem eigenen Tempo wird ihr Kind fertig und dann ist der Spaß dran!

Schließlich noch ein wichtiger Punkt:

Drängen Sie weder Ihr Kind noch sonst jemanden zum Weinen. Sobald Sie merken, wie gut es Ihrem Kind und seiner Denkfähigkeit tut, wenn es sich ausweint, wollen Sie jeden missionieren, und zwar besonders Ihr Kind! Allerdings ist das eine schlechte Idee. Aufforderungen wie diese: „Lass diese Gefühle raus“, „Na komm, mach dir mal richtig Luft, das hilft.“, „Bestimmt tut es dir gut, wenn du dich richtig ausweinst – das war doch schwer für dich.“, machen Ihr Kind dem emotionalen Reinigungsprozess gegenüber befangen. Sein Gefühlsleben wird sozusagen unter dem Vergrößerungsglas betrachtet. Und zwar unter Ihrem! Der emotionale Reinigungsprozess ist Sache Ihres Kindes. Sie können diesen weder befehlen noch steuern. Am besten helfen Sie Ihrem Kind, indem Sie Bedingungen schaffen, unter denen es wirklich Ihre Fürsorge spürt. Genau dafür sorgen die Zuhörstrategien – mit deren Hilfe übermitteln Sie Ihre liebevolle Zuwendung. Verbinden Sie sich mit Ihrem Kind über Wunschzeit und Ganz-Ohr-Spiel, beschrieben in Kapitel 6. Lassen Sie sich noch mehr Vergnügliches einfallen, wenn Sie Zeit haben. Kuscheln. Spielen. Umhertollen. Und was vielleicht am wichtigsten ist, lassen Sie selbst bei einem guten Zuhörer regelmäßig Dampf vom stressigen Alltag ab. Konzentrieren Sie sich auf liebevolle Zuwendung und überlassen Sie Ihrem Kind die Verantwortung für alles Weinen.

Achten Sie nach einer gelungenen Runde Bleib-Ganz-Ohr bei Ihrem frisch erleichterten Kind auf neue Erkenntnisse, Herzlichkeit und Kreativität.

Bleib-Ganz-Ohr als Heilmittel bei Kummer

Unsere vorstehenden Hinweise und Ideen treffen auch auf ein Kind zu, das sich von Kummer befreit. Dabei ist noch anzumerken, dass selbst viel geliebte Kinder in guten Lebensverhältnissen eine ganze Menge davon abzuladen haben. Das Leben ist so neu und es gibt so vieles zu verarbeiten. Den Schmerz über kleine unvollkommene Augenblicke auszuweinen ist in der Kindheit eine wichtige Aufgabe. Jedes Mal, wenn Ihr Kind einen Gefühlsausbruch vom Stapel lässt, hat es dafür gute Gründe. Es will klar denken, und Weinen wird ihm dabei helfen.

Es kann zum Beispiel so laufen:


Meine siebenjährige Tochter und mein fünfjähriger Sohn haben vor Kurzem die Schule gewechselt. Eines Tages, in der zweiten Schulwoche, eilte meine Tochter zusammen mit einer neuen Freundin aus dem Klassenzimmer und wollte das Mädchen gleich zum Spielen mit nach Hause nehmen. Gerne sagte ich zu und wir machten uns auf den gemeinsamen Heimweg. Mein Sohn fand das aber nicht gerecht und klagte: „Ich habe keinen Freund zum Mitnehmen, ich will aber, und geh jetzt nicht ohne Freund mit.“ Ich blieb ganz Ohr, und er weinte heftig, wiederholte, dass er auch einen Freund wollte, aber keinen hatte. Ich hockte mich auf Augenhöhe zu ihm, ermöglichte ihm Blickkontakt und blieb nah bei ihm. Er wandte sich ab und weinte weiter, mit Blick auf eine Mauer. Ich sagte ihm, dass es mir leid tat, wie schwer es gerade für ihn war und dass ich wüsste, wie sehr er sich einen Freund wünschte. Er war mit einem Jungen aus seiner alten Schule besonders befreundet, und ich hatte den starken Eindruck, dass er deswegen trauerte. Ich spürte großes Mitgefühl, und so fiel es mir leicht, ganz Ohr zu bleiben und seine Tränen zuzulassen.

Wenige Minuten später wandte er sich mir zu, ich umarmte ihn fest und dann schauten wir uns an. Er weinte weiter, sagte, er wolle auch einen Freund. Ich hörte weiter zu. Nach zehn bis fünfzehn Minuten war er soweit, dass wir nach Hause laufen konnten. Dort wirkte er vergnügt und spielte zufrieden nebenan, während ich in der Küche Essen machte und die Mädchen eine Etage über uns spielten.

Am nächsten Morgen fragte er: „Ist heute ein Schultag oder Wochenende?“ Als ich ihm bestätigte, es sei ein Schultag, jubelte er, was mich völlig überraschte. Als ich ihn an diesem Nachmittag von der Schule abholte, hatte er einen neuen Freund dabei, den er zum Spielen nach Hause einlud! Was für ein wunderbares Ergebnis, das mich mit Dankbarkeit für die Praxis mit Bleib-Ganz-Ohr erfüllte.


Mit Bleib-Ganz-Ohr den Frust Ihres Kindes abbauen

Wutanfälle bieten keinen schönen Anblick, aber Sie werden sie schätzen lernen, sobald Sie erlebt haben, wie ein Trotzanfall die Fähigkeit Ihres Kindes, zu denken und zu lernen, ankurbeln kann. Zuerst ist es vielleicht schwierig, dabei ganz Ohr zu bleiben. Aber sobald es Ihnen gelingt, werden Sie bestimmt von der positiven Kraft eines Trotzanfalls beeindruckt sein!

Es ist wichtig zu erkennen, was nicht zu einem Trotzanfall gehört. In einem echten Trotzanfall will ein Kind niemanden verletzen. Er ist eher mit einer explodierenden Knallfroschkette vergleichbar als mit einem verletzenden Geschoss.

Trotzanfälle setzen Frustration frei. Sie treten plötzlich auf. Ein frustriertes Kind ist laut, ihm wird heiß und sein Bewegungsdrang ist enorm. Es will diese hitzige Energie jetzt loswerden! Frustration entsteht, weil Ihr Kind eifrig lernt und seine Wunschvorstellung manchmal seine tatsächlichen Fähigkeiten überholt. Es möchte schon laufen, noch lange bevor es überhaupt den ersten Schritt getan hat, und es möchte sprechen, noch bevor es sein erstes Wort gesagt hat. Was es sich in den Kopf gesetzt hat, muss es über Tage, Wochen oder vielleicht sogar Monate durch Versuch und Irrtum lernen. Und weil es dabei so oft probieren und scheitern muss, fährt es vor lauter Frust am liebsten aus der Haut. Es kann nicht mehr denken. Verbieten Sie dem Kind, wie oftmals üblich, einen Trotzanfall, dann wird es sein Lernprojekt auf der Stelle aufgeben müssen, denn jedes Mal, wenn es einen neuen Versuch wagt, drängt sich ihm wieder der Frust auf und blockiert ihn.

Doch ein kräftiger Trotzanfall löst das Problem. Sobald der Frust zuschlägt, hüpft das Kind zum Beispiel auf und ab, haut gegen Türen und Schränke oder wirft sich auf den Boden und krümmt sich dort. Vielleicht gibt es Tränen und Schweiß. Vielleicht wird Ihr Kind zehn bis fünfzehn Minuten so weiter machen – viel länger dauert ein Trotzanfall normalerweise nicht. Am Ende wird Ihr Kind sich entspannen. Und wenn es danach zu seiner Aufgabe zurückkehrt, wird es einen kleinen Fortschritt erreichen. Einige Aufgaben werden eine ganze Reihe Trotzanfälle auslösen, denn Ihr Kind erwartet viel von sich, aber seine Fertigkeiten entwickeln sich erst allmählich. Wie viele Trotzanfälle es auch braucht, Bleib-Ganz-Ohr ist für das Lernen Ihres Kindes die beste Unterstützungsstrategie.

Meistens ist es besser, Ihr Kind bei einem Trotzanfall nicht in die Arme zu nehmen. Es muss sich bewegen können! Also kommen Sie näher, bieten freundlichen Augenkontakt an und heben es nur dann hoch, wenn seine Sicherheit gefährdet ist oder Sie es lieber an einen abgeschiedenen Ort bringen wollen. Ihr Kind braucht jetzt kaum beruhigende Worte. Es weiß, was es tun muss. Ihr kontinuierliches, tröstliches Zuhören wird ihm helfen, aus dem Anfall wiederhergestellt und aufgeweckt hervorzugehen.

Kinder neigen oft kurz vor Entwicklungsschüben zu Trotzanfällen. Typische Zeiten für deren heilende Wirkung sind kurz bevor ein Kind mit dem Krabbeln und Laufen beginnt, kurz bevor es zu sprechen anfängt oder eine neue Fertigkeit lernt wie das Schuhe-Binden, das Radfahren, das Lesen und kurz vor oder während der ersten Monate in der Tagesstätte oder Schule. Trotzanfälle bewahren die Intelligenz Ihres Kindes. Sie bringen stockende Lernprozesse wieder zum Laufen.

 

Diese Mutter erzählt, wie Ihre Tochter mit Hilfe eines Trotzanfalls Entwicklungsfortschritte machte:


An einem heißen Sommernachmittag war ich mit meinen sechsjährigen Zwillingstöchtern zu Hause und wir suchten eine Beschäftigung. Ich dachte an Papierbasteleien und forschte nach einer Anleitung für Ketten aus Papierfiguren und Schneeflocken. Warum gerade Schneeflocken? Alles, was bei über 42°C Außentemperatur an Kühle erinnert, tut gut.

Ich skizzierte auf dem Papier die Umrisse von Buben oder Mädchen und meine Töchter schnitten sie aus. Das war zunächst ein ganz netter Zeitvertreib, aber sehr bald reagierte eine meiner Töchter sehr frustriert. Das geschieht jedes Mal, wenn sie etwas nicht so fix lernt, wie sie es gern möchte. Sie gibt dann oft gleich ganz auf und bezeichnet sich als Dummkopf. Mir tut es weh zuzuschauen, wenn dieses aufgeweckte Kind das Handtuch wirft. Ich hatte schon im Gespräch mit einem einfühlsamen Zuhörer meine eigenen Gefühle zu diesem Thema bearbeitet und allmählich zahlte sich das aus.

Das Ausschneiden der Papierfiguren war schwierig, weil wir durch acht Papierlagen schneiden mussten. Meine Tochter bestand darauf, dies alleine zu tun, was ihr mit der Kinderschere und den kleinen Händen nicht gelang. Ihr Frust war so groß, dass sie die Bastelei mit den Worten, „Ich hör auf!“, auf den Tisch warf.

Ich erkannte ihr übliches Verhaltensmuster, und statt sie zu trösten, damit es ihr besser ging, oder die Aufgabe für sie zu erledigen, wartete ich ruhig ab. Sie ließ sich auf den Boden fallen und bekam dort einen Trotzanfall. Schreiend und weinend zeigte sie mir ihre Hilflosigkeit. Zehn bis fünfzehn Minuten blieb ich ganz Ohr für sie.

So rasch das Ganze angefangen hatte, war es wieder vorüber. Ich beobachtete, wie sie sich beruhigte, und obwohl ich davon überzeugt war, dass es ihr nun besser ging, glaubte ich nicht, dass sie die Bastelei fortsetzen würde.

Aber ich irrte mich. Sie setzte sich wieder an den Tisch, bat um die Schere und setzte ihr Werk fort. Sie stellte nicht nur diesen Satz Papierfiguren fertig, sondern schnitt noch eine weitere Stunde lang Figuren aus. Am Schluss hatte sie ein Mädchen, einen Buben, Mama, Papa und noch zwei weitere Figurenketten ausgeschnitten. Ich war überrascht und erleichtert zugleich!

Sie war nun richtig stolz auf sich und ihre Fingerfertigkeit. Und ich lernte etwas Wichtiges. Die Strategien funktionierten tatsächlich wie versprochen. Ich fühlte mich befähigt, ihr zu helfen. Endlich wusste ich, wie ich sie erreichen konnte, wenn sie dicht machte: einfach zuhören.


Ihrem Kind zu erlauben, ein heftiges Gefühl von Schmerz herauszuschmettern wie diese Mutter, ist eine Möglichkeit, wie Sie durch Bleib-Ganz-Ohr Ihre Geduld schonen können. Dann versuchen Sie sich nicht länger an der nahezu unlösbaren Aufgabe, ein frustriertes oder unglückliches Kind zufrieden zu stellen. Stattdessen sind Sie aufmerksam und unterstützen Ihr Kind beim Abladen seines Ärgers und der Klärung seines Denkens. So gehen Sie sorgsam und wirkungsvoll mit Ihrer Energie um und wecken die Selbstheilungskräfte Ihres Kindes.

Hoffentlich erleichtert es Sie, zu erfahren, dass ein Trotzanfall eigentlich eine kluge Idee Ihres Kindes ist. Es will lernen und weiß genau, wie es sich selbst helfen kann, wenn Hoffnung und Geduld ihren Tiefpunkt erreicht haben.

Bleib-Ganz-Ohr zur Heilung der Angst Ihres Kindes

Wenn Ihr Kind schreit, zittert und schwitzt, Gegenstände zerschmettert oder in sich den unwiderstehlichen Drang verspürt, zu schlagen, zu kratzen und andere zu verletzen, dann ist es dazu bereit, innere Ängste zu heilen. Angst ist eine unnachgiebige, Ihr Kind bis ins Mark erschütternde Emotion. Sobald Angst ausgelöst wird, fühlt es sich in seiner ganzen Existenz bedroht und entweder flieht es oder greift jeden an, der sich ihm zu nähern wagt. Obwohl der Umgang damit heikel ist, gehört auch das Ablassen von Angst zum emotionalen Heilungsprozess. Angst wird über Schwitzen und Körperwärme freigesetzt (oder im Falle blanken Entsetzens über feuchtkalte Haut), über Zittern, lautes Schreien, sich winden, um sich schlagen, Panik oder Gezappel.

Arbeitet sich ein Kind durch Angst hindurch, wird es meistens die Augen zusammenkneifen und laut schreien, aber ohne viele Tränen. Wenn Kinder um ihr Leben fürchten, ist die Angst viel zu groß, um Kummer zuzulassen. Die Aufmerksamkeit richtet sich aufs Überleben. Aber wenn Sie Ihrem Kind bei diesem tief gehenden emotionalen Prozess beigestanden haben, wird schließlich das Angstgefühl vergehen, Ihr Kind lehnt sich am Ende vielleicht sogar ganz entspannt an Sie, wird schließlich gewahr, dass Sie es die ganze Zeit über beschützt haben. Es wird erleichtert schluchzen, wenn es endlich Ihre Fürsorge in sich aufnimmt. Dann wird es vielleicht einschlafen oder wieder lebhafter werden, sich umschauen, einen Grund zum Lachen finden und munter und hoffnungsfroh in seinen Tag gehen.

Sie dagegen werden sich wie durch die Mangel gedreht fühlen. Wenn sich ein Kind zutiefst bedroht erlebt, löst das in den Eltern die höchste Alarmstufe aus. Man braucht Mut, um daran festzuhalten, dass die Gefühle Ihres Kindes Überbleibsel längst vergangener Schwierigkeiten sind. Sie brauchen selbst regelmäßig Termine mit einem einfühlsamen Zuhörer, wenn Sie ein Kind haben, dass Ihnen Hilferufe sendet, weil es unbedingt Unterstützung beim Loswerden seiner Angst benötigt. Bitte lesen Sie die Abschnitte Was Sie wissen müssen in Kapitel 11, Ängste auflösen, und Kapitel 12, Aggressionen überwinden, für eine Zusammenfassung von Elternerfahrungen mit den Ängsten ihrer Kinder und wie sie ihnen dabei helfen, sich wieder davon zu erholen.


Geduldig und liebevoll angewandt, wird Bleib-Ganz-Ohr helfen, die Basis für ein angenehmes Familienklima zu legen. Sie werden die starke Heilwirkung Ihrer zuhörenden Fürsorge erleben. Dabei ist es wichtig, den Einsatz von Bleib-Ganz-Ohr mit den anderen Zuhörstrategien auszugleichen, damit Grenzen, Lachen und die Zeit im Einzelkontakt ebenfalls ihren Platz im Familienalltag einnehmen. Sie werden merken, dass Ihr vorgelebtes Beispiel des Ganz-Ohr-Bleibens allmählich dazu führt, dass auch Ihr Kind anderen respektvoll und herzlich begegnet. Die heilende Wirkung dieser Zuhörstrategie wird Sie zum Staunen bringen.

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