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Das letzte Märchen

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Märgi loetuks
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Die schwarze Gondel

Wohl sahen die Männer von Marilkaporta den schwarzen Kranz von Lava, der auf dem Berge lag, wohl rieben die Frauen den Aschenstaub von ihren Fenstern, wohl wußten alle, daß Tod und Verderben gedroht hatten, und doch bewegte sie das eigene Schicksal weniger als das Los des Vaterlandes.

Zu mächtig war das Volksgefühl gehemmt worden, zuerst durch die Worte des Königs, dann durch die Tat Goldinas.

Nun war Ruhe – aber Ruhe ohne Frieden, jene Stille, die nur dazu dient, ungestört zu fragen und zu grübeln, jene brütende, angstvolle Stille vor Sturm und Tat.

Das furchtbare Geheimnis des Königsmordes lag über dem Volk, auch über uns. Eine Sühnehand mußte kommen, die Last von den Seelen zu nehmen, die das Gerechtigkeitsgefühl niederdrückte, eine Hand, die dem brennenden Rachedurst einen labenden Blutstrank reichte.

Daß wußten wir alle.

Auch drüben im Nachbarlande hatte der König gesprochen. Auch er hatte die verleumderische Anklage der »Posaune« zu entkräften versucht. Aber er war ein schwacher Mann. Es war ihm nicht gelungen, das gesunde Gefühl der Scham über die Lüge in seinem Volke wachzurufen.

Mürrisch waren die Leute heimgegangen, ohne Reue. Und als bekannt wurde, was dem Erbprinzen geschehen, wie er des Königsmordes geziehen und nur durch den Mut einer einzigen vor einem schmachvollen Tode bewahrt geblieben sei, fuhr die Flamme wilder Kriegslust höher empor als zuvor.

Wenig Nachrichten sind aus jener Zeit der Erregung aus dem Nachbarlande an mich gelangt, die eine aber doch, die mir in jenen schweren Tagen Trost und Freude gab.

Als Friedensapostel trat Juvento auf in seiner Heimat. Wohl erklärte er sich frei und lediglich jeglicher Schuld, die Falschheit und Hinterlist ihm angedichtet habe; aber einer Schuld zieh er sich doch. Aus Stolz habe er geschwiegen gegen alle Verdächtigung. Nicht mit Worten wollte er sich verteidigen, vertrauen wollte er gewinnen durch sein Leben bei allen, am meisten bei Goldina, die er liebte und der er seine Unschuld nicht beweisen und erklären wollte, von der er verlangte, daß sie bedingungslos an ihn glaube. Nun sei Unheil erwachsen aus seinem stolzen Schweigen. Jetzt aber Friede, Friede mit dem Brudervolk, mit dem Volke dieses heiligen, toten Königs!

Und – sein Volk wandte sich ab von ihm, sein Vater – alle. Er aber ging in einer Kutte durch die Straßen und auf die Plätze und ruhte nicht, zu reden Tag und Nacht, – er, dem bis dahin nur selten ein Wort über die Lippen kam.

Ja, Trost und Freude brachte mir diese Kunde in jener schweren Zeit, aber mit Reue erkannte ich, daß auch ich dem Prinzen unrecht getan.

Deshalb hatte ich nie meine Liebe für ihn los werden können – deshalb! Und deshalb mußte ihm das Herz dieses edlen Königskindes gehören.

Er war nicht ohne Fehle, aber er war edel.

Qualvoll kam auch mir die grüblerische Frage nach dem Urheber all dieser Schändlichkeit.

Mein Verdacht fiel auf Hamrigula, aber ich kämpfte die Regung nieder. Nie ist ein Herz auf so gefahrvoller Bahn, schlecht zu werden, als wenn es sich falschem Verdacht hingibt. Und hatte nicht auch dieser Prinz furchtbares Unrecht erlitten?

So fehlte mir gänzlich des Rätsels Lösung.

Tag und Nacht flutete das Volk auf den Straßen. Seine Erregung war gedämpft, denn im Königsschlosse lag ein Toter. Nur wenn Prinz Hamrigula in seinem Wagen durch die Straßen fuhr, wurde ein kurzer Jubel laut.

Hamrigula hatte ein Manifest erlassen, daß er die provisorische Regierung übernähme bis zu dem Tage, da der Wille des Volkes seinen König bestimme.

Kein Gegenerlaß wurde kund; er wäre auch nutzlos gewesen.

Mir war bedrückt zumute; ich fand keine Ruhe, wo ich auch ging und stand.

Am zweiten Tage ging ich nach dem Schloß. Goldina war für niemand zu sehen. Sie hielt Totenwache bei ihrem Vater. Aber meine Braut fand ich.

Die roten Wangen waren verblichen; von dem schwarzen Trauerkleide hob sich ihr Gesicht marmorweiß ab.

Wir hielten uns fest umschlungen, wir zwei Fremdlinge in diesem erregten Lande. Und wir haben geweint miteinander um den toten Märchenkönig.

Es ahnte mir, daß schwere Tage für das Königsschloß kommen würden, wie gern hätte ich die Geliebte fortgeführt an einen sicheren Ort, am liebsten in das kleine, weiße Menschenhaus droben auf der grünen Aue.

Aber sie konnte und wollte ihre Herrin nicht verlassen, und auch ich hätte in diesem Augenblick der Gefahr das bedrohte Land nicht verlassen mögen.

So sprachen wir uns beide Mut und Trost zu und gelobten uns, treu unserer Pflicht auszuharren. Ehe ich ging, sah sie mir dankbar in die Augen.

»Wenn du nicht hier wärst, würde ich in diesem Lande vor Angst und Heimweh gestorben sein.«

»Mut, Mut, Geliebte, die Pflichterfüllung in schwerer Zeit ist das Herrlichste des Menschenloses.«

***

Der dritte Tag – der letzte Tag! Nun mußte er begraben werden.

Die Glocken hatten im Lande geläutet Tag und Nacht.

Draußen im Märchenwald sang der Wind ein düsteres Totenlied, die Zweige der Bäume beugten und drehten sich in einförmigem Trauerreigen, und die Blumenglocken schwangen ganz langsam hin und her, so daß ihr Läuten abgerissen, verloren und wimmernd klang. Unter den hohen Bäumen saßen um schwelende Pechkessel weinende Zwerge; in langen Prozessionen, schwarzverschleiert, schritten die Nymphen auf einsamen Wegen, und die kleinen Quellen summten in dunkeln Psalmentönen.

Eine graue Rauch — und Staubwolke lag über der Stadt. Da glitzerte kein Fenster, da blinkte keine Silbermauer. Die Leute schritten daher mit blassen Wangen und brennenden Augen, und auch mir war das Herz schwer von herbem Leib.

Der dritte Tag – der letzte Tag! Von einem Tod zu einem Begräbnis, das sind die einzigen trüben Stunden, die zu rasch vergehen.

Vom Königspalast durch alle die größten Straßen und breitesten Plätze, in einem weiten Umweg führte die Totenstraße hinab zu der Brücke des Lebens und Todes. Ein blühender, grüner Weg! Alle Bäume und Kräuter, alle Blumen und Gräser hatten die würdigsten unter sich ausgewählt, mit dem König zu sterben. Nun lagen auf der Straße Eichenzweige und Palmenwedel, rote Rosen und zarte Anemonen, Getreideähren und blühende Heide, der blaue Enzian von der Bergfirne und die Kuckucksblume von der Talwiese.

Von der neunten Morgenstunde an hatte sich das Volk auf den Straßen aufgestellt. Ein breites Spalier, viel zu interessant, als daß ich es in der langen Zeit des Wartens nicht aufmerksam betrachtet hätte. Ganz vorn die kleinen Geisterlein, die im Wald und auf der Wiese hausen: Ameisenbauern, Blattlausjäger, Moosgärtner, Tausammler, Sandmüller, Heupferdschmiede, Spinnseiler, Bienenlotsen und solch nützliche Leute mehr, aber auch fahrendes Künstlervolk, wie Rispenturner, Mondscheintänzerinnen, Mückenkunstreiter, Grashalmpfeifer, Teufelsbarthexen, Glühwurmfresser und Kieselsteinathleten.

Alle diese Leutchen stehen still und betreten da, alle, auch das leichte Völklein der Künstler.

In der zweiten Reihe Blumen — und Wassergeister, die einen Kopf größer sind als die Vorderleute. Unter den Blumengeistern viele schmale, vornehme Gesichtchen, die heißen, durstigen Augen niedergeschlagen, den Scheitel mit den duftigen Haaren gesenkt. Die Wassergeister in dunkelblauen Kleidern sind viel robuster; die Trauer hält nur mühsam Platz auf ihren trinkfröhlichen, dicken Gesichtern; ihre Wangen sind zu glatt, und so müssen sie ein wenig grinsen, um in den Runzeln die Trauer besser festhalten zu können.

Dann in der dritten Reihe die Kinder des Volkes. Die Mädchen tuscheln und begucken ihre Kleider, die Knaben schauen meist sehr forsch geradeaus, aber manchmal greift einer in die Tasche und zeigt dem Nachbar einen geheimen Schatz. Manche von den ganz Kleinen, die oft kaum hundert Jahre alt sein mögen, fangen an zu weinen und werden von den älteren Geschwistern geräuschvoll beschwichtigt.

In der vierten Reihe die höhere Jugend, junge Studierende beiderlei Geschlechts. Die Mädchen in Trauerkleidern, die von den seltsam strengen, weißen Gesichtern grell abstechen, die jungen Männer in strammer Haltung, wohlbedacht auf die schwarze Binde am linken Arm und einige mit schwarzumränderten Augengläsern.

Dann in mehreren Reihen das Volk. Alles bunt durcheinander, denn es gibt für die Reichen keine Extraplätze. Sie müssen alle am Wege stehen, wenn der König vorbeizieht. Nur einige werden in die hinterste Reihe gewiesen: die Waldschrate, die keine Kleiderbürste besitzen, und die Feuermänner, die einem unterjochten Helotenvolke angehören.

Den Beschluß machen die Tiere. Die kleinen sitzen auf den großen; der Hase auf dem Hunde, das Lamm auf dem Wolfe, der Sperling auf dem Ohre des Bären, das Marienkäferchen auf dem Schnabel des Sperlings. Es ist großer »Königsfriede«, da hat keines etwas zu fürchten.

So sieht der Spalierweg aus, durch den der Märchenkönig zur Ruhe zieht. Ich habe meinen Platz an der Brücke des Lebens und des Todes und kann alles deutlich übersehen.

Gegen Mittag wird auf dem Turme des Palastes die große Königsglocke geläutet. Das ist das Zeichen, daß der Trauerzug aufgebrochen ist.

Durch all die Großen und Kleinen geht eine schwere Erregung.

Der König kommt!

Eine Menge wehender Fahnen wird von Kriegsleuten getragen; sie eröffnen den Zug. Die Soldaten ziehen den Fluß des Lebens hinaus und nehmen an seinen grünen Ufern hüben und drüben Aufstellung.

Dann kommen die Kinder. Sie streuen aus kleinen Körben Diamantsteinchen und Perlen auf die Zweige und Blumen, die am Wege liegen. Und sie haben die Augen voll Tränen.

Weinen, weil sie sehen, daß alle weinen, alle, die am Wege stehen und alle, die in langem Zuge hinter ihnen kommen: die Handwerksleute und Künstler, die Priester und die Bauern.

 

Ein Nachtigallenchor fliegt in der Luft. Sein süßes Lied ist eine ergreifende Klage um den toten König.

Die Adler schweben hoch im Kreise, und die ganze Luft ist voll gefiederten Volkes, das zur Trauerfeier kam.

In kurzen Abständen hallen dumpfe Donnerschläge. Da geht ein Zittern durch die Erde, und ich glaube, diese schweren Trauersalven sind laut genug, daß auch die Menschen droben sie hören werden. Sie werden bleich sein bei dem unheimlichen Grollen, aber nicht wissen, daß der Märchenkönig gestorben ist.

Vorbei zieht der endlose Trauerzug, aber eine schwere Erregung hat mich gefaßt, ich bin nicht mehr imstande, die einzelnen zu betrachten. Kaum, daß es mir auffällt, daß ein Dichter auf weißem Hirsch vorbeireitet und auf seiner kurzen Harfe die Elegie begleitet, die er singt, und daß wilde, schwarzhaarige Waldmädchen zu der Elegie einen Totenreigen tanzen.

Posaunenchöre gehen vorüber, die ihre schweren, langsamen Weisen schmettern.

Große Trauerwagen kommen, auf denen stehen lebende Bilder, die Haupttugenden und Haupttaten des Königs darstellend.

Ich achte auf das alles kaum, ich warte auf ihn.

Nun kommt er!

Weißhaarige, würdige Männer des Landes tragen einen Schild von riesiger Ausdehnung, darauf sitzt auf goldenem Thronsessel der tote Märchenkönig.

Er sitzt aufrecht, als ob er lebe. Seine Augen stehen offen.

O, diese Augen, die so lange für alle gewacht haben und die auch jetzt noch jeden anschauen! O, diese geliebten weißen Haare, die so ehrwürdig leuchten auf diesem Königshaupte, ein heiliger Firnenschnee auf dem höchsten Gipfel des Volkes!

Seid gesegnet, ihr meine Brüder, ihr meine Kinder! Seid gesegnet!

Da knien alle Leute laut weinend nieder, strecken noch einmal die Hände nach ihm aus, schauen noch einmal in das milde Gesicht.

Auch ich bin auf die Knie gefallen, und auch mir, dem Fremdling, rinnen die Tränen heiß und schwer.

Hinter dem Toten, ganz allein, geht Goldina, barfuß, mit bloßem Haupt, in schwarzem Kleid.

Süßes, liebes Märchenkind, du Schöne und Reine, wie ich dich liebe in deinem Schmerz!

Auf der Brücke setzen die Männer den Schild zur Erde.

Zu Ende ist des Königs letzter Gang durch sein Volk und seine Stadt.

***

Grün und silbern leuchtet der Fluß des Lebens, wie immer. Seine Strudel glitzern, seine Katarakte rauschen, die blühenden Zweige hängen in seine Fluten hinein, und auf seinen Wellen schwimmen die Wasserrosen.

Vier Priester treten ans Geländer der Brücke und starren den Fluß hinauf.

Die Glocke schweigt, kein Laut rührt sich mehr. Nur die vier Priester singen ein düsteres Lied.

Auch der tote König sitzt, das Gesicht stromaufwärtgerichtet, als ob er warte.

Da wird in der Ferne auf dem Fluß eine schwarze Gondel sichtbar.

Das Glockengeläute setzt wieder ein, das Volk fängt laut an zu weinen, und Goldina sinkt auf die Knie nieder und bedeckt erschauernd das Gesicht mit beiden Händen.

Langsam kommt die Gondel den Fluß herabgezogen. Kein Steuermann lenkt sie, sie kommt von selbst. Die Strudel glätten sich unter ihrem Kiel, und die weißen Wasserrosen weichen zur Seite.

Am Ufer bleibt das Totenschiff halten.

Da heben die vier Priester den Thronsessel des Königs auf, tragen ihn samt dem Toten hinab und setzen ihn in die Gondel.

Wieder ist es ganz still, und wieder singen die vier Priester ein Lied.

Da sie geendet, stößt die Gondel ab vom Ufer und fährt mit dem toten König der Brücke zu.

Ein einziger Schmerzensschrei hallt durch die heilige Stadt.

Der tote, einsame Schiffer aber fährt dem dunkeln Felsentore zu, das hinter der Brücke düster aufragt und das hinüberführt ins große, jenseitige Reich, das einen Eingang, aber keinen Ausgang hat.

Zum großen, letzten Hafen steuert der Märchenkönig!

Drinnen, drinnen sind Millionen schwarzer Gondeln. Nun bahnt sich auch die seine ihren Weg und sucht sich eine stille Ecke, da sie ankert.

Der Regent

Zwei Tage nach dem Begräbnis des Königs ließ mich Prinz Hamrigula nach seinem Hause rufen. Er kam mir freundlich, aber viel gemessener entgegen als sonst.

»Ich habe Ihnen einen Auftrag zu geben, Herr Redakteur, einen ernsten, schwerwiegenden Auftrag. Ich hoffe, daß Sie ihn zu meiner Zufriedenheit erfüllen werden.«

»Königliche Hoheit, ich werde mich bemühen, meine Pflicht zu tun.«

Er nickte.

»Ich darf annehmen, daß Sie seit dem Tode meines seligen Oheims alles aufgeboten haben, um sich, soweit das möglich ist, Klarheit zu verschaffen über das scheußliche Verbrechen, dessen Augenzeuge Sie waren.«

»Gewiß, Königliche Hoheit, aber ich muß sagen, daß ich noch jetzt vor einem völligen Rätsel stehe.«

»Sie haben auch keinen Verdacht?«

»Keinen!«

Er lächelte. »Harmlose Seele! Aber ich mache Ihnen keinen Vorwurf! Sie sind weder Jurist noch Staatsmann. Es ist schließlich nicht Ihre Aufgabe, solchen Dingen nachzuforschen, was Sie zu tun haben ist augenblicklich einen Artikel zu schreiben und als Extrablatt der ›Zeitung‹ erscheinen zu lassen, in dem Sie dem Volke das mitteilen, was ich Ihnen jetzt auseinandersetzen werde.«

Er schritt ein paarmal das Zimmer auf und ab. Sein Gesicht war bleich. Schließlich blieb er vor mir stehen.

»Der König ist vergiftet worden, mit einem teuflischen, augenblicklich wirkenden Gifte. Nun sind zwei Möglichkeiten gegeben: entweder war der heilige Pokal vergiftet oder das Wasser, das der Könige trank. Ich habe Dr. Schnugu rufen lassen. Sie kennen ihn. Er ist ein ebenso kluger als zuverlässiger Mann, der Beste seines Berufes! Dr. Schnugu hat in dem Laboratorium, das im königlichen Schlosse ist, die Scherben des heiligen Pokals und darauf den Rest des Wassers, der noch in der goldenen Kanne war, untersucht. Vergiftet war – das Wasser.«

Er schwieg und fixierte mich scharf. Ich brachte kein Wort heraus. Da fuhr er in festem Tone fort:

»Die Greueltat erfordert Rache! Wäre der Pokal an sich vergiftet gewesen, dann hätte ich heute die sieben Priester, die ihn holten, aufhängen lassen, dazu alle Hüter des heiligen Berges. Da das Wasser der Kanne vergiftet war, so werden wir den Mörder in der Schlacht zu treffen wissen.«

»Sie meinen den Prinzen Juvento?« schrie ich auf.

»Ich meine nicht, mein Lieber, ich weiß es!«

»Das kann nicht sein, – das ist nicht wahr, o verzeihen Sie mir, Königliche Hoheit, aber das ist ganz gewiß ein Irrtum!«

Ich zitterte heftig und rang die Hände ineinander. Er lachte kurz und spöttisch.

»So halten Sie Dr. Schnugu für einen Dummkopf, der nicht eine einfache Analyse versteht?«

»Aber o nein – nein!«

»Oder halten Sie ihn für einen Schuft, der in einer so furchtbar ernsten Sache ein falsches Urteil abgibt?«

»Aber gewiß nicht, gewiß nicht!«

»Lieber Freund, ich halte Ihnen ja als Fremdling und als Dichter manches zugute, aber jetzt muß ich Sie doch sehr ernsthaft bitten, alle sentimentalen Regungen beiseite zu lassen und sich streng an die Tatsachen zu halten. Tatsache ist, daß das Wasser vergiftet war, und Tatsache ist, daß einzig und allein der Erbprinz Juvento mit diesem Wasser zu tun gehabt hat. Es ist ferner erwiesen, daß der König kurz zuvor Wasser aus derselben Kanne getrunken hat. Goldina selbst hat ihm den Trunk gereicht. Und da war das Wasser noch rein!«

»Aber Goldina hat den Erbprinzen selbst geschützt, hat seine Unschuld beteuert.«

»Seien Sie nicht töricht! Ich weiß, daß die Menschen wenig von seelischem Zauber verstehen, daß sie ein bißchen über Hypnose und Suggestion herumreden, aber im Grunde genommen von den großen, geheimen Kräften nichts wissen. Wir sind darin weiter, mein Lieber! Goldina, die sich in einen Schuft verliebt hat, ist einem solchen Zauber erlegen.«

»Es ist nicht möglich, nicht möglich!«

Da stampfte Hamrigula mit dem Fuß die Erde.

»Herr Doktor, ich erinnere Sie energisch an die Pflicht, die Sie dem Lande und Volke gegenüber haben, in dessen Sold Sie stehen! Wollen Sie zu einem Manne halten, der durch Monate unser Volk beschimpft, verhöhnt, entehrt hat, der seine Hand erhob gegen das geheiligte Leben unseres geliebten Königs?«

Ich stöhnte tief und schwer auf und wußte kein Wort zu sagen.

»Oder haben Sie einen Beweis für die Unschuld Juventos?«

»Ich habe keinen als das Zeugnis meines eigenen Herzens, das diesen Mann freispricht,« sagte ich leise.

Hamrigula wandte mir den Rücken.

»Königliche Hoheit, ich bitte Sie untertänigst, doch erwägen zu wollen, ob nicht eine andere Lösung möglich ist, zu erwägen, welch furchtbares Unheil aus der Äußerung eines solchen Verdachts erwachsen muß. Ich flehe Sie an, zu warten, – drei Tage, – zwei Tage, – einen Tag!«

Er wandte sich wieder nach mir um.

»Machen wir Schluß! Was Sie selbst für möglich oder unmöglich halten, ist ja im Grunde genommen gleichgültig. Sie sind nicht berufen, die Politik unseres Volkes zu bestimmen. Diese Aussprache hat mich überzeugt, daß Sie in solchen Dingen weder Initiative noch Direktive haben, daß Sie sich von Gefühlen und Sympathien leiten lassen, wo allein der scharfe Verstand, die Rücksicht auf die Ehre und das Wohl des Landes den Ausschlag geben dürfen. Ich wiederhole Ihnen nun meinen Auftrag: binnen drei Stunden erwarte ich, daß Sie mir einen Artikel vorlegen, der die Darstellung des Königsmordes genau so enthält, wie ich Sie Ihnen jetzt gegeben habe. Dieser Artikel wird, wenn ich ihn genehmigt habe, noch heute als Extrablatt der >Zeitung< ausgegeben werden.«

Da richtete ich mich vor dem Prinzen auf.

»Königliche Hoheit, ich weigere mich, diesen Artikel zu schreiben.«

Er wurde blaß; aber dann lächelte er kalt und spöttisch.

»Sie werden es sich überlegen! Die Aufrechterhaltung einer solchen Weigerung, die ich jetzt Ihrer Aufregung zugute halte, würde nicht nur Ihre Absetzung zur Folge haben, sondern Sie auch in den häßlichen Verdacht bringen, daß Sie vom Erbprinzen bestochen seien und demgemäß als Feind unseres Landes zu behandeln wären. In drei Stunden, Herr Redakteur!«

Und er verließ das Zimmer.

***

Wie ein Träumender irrte ich durch die Straßen von Marilkaporta. Ich glaube, daß ich heftiges Fieber hatte. Die Augen brannten mir, und wenn ich die aufgeregten Leute auf — und abwallen sah, diese Leute, die den schrecklichen Zündstoff im Herzen trugen, in den noch heute eine Brandfackel geworfen werden sollte, überrieselte mich ein eisiger Schauer, und ich sah alles wie durch einen Nebel.

Nie zuvor im Leben war ich so ratlos. Daß ich den Artikel nicht schreiben würde, wußte ich; aber was ich eigentlich tun solle, wußte ich nicht.

Da fiel mir Goldina ein. Einem seelischen Zauber sollte sie erlegen sein? Ich hielt das für Lüge! Was sie getan, wie sie den Prinzen gerettet hatte, das geschah unter keiner Beeinflussung, das war die freie Tat einer herrlichen Seele. Auch jetzt war sie es allein, die das Volk beruhigen, den Prinzen Hamrigula beschwichtigen konnte. Ich mußte mit ihr reden.

Eilig ging ich nach dem Königsschloß. Sonst stand ein alter Türsteher an der großen Pforte; heute waren zwei Soldaten dort aufgepflanzt.

»Ohne einen Erlaubnisschein des Regenten darf niemand das Schloß betreten.«

Ich prallte zurück, als ich diese Worte vernahm, ich war so töricht, mit den Soldaten verhandeln zu wollen. Aber es wurde mir grausam klar, daß das Schloß abgesperrt war, daß Goldina und Angelika Gefangene waren.

Mit müden Schritten ging ich zurück nach dem Marktplatz, nachdem ich ein paarmal zweck — und ziellos um das Schloß herumgeirrt war und in ohnmächtiger Sehnsucht nach den großen, leeren Fenstern hinaufgestarrt hatte.

Zurück zum Markt! Die Leute drängten und stießen sich. Manchmal erkannten mich einige und grüßten mich. Ich lehnte mich in eine hohe Haustür und überlegte, ob ich zum Volke reden, die Kraft der Rede probieren solle wie einst. Aber da erst wurde mir meine ganze Ohnmacht klar. Ich konnte nicht reden, nicht in diesem Zustand! Was hatte ich für Argumente einem so fieberhaft erregten Volke gegenüber, das ebenso überzeugt von der Schuld Juventos war, wie Hamrigula selbst, das diesem Hamrigula zugejauchzt hatte, als er das Schwert gegen den Erbprinzen zückte, das, vom Vulkanfeuer umloht, vom eigenen Verderben bedräut, nichts gewünscht hatte als den Tod dieses Einen? Ein Hohngelächter würde mir antworten. An die kalte Mauerwand lehnte ich die heiße Stirn, und ein Gefühl gräßlicher Vereinsamung überkam mich. Dr. Schnugu selbst, der alte, ehrliche Dr. Schnugu, stand auf der Gegenseite.

 

So wollte ich wenigstens ihn aufsuchen und mit ihm reden. Ich trat durch das Tor hinaus in den Märchenwald.

Noch immer beugten sich die Bäume im Todestrauerreigen, noch immer summten die Quellen ihre düsteren Psalmen. Die Elfenkinder nur hatten schon wieder zu tanzen begonnen.

Es war so weit, so weit! Wie ich auch eilte, wie ich die Schritte zählte, der Weg dehnte sich, und als ich nachrechnete, wie wenig Zeit mir blieb, ein maßloses Unglück zu verhüten, versagten die Glieder. Ich sank nieder am Rand des Weges, ich konnte nicht weiter.

Ein altes Weiblein kam des Weges dahergehumpelt.

»Lieber Herr,« sagte sie weinerlich, »wissen Sie nicht, wo der Dr. Schnugu bleibt?«

»Wo soll er bleiben? Ist er nicht zu Haus?«

»O nein! Ich warte schon zwei Tage auf ihn, aber er kommt nicht heim.«

Da bekam ich wieder Kräfte und eilte nach Dr. Schnugus Hause.

Es war leer. Der Ofen kalt. Die Fenster geschlossen. Die Luft schlecht. Ein paar lamentierende, kranke Leute hockten vor dem Hause.

Der Doktor war fort. Seit zwei Tagen.

Auch dieser letzten Hoffnung beraubt, ging ich langsam einen Waldweg entlang und kam nach längerer Wanderung aufs freie Feld. Mittag kam und ging vorbei. Nun waren die drei Stunden um. Mein Schicksal war besiegelt.

Aber ich dachte kaum an das, was mir drohte. Eine schwere Verachtung meiner selbst quälte mich. Da saß ich ratlos und tatenlos auf einem Feldrain, während drinnen in der Stadt der Krieg losbrach, saß müßig da, gefangen von einer trägen Traurigkeit, die wie ein böser Albzauber die Glieder lähmte, die Augen trübte, die Gedanken verwirrte und nur eines ungeschwächt wach erhielt: die schreckliche Furcht um Angelika, um Goldina, um das ganze Volk.

Solche Zustände bleiben so lange erträglich, als man seiner eigenen Sache sicher ist. Wehe aber, wenn der Zweifel kommt, wenn auch die innere Sicherheit ins Wanken gerät!

Nicht lange, da erfaßte mich der Zweifel. Zum ganzen Volk stand ich im Widerspruch in dieser fürchtelichen Sache, war blind und taub gegen alle Schuldbeweise, bildete mir ein, mich auf mein Gefühl verlassen zu können, ich, der landfremde Mann.

War es nicht wirklich ein seelischer Zauber, unter dem auch ich stand?

Konnte Hamrigula nicht recht haben, dieser zielbewußte, energische Hamrigula? Er hatte nur einen Leitstern, das Wohl des Landes, und ging ihm nach, unbekümmert, ob er auf dem Wege eine grüne Saat zerstampfte. Wie weit war er mir überlegen an festem Willen! Was war er für ein kühner, kluger Mann!

So quälte mich der Zweifel. Aber ich raffte mich auf, ich fand mich selbst wieder, ich schüttelte den Zweifel ab wie eine lästige Zwangsjacke, ich bekannte mich in trotziger Mühe zu meinem festen Glauben, ich wollte ihn bewahren und mit ihm siegen oder fallen.

Nicht nur um Juventos willen! Um des toten Königs willen, der seine Hand gehalten hatte über diesen Mann, um Goldinas willen, deren Glaube nicht wankte im Angesicht von Tod und Verderben.

Ich stand auf und beschloß, nach der Stadt zurückzugehen, vor allen Dingen mich mit Stimpekrex und Dr. Nein zu beraten.

Da machte ich eine Beobachtung, die mich erregte.

Eine große schwarze Krähe flog der Stadt zu. Sie hatte einen Brief am Halse hängen, der von ihrem schwarzen Gefieder deutlich abstach.

Der Gedanke durchzuckte mich, es sei eine von unseren Krähen, eine der geheimnisvollen Briefträgerinnen, die mir schon einmal hier auf dem Felde begegnet waren.

Gewiß, ich erkannte sie, und eine jähe Ahnung zuckte in mir auf.

Es war mir, als ob ein greller Blitz ein dunkles, düsteres Land vor mir auf eine Minute grell erleuchtet und mir drohende schwarze Gespenster gezeigt habe.

Wie erstarrt von dem Gedanken, der mich überkommen hatte, stand ich da und schaute der Krähe nach, die über der Stadt verschwand.

Ein schrecklicher Verdacht, ein scheußlicher Verdacht! Und doch so lebhaft, so packend, so zwingend, daß er mich ganz erfaßte!

Ich lief ein paarmal den Feldweg hinauf und hinab, sank aber bald wieder auf den Rain und begrub den Kopf in die Hände.

Klarheit! Klarheit! Ein bißchen Licht!

»Guten Abend, lieber Herr. Da bin ich wieder!«

Ich schaute auf, stutzte und fing dann laut an zu lachen. Fing an zu lachen in all meiner schweren Bedrängnis! O, es gibt Ventile des Herzens! Ich habe einmal in todesgefährlicher Seenot, als unser Schiff nahe am Untergehen war, laut lachen müssen, weil sich ein Mann neben mir in seiner Verwirrung die Gummischuhe anzog; und ich mußte auch jetzt laut und herzlich lachen, denn vor mir stand – mein wohlbekanntes Füchslein, das trug irgendein übelzugerichtetes Geflügel in der Schnauze.

»O, Meister Fuchs, – Ihr seid es? Wollt Ihr denn wieder zu Dr. Schnugu? Wollt Ihr ihm denn wieder eine Henne hintragen?«

»Nein, eine Pute! Glaubt mir, lieber Herr, ich bin ein geschlagener Mann! Ich hab' immerfort Gewissensbisse, daß ich mich noch nicht für das Schwanzanleimen erkenntlich gezeigt habe, und nun wollte ich die Pute hintragen und seht Ihr, jetzt fehlt doch wieder der Kopf und ein Flügel.«

Armer Kerl, bei dem die Dankbarkeit und die Freßlust in so grimmem Streite lagen! Als ich ihn so mit gesenktem Kopfe vor seinem Putentorso stehen sah, mußte ich lachen, daß mir die Augen feucht wurden. Er sah mich bekümmert an.

»Lieber Herr, lacht nicht! Ich weiß, daß Ihr ein kluger Mann seid! Sagt mir, ob es anständig ist, einem Doktor eine Pute zu schenken, an der der Kopf fehlt und ein Flügel.«

»Nein, mein Freund, und ich kann Euch auch sagen, daß Ihr den Doktor Schnugu gar nicht antrefft. Er ist fort; es weiß schon seit zwei Tagen niemand, wohin er ist.«

»Oh, was sagt Ihr? Er ist fort? Ja, was mach ich dann mit meiner Pute?«

»Eßt sie selber, lieber Meister! Laßt sie euch gut schmecken! Aber nein, – nein, – halt, – wartet! Wartet einen Augenblick, – mir ist etwas eingefallen, – oh, das wäre gut, – wahrhaftig, das ginge vielleicht – – Wollt Ihr mir einen Gefallen tun, lieber Freund?«

Er hatte schon den zweiten Flügel aus der Pute herausgerissen. Kauend sagte er:

»Ich werde alles tun, was Ihr wollt, weiser Herr!«

***

Kurze Zeit später geschah folgendes:

Auf dem Feldwege lag ein großer, rotleuchtender Fleischbrocken. Drei Schritte davon weg, unter einem Strauch verborgen, lag der Fuchs. Ich selbst stand eine Strecke abseits.

Die schwarze Krähe kam aus der Stadt zurück und segelte langsam durch die Luft. Sie trug abermals einen Brief am Halse. Ich warf mich auf die Erde, der Schweiß tropfte mir von der Stirn, die Hände zitterten mir leise, und ich starrte unausgesetzt nach der Krähe.

Die Krähe stierte nach unten, verlangsamte den Flug, zog einen Kreis und schoß dann pfeilschnell herab nach dem rotleuchtenden Fleischbrocken.

Ein fürchterliches Todeskrächzen erfolgte, dann rief mein roter Genosse übers Feld:

»Kommt her, lieber Herr, sie ist tot!«

Ich eilte hin, und der Fuchs präsentierte mir einen Brief.

»Da habt Ihr den Brief, lieber Herr, den Ihr wolltet!«

»An die Posaune!« stand darauf.

Ohne eine Spur vor Gewissensbissen riß ich den Umschlag auf.

Ich las – las!

Und dann stürzte ich mit einem gellenden Lachen der Stadt zu.

***

Ich eilte nach meiner Wohnung. Dort fand ich Dr. Nein, Stimpekrex und Schnaff.

»Endlich! Endlich!« riefen sie mir zu. »Wir warten hier auf Sie. Es sind die wichtigsten Dinge passiert, Hamrigula läßt Sie suchen; er braucht Sie!«

Ich sank auf einen Stuhl.

»Meine Freunde, ich muß Euch eine schreckliche Mitteilung machen, – Hamrigula ist ein elender Schuft!«

»Herr!« schrie Stimpekrex auf und hob die geballte Faust gegen mich. Dr. Nein fiel ihm in den Arm. Aber auch er fragte gereizt:

»Wie beweisen Sie diese Anklage gegen unseren Regenten?«

»Ich habe den Beweis in der Hand, daß alle die Schandartikel der »Posaune«, auch alle die Angriffe auf Hamrigula – dieser Hamrigula selbst geschrieben hat.«