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Das letzte Märchen

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Märgi loetuks
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Ein Schluchzen heulte kurz auf, dann war es still draußen, und es kam kein Zeichen mehr auf alle Anrufe.

Aber ein Lächeln lag auf des Walddoktors liebem Gesicht. Wenn ein häßliches Gesicht plötzlich schön wird, das ist ein rührendes Wunder. Und Dr. Schnugus verrunzeltes Gesicht wurde schön, innig schön, wenn er lächelte, wenn ein Sonnenstrahl aus seinem lieben Herzen seine rauhen Züge erklärte.

»Seien Sie getrost, mein Freund, ich habe noch Hoffnung.«

So sagte er zu mir und legte mir die Hand auf den Scheitel.

»Ich weiß ja, wie schwer das Sterben für die Jugend ist; ich weiß, daß alles junge Blut schaudert, wenn es an die kalte Grube tritt. Immer! Auch wenn es die Ehre erfordert! Es ist wider alle Natur, daß junge Leute sterben wollen. Wie leidenschaftlich, wie verzweifelt haben mich die jungen Kranken manchmal um Leben und Gesundheit gebeten. Und dann war ich immer glücklich, wenn ich ihnen sagen konnte: »Seien sie getrost; ich habe noch Hoffnung!«

»Sie vertrauen auf den Zwerg?«

»Ja, ich habe ihn nie für schlecht gehalten. Und sie haben auch gehört, daß er geweint hat.«

Dr. Nein hatte aufmerksam zugehört. Bei den letzten Worten erhellte sich sein Gesicht. Dann stand er auf und suchte den Schlüssel hervor, den er in die Ecke geschleudert hatte.

»Hurra, Herrschaften, der Schlüssel paßt in diese zweite Tür!«

Dr. Nein hatte in der Tat die zweite Tür, die in dem Erdloche war, geöffnet. Gespannt schauten wir hin.

»Lassen Sie mich kundschaften gehen; ich komme gleich wieder.«

Er nahm unsere Lampe und ging hinaus.

Nach kurzer Weile kam er zurück. Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Haben Sie einen Ausgang gefunden?«

»Nein, Ausgang leider nicht! Es ist gerade so ein verschlossenes, elendes Nest wie dieses, aber –«

»Aber?«

»Aber zehn Weinfässer liegen drin. Gläser sind auch da und Hähne auch. An drei Fässern habe ich gerochen: Rüdesheimer, Burgunder, Tokayer!«

Und ob es gleich eine Enttäuschung war, die unverwüstliche Lebensfreude dieses Mannes tat mir wohl.

Nicht lange darauf brachte Dr. Nein drei Becher Weines, wir wollten zulangen, aber er wehrte ab. Halt! Hände weg!« befahl er. »Diese drei Becher sind für mich! Wer kann wissen, ob der Wein nicht vergiftet ist. Prosit, ihr Leidensgenossen! (Er trank den ersten Becher.) – Der Rüdesheimer – der Rüdesheimer ist rein! – Ihr möget noch lange leben und vielen Ruhm gewinnen, ihr Männer der Weisheit! (Er trank den zweiten Becher.) Der Burgunder – der Burgunder ist klar wie Gold! – So möge euch Gott behüten, ihr lieben Freunde! (Er trank den dritten Becher.) Oh, ich gebe euch mein Wort, ihr Geliebten, auch in diesem Tokayer ist nicht ein Tröpflein Gift.«

Bald darauf brachte er neue Humpen. Auch Dr. Schnugu stellte er einen hin. Dabei sah er ihn wehmütig an.

»Also, alter Herr, übermorgen sind Sie tot! Was haben Sie nun davon, daß Sie sich immer mit mir herumzankten? Was haben Sie davon, daß Sie mir immer vorpredigten, vom Trinken bekäme ich eine verfaulte Leber? Ich bitte Sie, was sollte ich jetzt mit einer gesunden Leber anfangen? Trinken Sie, alter Herr, und schließen Sie Frieden mit mir! Aller Kampf und aller Gram sind am Ende eitel.«

Dr. Schnugu nickte, reichte ihm die Hand und trank.

Die Stunden schlichen dahin, die Zeit der Nacht kam. Nichts ereignete sich, das uns Hoffnung auf Befreiung gegeben hätte. Der Zwerg erschien nicht mehr. Speisen fanden wir reichlich im Nebenraume. Wir rührten sie kaum an. Auch der Wein wollte uns nicht mehr schmecken.

Es war nur ein einziges Lager da. Ich erhob mich und bot dem alten Walddoktor das Bett an. Er lehnte es entschieden ab. Auch die beiden anderen.

»Sie haben das Vorrecht!« sagte Dr. Nein mit einem letzten Aufglimmen seines grimmen Humors, »denn Sie sind Gast in diesem freundlichen Lande. Wir sind hier zu Hause! Und man gewöhnt sich derweil, mit dem blanken Rücken auf der Erde zu liegen.«

Er streckte sich lang aus.

»O, es liegt sich ganz gut! Bloß, daß ich den Agenten die Treppe hinuntergeworfen habe, das reut mich.«

Er fing leise an zu rechnen, während er sich unruhig hin und her wälzte, und einmal seufzte er auf:

»Es wird schwer gehen! Es wird sehr schwer für sie sein, durchzukommen.«

»Sie haben einen sehr netten, kleinen Jungen,« sagte Dr. Schnugu. »Nannten ihn nicht die Leute das kleine Dr. Neinchen?«

»Ja,« sagte Dr. Nein mit heiserer Stimme, und dann sprach er kein Wort mehr.

Es wurde nun ganz still. Dr. Schnugu und Stimpekrex hatten sich in eine Ecke gesetzt und hielten sich fest an den Händen. Oheim und Neffe! Sie hatten manchen lustigen Strauß miteinander gehabt, nun verbanden sie sich still zum großen, letzten Streit.

Ich starrte nach der dunklen Decke über mir. Es fiel mir ein, ich könne versuchen, zu schlafen. Aber ich hatte noch so viel Zeit, zu schlummern, und nur noch so wenig Zeit, zu wachen.

Die Lampe ging aus. Es war eine Qual, zuzusehen, wie das einzige, kleine Lichtlein in der Kerkernacht kleiner und kleiner wurde, wie es vergebens ein paarmal nach oben züngelte, lechzend nach Luft und Kraft, und müde dahinstarb.

Unausgesetzt schaute ich auf den roten, verglimmenden Punkt, mit der schweren Trauer, mit der man ein verlöschendes Leben beobachtet.

Jetzt erstarb es. Ein Qualm fiel mich an. Der Totengeruch des gestorbenen Lichtes!

Was ich gedacht habe in dieser furchtbaren Nacht, wie ich Rechnung gemacht habe mit meinem Gott, meiner Welt, wie ich Abschied nahm von der Braut, von den Eltern, von allem, was ich geliebt hatte, davon rede ich nicht. Diese intimen Güter meiner Seele gehören nur mir.

Verschollen, – gestorben! Verunglückt im Märchenland, verunglückt auf dieser letzten Fahrt, weil die alten, weltkundigen Augen einen Schuft entdeckt hatten!

Die Zeit rückte langsam, langsam weiter. Aber das ist das Gute, daß die Furcht leicht ermüdet. Man kann sich nicht lange heftig fürchten.

So weiß ich, daß mir auch in jener Kerkernacht die Phantasie nicht gelähmt war; ich konnte auch in jener schweren Sorge an den kleinen Geschehnissen um mich her nicht vorbei sehen.

Eine graue Erddämmerung herrschte in der fensterlosen Höhle auch trotz des erloschenen Lichtes.

Da sah ich zwei glitzernde Wassertropfen an der Wand heruntergleiten. Sie kamen herab wie zwei mächtige Wellen, bildeten je einen Flußlauf mit vielen Krümmungen, Stauungen, Stromschnellen, liefen ineinander wie zwei Zwillingsströme und mündeten gemeinsam in ein winziges Meer, das auf einer Mauerkante war. Und ich dachte an die Infusorienfischlein, die in den Flüssen schwammen, an die grausen Ungeheuer, die ihnen nachstellten, an das tausendgestaltige Leben, an den Kampf, der in dem kleinen Flußsystem war, und zuletzt war es mir, als ob ich die Brandung des kleinen Meeres auf der Mauerkante hörte, das an seine Klippen — und Felsenküste anschlug.

Dann kam eine Spinne an einem grauen Seile zn mir herabgetlettert. Sie hielt dicht vor meinem Gesicht und starrte mich an. Mit viertausend Augen! Diese Ziffer hatte ich einmal in der Schule gelernt. Die Spinnen sind in allen Kerkergeschichten die Gesellschafter der Gefangenen. Aber es sind keine tröstlichen Gesellschafter! Mit ihren starren, öden Sphinxaugen erwecken sie der Seele neue Angst. Und es ist auch nichts Merkwürdiges um ihre viertausend Augen. Der Mensch hat viel mehr. An jedem Tage x-tausend Augen mal zwei. Ich scheuchte die Spinne, und sie klomm nach der Decke zurück.

Die Freunde rührten sich nicht. Aber ich glaubte nicht, daß einer schlief. Einsam war ein jeder bei stillen Gedanken.

Die Schatten – die Schatten!

Was sagen die Physiker? Der Schatten ist der verdunkelte Raum hinter einem beleuchteten, undurchsichtigen Gegenstand. Ich habe ganz andere Schatten gesehen, Schatten, die selbständig hin — und herwandelten, sich zusammenduckten, sich riesengroß emporreckten und ihre unheimlichen Formen beständig veränderten, Schatten mit schwarzen, verrenkten Gliedern, die mich bedrohten und in wilden Geberden verhöhnten, – Riesen, Hexen, Katzen, Galgengelichter.

Kerkergespenst!

Die Todesangst packte mich, als ich das schwarze Gesindel tanzen sah, und eine Frage ging mir heiß durch die Seele und durchglühte den jungen Leib:

»Warum freuen sie sich so? Warum höhnen sie so? Wird das Ende so qualvoll sein?«

Ich preßte das Gesicht auf meine Lagerstatt und versuchte, die Angst abzuschütteln. Ich sprach selbst zu mir in meinem Herzen ... lange ... eindringlich ... vernünftig.

Als ich die Augen wieder öffnete, waren die Schatten fort, die Höhle wieder einförmig grau.

Nun wollte ich schlafen.

Ein alter, frommer Kinderreim klang mir wohltätig durch die Seele:

 
»Müde bin ich, geh zur Ruh,
Schließe beide Äuglein zu;
Vater, laß die Augen dein
Über meinem Bette sein!«
 

Da fing ein großes Strahlen an in einer weißen Welt. Es war ein Glanz und ein Leuchten um mich, und mein Fuß ging wie auf schimmernden, weichen Wolken.

Neben mir ging Angelika. Wir führten uns an den Händen und sprachen kein Wort.

Wohin gingen wir? Wohin?

Meine Räuber-Romantik

Ich fahre auf. Über mir ertönt ein kurzer Lärm. Dann ist es wieder still.

Jetzt nähern sich Schritte.

Da« Schloß der Tür knarrt, quietscht.

Die Tür springt auf. Männer kommen herein. Die Häscher? Die Schergen?

Wir springen alle vier auf und vereinigen uns in eine Ecke.

»Wo seid Ihr? Wo? Her!« ruft eine unterdrückte Stimme, wir geben keine Antwort.

 

Da bringt ein Mann eine Laterne unter dem Mantel hervor und hebt sie hoch.

Ein Student! Ein alter Student mit einem verpflasterten Gesicht!

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragt Dr. Schnugu.

»Ich will Sie herausholen aus diesem Loche, Herr Doktor, Sie und die anderen,« sagt der Student. »Ich bin Brumbu, der konzessionierte Staatsräuber.«

Ein Freudenschrei von allen Lippen.

»Pst, Herrschaften, keinen Skandal! Das darf man nicht, wenn man ausbricht! Es laufen überall Wachen herum. Hier in der »Eule« habe ich auch erst fünf Mann ein wenig knebeln und festbinden müssen, weil sie mich nicht zu Ihnen herablassen wollten. Und nun seid gescheit, ihr weisen Herren, laßt euch verkleiden und die Bärte abschneiden, denn sonst ist es unmöglich, daß wir euch durchbringen.«

Wir umdrängten Brumbu und seine Gefährten und drückten ihnen mit warmen Dankesworten die Hände. Ganz außer sich vor Freude war Dr. Nein. Er eilte ins Nebenzimmer, brachte eine Menge Humpen und sagte:

»Trinkt, Kinder, trinkt wenigstens einen einzigen Schluck!«

Und er selbst hob einen Humpen hoch und rief jubelnd:

»Auf dein Wohl, du liebes Leben! Auf dein Wohl, du kleines, goldenes Dr. Neinchen!«

Viele Laternen brannten auf, und nun wurden wir von den Räubern im Gefängnis rasiert. Als wir so eingeseift im Kreise saßen, mußten wir alle vier trotz unserer Aufregung lachen, und ich glaube auch wirklich, daß das die närrischeste Situation meines Lebens war.

Dann folgte eine tolle Maskerade. Die Räuber waren alle in Studentenanzügen, auch Stimpekrex bekam einen solchen. Dr. Schnugu erhielt den Habit eines Mönches, Dr. Nein einen sehr modernen Engländeranzug nebst einem blauen Kneifer und ich – die elegante Robe einer Dame. Brumbu, der die größte Eile befahl, leistete mir selbst Kammerzofendienstfe. Was er dabei sprach, ist wert, mitgeteilt zu werden.

»Also zuerst diesen dunkelgrauen Rock! Er hat sehr schöne, breite Volants. Warten Sie, der Gurt will nicht zu! – Verdammt, ziehen Sie doch ein bißchen den Bauch ein, Sie haben ja eine greuliche Taillenweite! So jetzt schließt er! – Nun die Bluse! Schottisch! Sehen Sie mal! Vorn und hinten gezogen, an der Seite zu schließen. Chic! So. jetzt rein! Halt, halt, verkehrt! So rum! Mensch, stellen Sie sich doch nicht gar so taprig! Stecken Sie sich einstweilen diese Brosche vor, während ich die Haken zumache. – Donner – ist das eine Hundearbeit! Sie sind zu knochig, zu massig! So, jetzt wird's gehen! Zeigen Sie mal! – Passabel! – Nu mal kehrt! – Der verdammte Gürtel! – Na, ist egal, Sie nehmen diese Mantille um. Und jetzt den Theaterschal! – Es ist gut, daß Sie so lange Haare haben, wir werden eine Locke auf die Stirn machen. Entschuldigen Sie, ich muß die Locke ein bißchen mit Spucke ankleben, sie bleibt sonst nicht! So, jetzt sieht es sehr gut aus. Ausgezeichnete Locke! Herrliche Locke! – Nun die Handschuhe! Echte Dänen! Könnten aber auch 'ne Nummer größer sein! Und nun den Fächer und den Pompadour! – Falsch, Mensch, den Fächer in die rechte Hand! – Haben wir gut gemacht! – Jetzt sind Sie ein ganz nettes Frauenzimmer! Nu machen Sie aber such eins recht anmutige Figur, und gehen Sie recht leicht und schwebend!«

Dr. Nein brach beim Anblick seines verwandelten Chefs in große Heiterkeit aus; Brumbu aber mahnte zu sofortigem Aufbruch. Er hielt eine kleine Ansprache.

»Es ist nicht anders möglich; wir müssen durch einen Teil der Stadt. Zunächst über den Rosenplatz, dann die Rubinstraße hinunter, dann links über die Forellenbrücke, dann durch das kleine Buchrückengäßchen in den Garten der Villa ›verlorener Friede!‹ Im ›verlorenen Frieden‹ über die Mauerplanken, hinaus in den Wald und dann gleich links hinunter zur Fähre am Fluß. Dreihundert Schritt rechts von der Fähre unter den Erlen liegen unsere Boote. Wenn Sie irgendwie aus der Rolle fallen, sind Sie verloren, denn die ganze Stadt wird von Streifwachen Hamrigulas durchzogen. Dr. Schnugu geht zuerst, dreihundert Schritt hinterher geht Dr. Nein mit seiner Dame. Zuletzt kommen wir Studenten, Vorwärts marsch, und Glückauf!«

Die Tür öffnete sich, wir gingen hinaus in die Freiheit.

Links von der Treppe, die wir hinaufstiegen, tönte aus einem Gemache ein Stöhnen.

»Die Leute Hamrigulas,« sagte Brumbu.

Ein schrecklicher Anblick bot sich uns oben im Hausflur. Lillebolle, der Zwerg, war mit ausgespreizten Armen und Beinen an einen Holzblock angebunden. Wir protestierten heftig gegen eine solch unnütze Quälerei. Aber Brumbu sagte: »Es muß so sein!« und Lillebolle stieß sein leises, gackerndes Gelächter aus.

Erst später erfuhren wir, wie treu der brave Zwerg an uns gehandelt hatte. Scheinbar hatte er sich dem Prinzen zu Diensten gestellt, hatte an Brumbu einen verlässigen Boten geschickt, daß er uns befreie, und sich selbst nur in diese qualvolle Lage bringen lassen, um seinem Auftraggeber unverdächtig zu erscheinen, da er sich auf keinen Fall von seiner »kühlen Eule« trennen mochte.

An der Tür lugte Brumbu hinaus auf die stille Straße. Keine Seele! Es war Nachtzeit.

Da ließ er Schnugu hinaus, wie Noe aus der Arche den Raben, und der alte Doktor zog in seinem Mönchsornat langsam und gesenkten Kopfes die Straße hinunter.

»Nun Sie!«

»Ich bitte, liebe Frau!« sagte Dr. Nein und bot mir galant den Arm. Mit heftigem Herzklopfen trat ich hinaus und gab mir alle Mühe, einen recht leichten, schwebenden Gang anzunehmen, wie Brumbu befohlen hatte.

Mein Begleiter war aber nicht zufrieden mit mir.

»Erlauben Sie, Sie wippen ja wie eine überschnappte Bachstelze,« sagte er. Da ging ich in meinem gewöhnlichen Tritt.

Nach kurzer Zeit hörten wir einen wüsten Gesang hinter uns:

»Gaudemus igitur, Juvenus dum sumus«.

Ich mußte anfangs lachen, wurde aber dann sehr besorgt, da Brumbu mit seinen Pseudo-Studenten den lateinischen Text schauerlich verunstaltete.

Aber es ging gut. Ehe wir auf den Rosenplatz kamen, bog eine Streifwache gerade in eine Seitengasse ein. Der Platz war fast leer.

Vom Rosenplatz sieht man die hochragende Königsburg. Dort war die Geliebte! Ich hoffte, daß sie dort noch war. O, welches Schicksal hatte sie? Ein heißer, stiller Gruß, ein Segenswunsch stieg hinauf zu den ragenden Zinnen. Dann weiter – weiter!

Nun kamen wir in die Rubinstraße. Auch sie war wenig belebt. Plötzlich stockte unser Fuß. An einer Mauer leuchtete ein großes, rotes Plakat:

»Das Extrablatt der ›Zeitung‹ gefälscht!«

Erregt traten wir hinzu. Ich fing halblaut an zu lesen:

»Schnaff, der Lokal-Redakteur der ›Zeitung‹, das letzte und geringste Mitglied der Redaktion, aber jetzt der einzige Redakteur, der noch frei ist, tut unter seiner eigenen Verantwortlichkeit und unter feierlichem Schwur für die Wahrheit seiner Worte den Einwohnern der Hauptstadt und des Landes kund:

Das Extrablatt der ›Zeitung‹ ist von Hamrigula gefälscht: keiner der unterzeichneten Redakteure hat eine Zeile davon geschrieben, Wichtige, unwiderlegliche Urkunden, die der hochehrenwerte Chef unserer ›Zeitung‹, Herr Dr. Barragu, in seinen Besitz gebracht hat, beweisen, daß Hamrigula die Schandartikel der ›Posaune‹ selber geschrieben –«

»Da ist ja auch ein so niederträchtiges Plakat!«

Ich fuhr erschrocken herum. Zwei Wachtleute steuerten auf uns zu.

»Weg da! Es ist verboten, diese Lügenplakate zu lesen!

Und der eine Beamte riß den Anschlag herab von der Mauer, während mich der andere, der mich wohl hatte lesen hören, mißtrauisch betrachtete.

»Erlauen Sie gütigst,« sagte Dr. Nein scharf, »es wird ehrenwerten Bürgern wohl erlaubt sein, die öffentlichen Anschläge zu lesen.«

»Das ist ein verbotener Anschlag.«

»Das können wir doch nicht wissen!«

»Was ist das überhaupt für eine Frau?« platzte der andere heraus.

»Was hat sie für eine rauhe Stimme, und wie sieht sie so komisch aus?« sagte der erste.

»Sie beleidigen meine Frau!« knirschte Dr. Nein. »Geht das die Polizei etwas an, wie meine Frau aussieht? Ist es nicht genug, wenn sie mir gefällt? Ich merke mir Ihre Nummern, meine Herren: 75 und 137! Komm, Emma!«

Ich hatte mit niederschlagenen Augen dagestanden und ergriff jetzt entrüstet den Arm meines »Gemahls«.

»Sprich jetzt nicht!« sagte er fürsorglich zu mir. »Es zieht hier, und du bist ohnehin schon heiser.«

Wir gingen, und die beiden Polizeileute folgten uns. Es war eine furchtbar peinliche Lage. Ich fühlte förmlich, im Rücken, wie mich die Wächter musterten, und erwartete jede Sekunde unsere Verhaftung. Auch Dr. Nein fürchtete das Schlimmste. Es fiel mir jetzt zu meinem Schrecken ein, daß ich meine Männerstiefel anbehalten hatte. Grob und unzierlich kamen sie unter den Volants des etwas kurzen Kleides zum Vorschein. Auch vermutete ich, daß ich als Dame zu groß und eckig aussehen müsse, und daß mich überhaupt Meister Brumbu ein wenig vogelscheuchenmäßig ausstaffiert hätte.

In dieser höchst gefährlichen Lage hörten wir plötzlich die Stimme Brumbus hinter uns:

»Zwei Nachtwächter – hurra!«

»Hurra! Hurra! Zwei Augen des Gesetzes!«

»Hinter einer Dame her! Auf zur Attacke! Ganzes Regiment – Gänsemarsch!«

»Studenten!« sagte der eine Polizeimann unwirsch und ersckrocken. Und er zog seinen Kollegen eiligst nach einer Nebengasse, wo sie verschwanden.

Wir waren gerettet. Gerettet durch die Genialität des konzessionierten Staatsräubers.

Durch das schmale Buchrückengäßchen liefen wir ziemlich schnell. Der melancholische Garten des »verlorenen Friedens« nahm uns auf, wir kletterten über die Mauer, was für mich als Dame nicht ohne Schwierigkeiten war und sich besonders der Schönheit meiner Volants schädlich erwies, und gelangten in den Märchenwald.

Und nach wenigen Minuten waren wir an den Booten am Flusse.

Als wir vom Ufer abstießen, rieb sich Dr. Nein die Hände. Er sagte, er freue sich nun doch, daß er sein Leben nicht versichert, sondern den Agenten lieber die Treppe hinuntergeworfen habe. Nun hoffe er, für seine Kinder noch durch ungezählte Tausende von Jahren selbst sorgen zu können.

Ich aber hielt unausgesetzt den Blick nach der goldenen Stadt gerichtet, die aus majestätischer Höhe mit ihren silbernen Mauern und rotgoldenen Kuppeln zu uns herabschaute. Und sah immer nach dem Königsschloß.

Mein süßes Schneewittchen, wenn ich auch dich erst in Sicherheit wüßte!

Ich teilte Brumbu meinen Kummer mit.

»Es läßt sich nichts machen,« sagte er, »denn ins Schloß kann ich nicht, und da ist sie sicher noch. Früher hatte ich ja meine Verbindungen im Schlosse, aber jetzt sind lauter neue, unzuverlässige Leute dort. Und dann mit Weibern, das ist immer eine schwierige Sache.«

Als er meine Niedergeschlagenheit sah, versuchte er mich zu trösten.

»Eigentlich sollten Sie ja jetzt kein so dummes Essiggesicht machen, sondern sich freuen, daß Sie raus sind aus dem Loche. Das andere wird sich schon finden. Sie wird halt mit der kleinen Prinzessin zusammen eingesperrt sein. Und Hamrigula zieht doch heute schon in den Krieg!«

»In den Krieg? Also ist der Krieg erklärt?«

»Ja selbstverständlich! Die meisten Regimenter sind schon nach der Grenze. Heute oder morgen oder übermorgen geht's los.«

»Das ist furchtbar! Das ist furchtbar!«

»Sehr furchtbar! Da schlachten sie Tausende ab an einem Tage, und wenn ich mal einem einzigen ein bißchen die Knochen zerschlage, da schreit gleich alles, ich müsse abgesetzt werden, weil ich meine Amtsgewalt mißbrauche.«

»Gestatten Sie,« mischte sich Dr. Nein in die Unterhaltung, »ich bin Ihnen persönlich zu großem Dank verbunden, ich achte Sie persönlich ungeheuer hoch, ich werde Ihnen persönlich mein Leben lang dankbar ergeben sein, aber alles nur persönlich, mein Lieber! Als Parlamentarier muß ich sagen, daß Sie in der Tat abgesetzt werden müßten.«

»Was sagen Sie?« fuhr Brumbu wütend auf. »Sie sind wohl nicht gescheit?«

»Als Parlamentarier sage ich, daß die Räuberei von Amts — und Staats wegen auf jeden Fall ein ganz haarsträubender –«

Er konnte nicht vollenden, denn Brumbu hatte ihn erfaßt und hinaus ins Wasser geworfen.

Ich erschrak; aber der tapfere Parlamentarier tauchte bald wieder auf, prustete und schrie hierüber, während er Wasser trat:

»Ein ganz haarsträubender Blödsinn ist, sage ich! Ein ganz alter, mottiger, verfilzter Zopf, der endlich abgeschnitten werden muß! Ich werde bestimmt in der nächsten Session auf Ihre Absetzung dringen. Persönlich bin ich Ihnen aber sehr ergebenl«

Sprach's und schwamm nach einem der uns folgenden Boote.

 

»Schwimmen Sie wohl!« rief ich ihm lachend nach.

Dieser kleine Zwischenfall erheiterte mich. Aber die Sorge fiel mich bald wieder an.

»Brumbu, was wird nun aus uns? Ich meine, wenn der Krieg ausbricht, können wir doch nicht tatenlos zusehen. Wir müssen doch tun, was in unseren Kräften steht, dem Übel zu steuern.«

Und ich erzählte ihm alles, was ich von Hamrigula wußte. Er hörte mir andächtig zu und drückte oft in kräftigen Worten seine Meinung über den Prinzen aus.

Zuletzt aber sagte er:

»Sie können gar nichts tun! Wollen Sie nach der Stadt zurück? Sie sind nicht zwei Stunden lang frei, und dann ist es alle mit Ihnen.«

»Aber Schnaff, unser braver Schnaff hat doch auch seine Pflicht getan! Er hat doch versucht, das irregeführte Volk aufzuklären.«

Hier mischte sich Dr. Schnugu ein, der bis dahin schweigend dagesessen hatte.

»Erreicht hat Schnaff mit seinen gutgemeinten Plakaten nichts. Kaum, daß er hin und wieder einen kleinen Zweifel erweckt haben wird. Der Prinz hat sicher auch diese Plakate als eine Machenschaft seiner berühmten Helfer des Erbprinzen ausgegeben und dadurch den Volksunwillen noch geschürt. Und doch muß etwas geschehen, es muß! Hätte ich mich von Euch nicht verstümmeln, mir meinen Bart nicht abschneiden lassen, ich würde hingehen auf den Markt von Marilkaporta und –«

»Und Sie würden niemand dort treffen,« fiel Brumbu ein. »Es ist Standrecht!«

»Standrecht – ah, das wagt er? Bei uns! In unserer heiligen freien Stadt? Standrecht! Die Volksansammlungen sind verboten?«

»Ja! Wer eine öffentliche Rede hält, wird erschossen. Einer ist schon hin!«

»Wer?«

»Der älteste Wächter vom verbotenen Berge. Er ist auf den Markt gekommen, hat etwas gegen den Prinzen gesagt und ist von einer Wache erschossen worden. Die anderen Wächter der Schätze sind eingesperrt. An der Tür steht Militär.«

»Das ist nicht wahr!« schrie Schnugu. »Das läßt sich unser Volk nicht gefallen.«

»Es ist wahr! Hamrigula hat kunstvoll bewiesen, auch die Wächter seien vom Erbprinzen bestochen.«

»Das glaubt keiner!«

»Das glauben alle! In Kriegszeiten glauben die klügsten Leute die dümmsten Geschichten.«

Gegen diese Weisheit ließ sich nichts einwenden.

»Den ältesten Wächter! Einen der geehrtesten Männer des Landes! Den, der wohl etwas geahnt hat von dem Verbrechen, und den sein Gewissen in den Tod trieb! Unser Volk ist toll geworden in seiner Erregung!«

Die Mönchskutte zitterte leise. So erregt war der alte Mann, der darin steckte.

Traurig fuhren wir den Märchenfluß hinab. Das Wasser funkelte in herrlichen Farben, die Ufer glänzten von schimmerndem Gestein. Buntfarbige Sommervögel sangen zwischen den Granatblüten und den goldfarbenen Früchten der Bäume. Die kleinen Wasserkobolde trieben wie immer ihr Spiel mit silbernen Fischen und kleinen Fröschen. Stille, geheimnisvolle Wälder grüßten herüber. Auf den blauen Bergen glänzten Türme und Schlösser. Verträumte Hirtenhäuslein lagen auf den Weiden, wir aber gaben kaum acht auf all diese Herrlichkeit.

Auch als der Gesundheitssee auftauchte, wurde das Interesse kaum reger. Und doch war es der wundersamste See des Landes, durch den wir auf unserem Boote fuhren. Durch viele kleine Inseln war der See in einzelne Teile geteilt. Auf den Inseln standen weiße Tempel, aus deren Kuppeln drang bunter Rauch. Mitten aus jedem Teil des Sees sprangen donnernd riesengewaltige Fontänen bis zum Himmel empor. Wundersame, springende Brunnen! Denn ihr Wasser springt zwar zur Höhe, aber es kommt nicht zurück. In den Himmel dringt es ein. Dort wird es kunstvoll gesammelt und in tausendfach verzweigten Röhren nach den Heilquellen der Menschen geleitet. In den weißen Inseltempeln aber werden die Salze gemischt, die Säfte gekocht, die einem jeden Teile des Sees seine ureigne Heilkraft geben.

Ich fuhr nicht stumpf an diesen Wundern vorbei, o nein! Überwältigt starrte ich den aufwärts rauschenden bunten Wassersäulen nach, in deren farbigen, donnernden Wogen Gesundheit und Heil aus der Tiefe zur Höhe sprang.

Für unseren Kummer, unsere Leiden hatte aber doch der Gesundheitssee keinen Trank. –

Wir fuhren nun wohl an sechs Stunden lang. Unsere Fahrzeuge waren Motorboote bester Konstruktion. Sie glitten ruhig, schnell, elegant dahin. Ich machte eine lobende Bemerkung.

»O,« sagte Brumbu, »sie sind ganz neu. Es sind höchstens zwei Monate her, daß ich sie gestohlen habe.«

»Sie – haben sie gestohlen?« stotterte ich.

Brumbu sah mich gekränkt an.

»Natürlich! Was sonst? Glauben Sie, ich werde mich so blamieren, mir was zu kaufen? Wenn sich ein Räuber ein Boot kaufte, das wäre noch schlimmer, als wenn sich ein Jäger einen Hasen kaufte oder wenn sich ein Feldherr Gefangene kaufte oder wenn sich eine Frau einen Mann kaufte. Nein, mein Lieber, alles eigene Arbeit! Alles mit diesen zehn Fingern ehrlich zusammengestohlen.«

Ich muß sagen, daß ich mich in den Moralbegriffen dieses Mannes nicht ganz zurechtfand.

Brumbu lächelte verächtlich.

»Dr. Nein ist ein Esel,« sagte er mit Überzeugung, »er ist zu dumm, um Schafe zu hüten und ist doch ein Parlamentarier. Sie können sich leicht vorstellen, was für Unordnung werden würde, wenn die Staatsräuberei aufhörte.«

Ich sagte, so ganz klar könne ich mir das doch nicht vorstellen; er möchte es mir erklären.

»Nun, sehen Sie, Räuber müssen sein, nicht wahr? Erstens der Poesie wegen! Über mich sind schon 14l Theaterstücke, 67 Opern und über 1000 Romane gemacht. Die Gedichte kann ich nicht zählen, aber sie sind sehr schön, obwohl sie meist von Damen sind. Seit ich ein Auge verloren habe, läßt ja die Dichtkunst freilich stark nach; aber früher war es enorm. Da schickte ich jedes Jahr in den Wohltätigkeits-Damen-Bazar nach Martilkaporta eine Locke von mir, die ich immer mit einer Schere sehr kunstvoll brannte, und da konnten von meiner Locke gegen tausend arme Kinder bekleidet werden. Das ist doch eine Wohltat, mein Herr! Das wäre die eine Seite! Zweitens wirkt ein Räuber vorbildlich. Denn warum bedichten ihn die Weiber, warum versetzen sie ihren Schmuck, um seine Locke zu kaufen? Weil er das hat, was ihre Männer nicht haben – Courage! Gut, mögen sich die Schlafmützen an ihm ein Beispiel nehmen, mögen sie auch mutig, geschickt, feurig sein! Drittens, die volkswirtschaftliche Seite! In jedes Haus gehört eine Katze, hinter jeden Spiegel eine Rute, in jeden Teich ein Hecht. Wo das nicht ist, wird die ganze Geschichte faul, dumm, schläfrig, frech. Schließt Eure Bude zu abends, seht Euch um, wenn Ihr im dunkeln Walde geht, haltet Eure Sachen zusammen, haltet die Augen offen, und seid stets bereit, einem Angreifer einen Knüppel auf den Schädel zu hauen, da werdet Ihr ein tüchtigeres Volk sein, als wenn Ihr so hinlullt im dummen Frieden Eurer Gesetze. Aber, mein Herr, die Sache muß Hand und Fuß haben. Schaffen Sie die Staatsräuber ab, was wird werden? Jeder wird ein bißchen in der Räuberei herumpfuschen, und was Anständiges wird keiner leisten. Ich bin absolut gegen die Gewerbefreiheit. Sie zieht bloß die Stümper groß und bringt die ganze Kunst herunter.«

Brumbu schwieg. Ich sah diesen Mann erstaunt an und erkannte, daß sich alles auf der Welt beweisen oder doch erklären lasse. Brumbu spuckte aus.

»Dr. Nein ist in der Tat ein ganz riesiger Esel! Sonst würde er nicht solchen Unsinn faseln. Er wagt's auch nicht, einen so blödsinnigen Antrag zu stellen. Er würde nie wiedergewählt, wenn er's täte.«

In der achten Stunde unserer Fahrt erreichten wir einen Tiefpaß. Rechts und links stiegen steile, wüste Berge auf. Wir landeten und trafen mit unseren Begleitern wieder zusammen.

In einem kleinen Gehölz wurden Maultiere für uns bereitgehalten, die uns ins Gebirge hinauftrugen.

»Ich habe zwei offizielle Räuberhöhlen und zwei private,« erklärte Brumbu. »Die offiziellen Höhlen sind sonst neutraler Boden, auf dem mir kein Mensch etwas anhaben darf. Aber in diesen unordentlichen Zeiten ist ja sogar ein Räuber vor der Regierung nicht mehr sicher. Also ist es gut, daß ich meine privaten Höhlen habe, die kein Unbefugter weiß.«

Nun stiegen wir die steilen Räubersteige hinan.