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Das letzte Märchen

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Junger König

Wir wanderten tagelang. Manchmal nahm uns ein Bauer mit auf seinem Wäglein, manchmal fuhr uns ein Fischer eine Strecke stromaufwärts. Überall verteilten wir unsere Flugblätter, schickten auch Hunderte davon an bekannte Adressen in der Hauptstadt. Als wir näher an die Stadt kamen, merkten wir bereits, daß die Leute von unserer Botschaft heimlich redeten; die Wahrheit war schon durchgesickert.

So zogen wir heim, vielleicht heim in den Tod. Doch wir waren voll Mutes und unwandelbaren Entschlusses.

In einer Morgenstunde war es, als wir von einer Anhöhe aus die heilige Stadt vor uns sahen. O, wie anders erschien sie mir heut als an jenem Neujahrstag, da ich selig wie ein Kind die Hände nach ihr ausstreckte und keinen anderen Wunsch hatte, als spielen zu dürfen auf ihren Straßen mit bunten Kieseln!

Nun hatte ich neben vielem Glück und reicher Schönheit das Leid dort gefunden; nun waren Kummer, Not und Tod auch dort an mich herangetreten. Im letzten Märchen mußte der Märchenkönig sterben. Wir vier Kameraden lagerten uns müde ins grüne Gras und schauten schweigend den gekrümmten Weg entlang, der ins Tal hinunterführte und jenseits hinaufstieg zur heiligen Stadt.

Da hörten wir Rosseshufe aufschlagen. Den Bergrücken entlang kam ein Reiter in sausendem Galopp. Ein Mönch! Die braune Kapuze bedeckte seinen Kopf, die Kutte flatterte im Winde. Er mußte an uns vorüber, da wir dicht am Wege saßen.

Jetzt war er da. Ein Schrei, das Roß bäumte hoch auf, der Mönch sprang zur Erde, die Kapuze glitt ihm in den Nacken, goldene Locken fielen auf den braunen Habit –

»Juvento!«

Einen Augenblick starrten wir uns an, dann trat ein sonniges Lächeln auf seine Züge, er breitete seine Arme aus, wir sanken uns an die Brust und küßten uns mit heißen Tränen. Zwei, die für die Freundschaft bestimmt waren, hatten sich gefunden nach langer Irrung.

Dann saß er mit uns am blühenden Wegrand und hielt immerfort meine Hand. Er erzählte viel, aber alles kurz und hastig; seine Augen wanderten oft mit Ungeduld hinüber nach der heiligen Stadt.

Er hatte nicht teilgenommen an dem Bruderkriege, hatte das Friedenstestament des toten Königs heilig gehalten. Den Frieden hatte er gepredigt am Hofe seines Vaters, und als das nutzlos war, auf den Gassen und Plätzen des Volkes. Als der Krieg dennoch ausbrach, als eine starke Friedenspartei sich für ihn bildete, war er auf Betreiben seiner Regierung in Haft genommen und in einem entlegenen Schloß eingesperrt worden. Dort sollte er solange gefangen gehalten werden, bis die Sache seines Vaterlandes entschieden war.

Der goldlockige Scheitel senkte sich ihm, als er das erzählte, und seine großen Augen glänzten in Schmerz und Zorn.

»Gefangen wie ein gefährlicher Demagog! So müßig sitzen, während sich die Schicksale des Vaterlandes entschieden und des anderen Landes, das ich kaum weniger liebte! Keinen Anteil habe an der Gestaltung all dieser großen Dinge, keine Möglichkeit besitzen, für meine schweren Fehler Sühne zu leisten.«

»Ihre Fehler waren nicht so schwer, mein Prinz,«tröstete ich ihn; «keiner kam aus einem bösen Beweggrund; im letzten Grunde war alles nur verirrte Tugend.«

»Ich möchte Ihnen so gern glauben,« sagte er sanft, »eine solche Tröstung tut mir wohl nach diesen furchtbaren Tagen und Nächten einsamer Gewissensangst. Aber meine Schuld ist groß! Nur auf dem ruhigen Boden meines hochmütigen Schweigens konnte jener Bube seinen Giftsamen ausstreuen und seine Saat großziehen.«

»Weil Sie an das Vertrauen glaubten!«

»Aber von wem habe ich Vertrauen gefordert! Von Leuten, die mich gar nicht kannten, die gar kein Vertrauen zu mir haben konnten. Zum Beispiel von Ihnen! Sie haben meinetwegen viel gelitten, armer Freund.«

Das Blut stieg mir in die Wangen.

»Ich glaubte, daß Sie Angelika lieb hätten, und konnte Ihnen darum nicht lange zürnen.«

»Und ich sage Ihnen, daß ich nie an Ihre Braut auch nur einen Buchstaben geschrieben habe.«

Ich sah überrascht auf.

»Sehen Sie, es mußte Unfrieden und Mißtrauen zwischen Goldina und mich gesät werden, auch zwischen mich und Sie, der Sie ein wichtiger Mann im Lande geworden waren. Daher entstanden jene Briefe. Und ich schwieg dazu. Ihnen wollte ich mich entdecken. Wohl drei — oder viermal war ich nahe daran. Besonders damals als wir zum verbotenen Berg hinausritten. Ich brachte es doch nicht fertig. Ich dachte immer: die Unschuld muß etwas sein, das als klare, einfältige Selbstverständlichkeit vor aller Augen steht, nicht eine rätselhafte Sache, für die es eines komplizierten Beweises bedarf. Ich habe mich getäuscht.«

Mit großer Liebe sah ich ihn an.

»Weil Sie so hoch von der Unschuld dachten, sind Sie unschuldig!«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie wissen nicht, was ich gelitten habe! Sie wissen nicht, was das heißt, einen Krieg auf dem Gewissen zu haben, was das heißt, es mit sich selbst abzumachen in stiller Nacht, daß Tausende schuldloser Leute in Kampf und Not gehen, daß Tausende in Qual und Angst aus dem Schlachtfeld«e verscheiden, daß soviel Witwen schreien, soviel Kinder jammern, daß soviel Tränenkrüglein im Lande überfließen. Soviel Qual, soviel Not und Tod im Lande – und mir tat kein Finger weh!«

Er schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.

»Junger König, junger König!«

Ich konnte nichts sagen, als diese zwei Worte, die in ihrer Verbindung so viel Zwiespalt enthalten, so viel schweren Herzenskampf verbergen.

Er stand auf und schlug die Kapuze wieder über den Kopf.

»Ich muß fort!«

»Wohin wollen Sie?«

»Nach Marilkaporta.«

»Sie wollen zum Heere der Ihrigen, das dicht vor der Stadt steht?«

Er lächelte trübe.

»O nein, was würde mir das nützen? Mit großer Gefahr bin ich aus meinem Gewahrsam entflohen. Käme ich zu meinem Vater, so schickte er mich ins Gefängnis zurück. Ich will nach Marilkaporta – zu unsern Feinden.«

»Sie gehen in den Tod!«

Auch meine drei Gefährten schrien auf.

Er sich uns ernst an.

»Ja, Vielleicht in den Tod! Aber glaubt mir, Ihr Freunde, ich sterbe gern vor der zweiten Schlacht. Ich kann sie nicht überleben, denn mein Herz ist nicht ruhig in diesem Kriege. Ich stehe beständig im Gericht vor mir selbst. Ich komme zu keinem Freispruch, und ohne Freispruch kann ich nicht leben. Da will ich den höchsten Richter anrufen – Gott! Nicht die schuldlosen Völker sollen sich zerfleischen, nicht friedliche Leute, die für gar nichts verantwortlich sind, nein, die sollen den Preis zahlen mit Blut und Leben, die den Streit verursacht haben, Hamrigula und ich. Ich werde nach Marilkaporta gehen und mich zum Gotteskampfe stellen.«

Eine Pause entstand. Dann sagte ich in meiner Freunde Namen und in meinem eigenen Namen:

»Das ist recht! Wir werden mitgehen nach Marilkaporta!«

***

Wir kamen an dasselbe Tor, durch das ich zum erstenmal die heilige Stadt betreten hatte. Damals lehnte ein Kind daran und schaute mich an mit lieben Augen, so daß ich meinte, es sei wohl meine kleine Kinderseele, die mich da grüßte. Heute saß ein Mann vor dem Tor, der las in meinem Flugblatt und versteckte es scheu, als er uns gewahrte.

Die Straßen waren mit Menschen angefüllt. Kein Wunder – jenseits der Stadt, dort, wo der blaue Felsenberg auf dem die heilige Stadt erbaut ist, in ein weites Hochplateau übergeht, stand dicht vor den Mauern der Feind.

Die Leute schoben sich in breiten Zügen langsam die Straßen entlang. Im Strome völlig eingeschlossen kamen wir unerkannt bis an unseren Redaktionspalast. Ich drückte mich mit meinen Gefährten zu einer Seitentür, öffnete sie mit dem Schlüssel, den ich noch besaß, und wir traten ein.

Leise und vorsichtig schlichen wir die Treppen hinauf, da wir nicht wußten, ob das Haus besetzt sei; behutsam öffnete ich die Tür zu dem großen, prächtigen Beratungssaal. Und da mußte ich trotz aller schweren Erregung und schlimmen Bedrängnis wieder einmal laut lachen.

Auf dem prachtvollen Präsidentenstuhl saß einsam Herr Schnaff. Niemand war sonst im Saal. Aber Herr Schnaff saß so würdevoll und großartig, so überlegen lächelnd und fein beobachtend, so herausfordernd majestätisch auf dem Stuhl, als ob er eben einer großen, gewichtigen Versammlung präsidierte.

»Wir bitten ums Wort, Herr Präsident!«

Er erschrak fürchterlich, ließ mit einem lauten Aufschrei alle seine Würde fahren und war vor Bestürzung und vor Freude über unser Wiedersehen ganz außer sich.

»Was machen Sie doch hier, Herr Schnaff?«

Er sammelte sich mühsam und antwortete:

»O, seit ich den Anschlag an die Mauern gemacht habe, läßt mich Hamrigula suchen. Ein ungeheuerer Preis ist auf meinen Kopf gesetzt. Da habe ich gedacht, ein so verfolgter Redakteur ist am sichersten auf seiner Redaktion. Da sucht ihn keiner. Fünf Tage lang habe ich aber doch in der Wandelhalle für die sentimentale Anregung gesteckt. Ich bin dort schwermütig geworden, Herr Chef, und von dem stimmungsvollen, eiskalten Grabeshauch, der über den Boden weht, habe ich das Reißen bekommen.«

Die Zeit drängte, wir mußten ernsthaft mit ihm reden. Viel wußte er nicht, da er sich solange versteckt gehalten hatte, aber er konnte uns bestätigen, daß fast das ganze Volk von dem Inhalt meines Flugblattes unterrichtet war.

»Hamrigula hat keinen schlimmeren Feind, als dieses Blatt,« sagte er. »Er hat es zwar für eine geschickte Fälschung ausgegeben, aber niemand will ihm mehr recht glauben. Nur die Kriegsnot hält die Leute noch zu ihm. Morgen und übermorgen wird die Schlacht erwartet.«

Der Erbprinz drängte zur Tat, als er das hörte. Als aber Herr Schnaff erfuhr, was wir vorhatten, machte er sich aus dem Staube.

 

»Einer muß freibleiben; man kann nicht wissen, wozu es wieder gut ist,« sagte er wie damals vor unserer Verhaftung und verschwand.

Wir ließen den Mann, der kein Held, aber ein braver Kerl war, ziehen.

Nun galt es, eine gefährliche Tat zu wagen. Ein paar Minuten standen wir noch im Saale zu kurzer Besprechung. Dann öffnete ich die breite Tür zum Balkon, und ich trat hinaus mit Dr. Nein, Stimpekrex und Dr. Schnugu. Der Erbprinz blieb der Abmachung gemäß vorerst im Saale zurück.

Ein Flimmern entstand wieder vor meinen Augen, aber ich straffte meinen Willen, nahm alle Kraft zusammen und trat dicht an die Brüstung.

Ein paar Sekunden standen wir so; unter uns flutete das Volk.

Da – ein Schrei – ein zweiter – dritter –

»Da! Da oben! Auf dem Balkon! Seht! Sie sind es! Sie sind es! Sie sind es!«

Die Menge stockt, ein entsetzlicher Lärm bricht los, es tobt, brandet, rast da unten, tausend Hände zeigen auf uns; unsere Namen schlagen an unser Ohr in entsetzten Schreitönen, in gellenden Jubelrufen. So, wie wenn die Geister gestorbener Männer vor das Volk getreten wären, so starren uns die Leute an, so schreien sie vor uns, schreien in Furcht, Freude, Zweifel.

»Sie sind es! Sie sind es!«

»Sie sind nicht tot! Der Regent hat gelogen!«

»Sie sollen uns alles sagen!«

»Es lebe Dr. Nein! Es lebe Dr. Schnugu!«

»Hoch – hoch Dr. Barragu!«

»Ruhe! Ruhe! Reden!«

Es ist ja nicht möglich! Sie wollen uns alle hören, es tobt ein Kampf um die Stille – minutenlang. Da heben wir vier Männer je ein Exemplar des Flugblattes in die Höhe, zum Zeichen, daß wir uns zu seinem Inhalt bekennen.

»Ist es wahr? Ist es wahr?«

Die große, schwere Frage des Volkes an uns!

»Es ist wahr! Es ist wahr! Es ist wahr!«

Wir vier heben das Flugblatt hoch und rufen immer dasselbe Wort:

»Es ist wahr! Es ist wahr!«

Und: »Es ist wahr! Wehe, es ist wahr!» pflanzt sich's fort über den Platz, wie eine Riesenwoge schwimmt das Wort hinter die Gassen und Straßen. Da fangen viele, viele an zu weinen.

»Es ist wahr, daß wir betrogen, wahr, daß wir in Not und Schande sind!« So sagen ihre Tränen. Länger als eine Viertelstunde vergeht, ohne das wir etwas anderes als diese Worte sagen könnten. Aber es ist auch nicht mehr notwendig, das Volk weiß jetzt alles.

»Hamrigula kommt! Der Regent!«

Hoch zu Roß, begleitet von einer starken Wache, kommt der Prinz. Er weiß schon, daß wir da sind, ein Blick tödlichen Hasses trifft uns, er erhebt gebietend die Hand, um zu reden –

Da ein wilder, tausendfältiger Schrei, – dem Prinzen sinkt die Hand –

Juvento ist an die Brüstung des Balkons getreten.

Totenstille!

Kaum ein vereinzeltes, erschrecktes Lallen, ein leises Wimmern wie vor einem Rachegeist, der in die Erscheinung trat.

Und eine Stimme von furchtbarem Ernst schallt über den Platz:

»Hamrigula, ich klage dich an vor allem Volk des Königsmordes und des Völkermordes! Ich klage dich an aller Falschheit und Treulosigkeit und fordere dich heraus zum Gotteskampf!«

»Verräter! Lügner!« keucht der Prinz auf. »Lügner! – Nehmt sie – nehmt sie gefangen – bringt sie mir her –«

Nicht einer rührt sich.

»Hamrigula, wenn du den Gotteskampf nicht annimmst, bekennst du dich schuldig des Königsmordes!«

»Dringt ins Haus – nehmt sie – nehmt sie fest –«

Schweigen. Furchtbares Schweigen.

»So hört ihr mich, Bürger, ihr Kinder meines geliebten, toten Oheims! Keine Feindschaft ist zwischen euch und mir. Frieden will ich, Frieden! Ihr sollt nicht bluten und sterben, ihr schuldlosen Brüder. Ich werde sterben oder Hamrigula, und Gott wird richten, der die Wahrheit kennt. Wenn Hamrigula schuldlos ist, soll er mit mir kämpfen.«

»Er soll kämpfen! Er soll kämpfen!«

Wie ein furchtbarer Volksbefehl braust es über den Platz. Hamrigula hebt sich im Bügel.

»Ihr Soldaten, ich befehle euch, nehmt diese da gefangen!«

»Nein! Nein! Kämpfen! Gotteskampf! Gotteskampf! Er ist Schuldig! Schuldig! O Schande!«

Ein Gebrüll der Wut, der Empörung, der Verzweiflung. Ein wahnwitzig erregtes, schreiendes, ein weinendes, verzweifelndes Volk.

»Schande! Schande! Schande!«

Die Bürger dringen nach unserem Hause, uns zu schützen, andere wenden sich gegen den Prinzen. Da richtet er sich in dieser höchsten Not, da alles unter ihm zusammen bricht, noch einmal hoch auf:

»Halt! Ich werde kämpfen! Ich werde siegen! Ich werde ihn erschlagen!«

***

Die sechste Abendstunde, die Stunde des Kampfes. Der fremde König hat seinem Sohne den Kampf gestatten müssen; er hätte ihn sonst nicht wiedergesehen. Und es galt, die Reinheit der eigenen Sache zu erweisen.

Ich bin bis zur Brücke des Lebens und des Todes vorgedrungen. Jenseits hält das Militär den Weg versperrt. Der Kampf findet dicht vor der Mauer statt.

Volk! Volk ringsum! Sie zittern alle, und ich sehe, daß alte Männer sich mit welken Händen die weißen Haare zerwühlen.

Sie sind alle in furchtbarer Angst vor der drohenden Schande.

Die Königsglocke schlägt. Nun hat draußen der Kampf begonnen. Ich lehne an der Brücke und starre das düstere Felsentor, hinter dem die Schiffe der Toten ankern.

»Toter König, sie kämpfen um deine Krone!«

Und alsbald wird mir eine Antwort auf diesen stillen Gedanken. Eine Kunde bricht sich Bahn durch die Reihen der Krieger und Bürger:

»Hamrigula ist in den verbotenen Berg gedrungen und hat sich die heilige Krone aufs Haupt gesetzt. In der Zauberkraft der Krone ficht er gegen den barhäuptigen Gegner.«

O, dieses Wehegeschrei, diese furchtbare Klage des Volkes über diese neue Schmach!

»Der Erbprinz wird fallen; die Krone wirkt Wunder!«

Sie stocken alle, sie wissen nichts zu sagen. Keiner auch kann sich rühren in der dichten Menge.

»Der Erbprinz wird fallen!«

Mit brennenden Augen schaue ich nach dem Felsentor.

Da – sehe ich etwas sich bewegen – dort– dort drinnen im blauen Nebeltor.

Ich möchte schreien – aber meine Stimme ist tot –

Meine Augen sind irre. Sind sie irre?

Nein, sie sehen es wirklich – wirklich – dort!

Jetzt sieht es auch das Volk, jetzt schreit es so laut.

Auf einer Totengondel kommt aus dem Felsentore der alte König gefahren. Stromauf, stromauf lenkt er, durch die Brücke hindurch, stromauf in den Fluß des Lebens.

Das grüne Wasser schaukelt den Kahn des Toten. Jetzt wendet die Gondel, jetzt schaut der König mit weiten, starren Augen sein Volk an.

Schaut es an wie das Gewissen, das aus dem Totenreich ins Leben tritt.

Alles Volk sinkt auf die Kniee. Es war ein großes, heiliges Schweigen, und nur die schweren Atemzüge gehen wie der bebende Wind im stillen Wald.

Ein weißes Strahlen geht aus von dem König, der unbeweglich in seiner Gondel sitzt und die großen Augen nach dem einen Wege gerichtet hält, als ob er warte.

Ein schriller Schrei ertönte draußen vor der Mauer und pflanzte sich fort durch die Reihen der Soldaten.

»Wehe, er flieht!«

Ein Roß kommt donnernd angestürmt. Hamrigula sitzt darauf. Sein Gesicht ist geisterbleich. Wut rinnt ihm über die Wange. Die goldene Krone glänzt auf seinem Haupt, aber der Reif ist ihm zu weit. Tiefeingesunken sitzt die Krone dicht über seinen lodernden Augen.

Die Brücke kommt. Das Roß bäumt auf. Ein Blick fliegt hinab auf den Strom. Der König und der Prinz starren sich eine furchtbare Sekunde lang in die Augen.

Ein wahnsinniges grauenhaftes Aufgurgeln! Der Prinz stürzt in weitem Bogen hinunter ins Wasser. Im Fallen fliegt ihm die Krone vom Kopfe. Sie fällt dem toten König in die Hände.

Der Körper des Prinzen ragt halb aus dem Wasser. Schreiend, lallend, mit ausgestreckten Armen, mit glühenden Augen blickt er auf den Strom des Lebens. Der nimmt mit starker Welle den Verzweifelnden und reißt ihn nach dem Felsentore – den Lebenden unter die Toten, den Schreienden unter die Stillen. Und der König, der wie das richtende Gewissen thront, sieht zu.

***

Droben kommt wieder ein Reiter gesprengt – Juvento. Seine blonden Haare flattern, Siegesseligkeit strahlt aus seinen Augen.

Aber auch sein Roß bäumt sich auf, auch sein Auge erstarrt, als er den König sieht.

Er springt vom Pferde und schaut zitternd hinunter auf den Fluß.

Da gleitet die Gondel an den Rand des Stromes – und der Blick des Königs richtet sich gebietend auf den Jüngling.

Juvento zieht seine Schuhe aus und geht barfüßig, mit gesenktem Haupte hinab an den Fluß.

Demütig kniet er am Ufer nieder. Und als er die Krone in des Königs Händen sieht, versteht er dessen Willen.

Scheu nimmt er die Krone, küßt sie und hält sie in den Händen ehrfürchtig an seiner Brust.

»Wenn es der Wille des Volkes ist, werde ich sie in Ehren tragen!« sagte er mit zitternder Stimme.

Da stößt die Gondel vom Ufer ab und fährt schnell nach dem dunkeln Tore zurück.

Des letzten Märchens Ende

Da feierte der junge Königssohn Hochzeit mit der schönen Königstochter.

An diesem Tage war für Angelika und mich die Zeit gekommen, das Märchenland zu verlassen.

Ein neuer König – eine neue Zeit! Wohl eine glückliche Zeit! Aber wir zwei Fremdlinge waren nur zu Gaste und mußten nun wieder heim in unser Leben. So stand es geschrieben im Gesetzbuch des Märchenlandes und auch im Gesetz der eigenen Brust.

Sage nicht viel vom Abschiednehmen, mein kleines Buch! Siehe, es tut weh – dem Kinde und dem Manne.

In lichtem Glücke sind die Wochen vergangen, seit der frohen Stunde, da ich nach Gefahr und Not die Geliebte wiederfand, vergönnt ist es mir gewesen, dem Lande, das mir so viel gastliche Liebe erwies, die Wunden heilen zu helfen, die ihm geschlagen waren; vergönnt, dem reuigen, uuglücklichen Volke tröstliche Worte zu sagen; vergönnt, die Versöhnung und völlige Einigung der beiden Völker mitzuerleben.

Und alle, die ich geliebt hatte, waren glücklich. Sage nur Liebes vom Abschiednehmen, mein kleines Buch! Wie der junge König im strahlenden Herrscherkleide neben Goldina, seiner lieblichen Braut, stand, das sage! Draußen vor dem Palaste wogte schon in stürmischer Festtagsfreude das glückliche Volk. Aber meine Braut und ich waren mit dem jungen Königspaar ganz allein im hohen Saal. Sie küßten uns beide auf Stirn und Augen.

Und der junge König sprach:

»Eure Namen bleiben verzeichnet unter den Namen der Kinder unseres Landes. All unserer Güter seid ihr Erben, solange eure Liebe unserem Land und Volke bleibt. Das Märchenland ist treu jenen, die ihm Treue halten. Wir sind nicht geschieden von einander. Das dünne Krümlein Erde, das uns trennt, hat tausend Öffnungen und Wegemündungen. Schickt nur eurer Sehnsucht Boten, wenn euch bange ist nach uns. Wir werden zu euch sprechen, wenn ihr einsam am Tische sitzt und in das knisternde Lampenlicht träumt, wir werden neben euch sitzen im stillen, verschwiegenen Tal, und unsere Sängerlein werden euch Lieder spielen, wenn ihr mit geschlossenen Augen im hohen Grase liegt. Im Dämmerschein, wenn das Kaminfeuer leuchtet, werden unsere Geister auf eurer Diele tanzen. In duftigen Frühlingsnächten, wenn der Mondschein auf euern Wiesen liegt und ihr hinaustraumt in das Silberlicht, werdet ihr uns Feste feiern sehen. Wir werden euch Freuden und Reichtümer schenken, die keines Menschen Mühe noch Klugheit erwirbt, selbst wenn ihr alt werdet, werden wir nicht vergessen, in euren Augen alle Tage junge Lichter zu entzünden. Behaltet uns nur lieb! Behaltet nur eure Herzen jung und warm!«

So sprach der König.

Eine Stunde später sah ich das Königspaar auf goldenem Thron sitzen, mitten auf dem Marktplatz von Marilkaporta. Eine zweifache Krone schmückte ihre jungen Häupter, und die Vertreter beider Länder knieten huldigend vor ihnen. Das große Einigungswerk war vollbracht. Juventos Vater hatte dem Sohne die eigene Krone zu der im Gotteskampf errungenen geschenkt. Nun war wieder ein Land, ein Volk, ein König.

So waren die, die in der Schlacht gefallen waren, nicht umsonst gestorben.

O, das geschmückte, glückliche Volk! Rosenpracht und Märchenherrlichkett, Schönheit und Wohlklang an allen Enden! In Licht und Verklärung stand das junge Paar und hörte das brausende Lied der Treue, das ihm die Völker sangen.

»Mit diesem lichten Bilde im Herzen wollen wir scheiden,« sagte ich zu der Geliebten.

 

Und ich nahm sie an der Hand und verließ mit ihr die heilige Stadt.

***

Wir standen auf einem hohen Berge, demselben Berge, von dem wir im Frühling unsere kurze Reise nach dem Menschenlande angetreten hatten.

Allein wir zwei.

»Kannst du sie noch sehen?« fragte Angelika.

Ich nickte.

Den Bergweg hinunter stiegen vier Männer: Dr. Nein, Stimpekrex, Dr. Schnugu und Schnaff, und drüben auf einem halsbrecherischen Felsenpfade kletterte Brumbu, der Räuber.

Alle kaum noch erkennbar.

Hier oben bei uns waren sie gewesen, hatten uns zum Abschied begleitet.

Stimpekrex war glücklich. Noch wenige Wochen, und er würde seine Braut Elkaguntascha heimführen. Das Scheiden wurde ihm aber doch schwer.

»Ich wünschte, daß mir wieder einmal ein Auftrag würde, Sie zu uns herabzuholen,« sagte er bewegt.

»Und ich wünschte, daß das Gesetz, nach dem jeder, auch der allerverdienstlichste Ausländer nach einem Jahr bei uns zum Lande hinauskomplimentiert wird, der Teufel hole. Es ist unter den vielen blödsinnigen Gesetzen, die wir haben, das blödsinnigste.«

Der Mann, der also zornig redete, war Dr. Nein.

»Verehrter Herr Doktor,« sagte ich, »Sie werden als mein Nachfolger die ›Zeitung‹ sehr gut leiten.«

»Nein, das werde ich nicht, sondern ich werde meine Sache so jämmerlich machen (absichtlich oder unabsichtlich, ist meine Sache!), also ich werde die ›Zeitung‹ so hundsmiserabel redigieren, so in Grund und Boden hineinredigieren, daß Sie bestimmt zur Hilfe gerufen werden müssen. Noch mehr! Ich werde ein neues Gesetz machen, daß Sie einfach wieder herunter müssen, zwangsweise herunter müssen, ich werde dies Gesetz machen, und wenn ich das ganze Parlament in den Verfolgungswahnsinn hineinreden müßte.«

Herr Schnaff war in viel gehobenerer Stimmung. Da der ehrlose Redakteur der »Posaune« spurlos verschwunden war, hatte Herr Schnaff die Chefredakteurstelle dieses Blattes erhalten. Er kam auch jetzt wieder darauf zu sprechen und sagte am Schluß:

»Ich hoffe, daß ich meine Sache machen werde! Mein Programm ist kurz, aber gut: Anständige Sensation.«

Darauf fing Dr. Nein an zu schimpfen. Er schimpfte auf Herrn Schnaff und die »Posaune« im allgemeinen und auf die »anständige Sensation« im besonderen, er schimpfte über die Gesetze, über den schlechten Weg, über das Wetter, über sich selbst. Er war in einer unseligen Laune.

Auch Brumbu, der Räuberchef, war melancholisch. Er machte schnell noch einige photographische Aufnahmen von mir und vermaß sich, mir je einen Abzug zu versprechen. Er wollte mir die Bilder selbst »hinaufbringen». Nächstes Frühjahr, wenn der Maikäferaustrieb sei, wolle er sich den Hirten anschließen. Dann habe er Zeit.

»Denn,« sagte er, ,ich habe die Räuberei satt. Nächsten l. April erreiche ich die Höchstpension, und da schnapp ich. Bin ich dann a.D., dann kann ich machen, was ich will, und kann Sie besuchen. Ich bin dann nicht mehr verpflichtet, Ihnen was zu stehlen, und das wird Ihnen ja auch angenehm sein.«

Dem alten Walddoktor Schnugu ging mein Abschied wohl am meisten nahe.

»Wenn Sie ans Märchenland zurückdenken,» sagte er, »dann rechnen Sie mich zu den Toten.«

Ich widersprach ihm liebevoll, aber er sagte:

»Meine Zeit ist aus! Bald werden die Leute über den alten Dr. Eisenbart lachen. Eine neue Zeit, eine neue Kunst! Hoffen wir, eine bessere Zeit, eine bessere Kunst! Möchten aber immer neben den Elfen auch die Füchse, neben den Königskindern auch die armen Waldschrate ihr Heil finden.«

»Kannst du sie noch sehen?« fragte Angelika abermals.

Und wieder schaute ich den Weg hinab, wo die Freunde gingen.

»Noch zwei – noch einen – jetzt keinen mehr! Nun sind wir allein!«

Wir sahen uns an, und die Augen gingen uns über. Wir streckten die Arme aus, den Freunden nach und schlugen dann die Hände vors Gesicht, wir weinten beide bitterlich.

Als wir aufschauten, sank eine sonnenhell strahlende Gondel vom Himmel herab.

»Es ist Zeit. Angelika! Komm!«

Noch ein Blick über das geliebte, wunderbare Land, dann stiegen wir in die Gondel.

Als sie langsam zur Höhe fuhr, fingen die Glocken im Lande an zu läuten, die silbernen Glocken, und am Himmel über der goldenen Stadt erschien eine flammende Schrift:

»Seid gesegnet! Bleibt jung! Bleibt unser!«

Nach dieser Schrift schauten wir voll Andacht und heiligen Entschlusses während dieser letzten Augenblicke im Märchenland.

Die Nacht lag auf der Erde, ein rauher Wind fuhr übers Feld, weiß glänzte der Schnee.

Wir standen auf dem kleinen Mühlenberg bei meinem Heimatsdorf.

Die Mühle regte ihre Riesenarme gespenstisch in der schwarzen Luft und ächzte und stöhnte wie ein Sklave in harter Fron.

»Brot! Brot! Brot! Brot!« So schrie sie über die leeren Felder, und der Leib zitterte ihr in der maßlosen Anstrengung.

Ein Wagen knarrte die Landstraße herauf, die über den Mühlenberg hinüber zur Stadt führt. Wie ein wandelndes, schreckliches Ungeheuer kam er näher durch die Nacht.

Ein Mann saß darin, der schrie den Kutscher an:

»Fahr zu, Johann, hau auf die Pferde ein! Wir müssen den Doktor bringen, sonst stirbt mir die Frau! Meine Frau, die erst dreißig Jahr ist.«

Hunger und Tod, leere Felder und kalter Wind!

Da froren wir armen Zwerglein bis tief ins Herz, das Heimweh packte uns nach der goldenen Stadt, und wir weinten.

Die Geliebte faßte mich am Arm.

»Wir sind fremd geworden in diesem Lande, wir finden uns nicht mehr zurecht in dieser rauhen Wirklichkeit.«

Aber siehe, da fingen die Sterne über uns an goldener zu strahlen, und drüben über den blauen Berg lugte schelmisch der Mond und lachte uns an, als wollte er sagen:

»Morgen scheint die Sonne! Was steht ihr so scheu, was fürchtet ihr euch, ihr törichten Kinder, da ihr doch nach Hause kommt?«

O, wer nach langer Zeit nach Hause kommt, der lst immer scheu, und das Herz ist ihm still, und er kann nicht jubeln. Und wir waren so weit fort.

»Sie werden uns nicht verstehen,« sagte Angelika; »wir werden ihnen nicht sagen können, wo wir waren.«

Ich tröstete sie.

»Die Besten werden uns verstehen! Ihre Namen sind ja auch eingeschrieben im goldenen Buch von Marilkaporta.«

Eine Glocke schlug. Ein jäher Schreck faßte mich an.

»Schließ die Augen. Geliebte! Schließ schnell die Augen!«

Mit geschlossenen Augen hörten wir die Glocke das Neujahr schlagen.

Langsam – eins – zwei – drei – vier – – –

Bei jedem Schlage fühlte ich, wie ich wuchs, wuchs, wie ich wieder ein Mensch wurde.

»Elf – Zwölf!–«

Ich öffnete die Augen.

Ein Schrei – ein zweiter!

Zwei großgewachsene Menschen standen sich gegenüber.

Ich sah eine schlanke, liebliche Mädchengestalt.

Eine Fremde!

Ich sah an mir hinunter, betastete scheu meine gewaltigen Glieder. Ein Riese war ich geworden. Ich trug wieder die alten Kleider.

Aber auch Angelika war eine andere, eine ganz andere! Auch sie kannte mich nicht.

Zitternd standen wir uns gegenüber.

»Zeige mir deine Augen!« rief ich.

Erbebend trat sie näher.

Zwei süße, dunkle Augensterne wandten sich mir zu, eine reine Kinderseele grüßte mich aus diesen Augen, eine liebe, wohlbekannte Seele.

»Du bist es, Geliebte!«

Und ich schloß sie in meine Arme.

Hand in Hand stiegen wir ins Dorf hinab. Manchmal schauten wir uns scheu von der Seite an, und dann schmiegten wir uns dichter aneinander.

Die sich im Märchenlande trafen und liebten, die lieben sich auch im Leben.

In der Kerkernacht, in der ich meinen Tod erwartete, hatte ich einen Traum. Es fing um mich ein großes Strahlen an in einer weißen Welt. Es war ein Glanz und ein Leuchten um mich, und mein Fuß ging wie auf weichen Wolken. Neben mir schritt Angelika. Wir führten uns an den Händen und sprachen kein Wort.

Wohin gehen wir – wohin? So fragte ich damals.

Jetzt war des Traumes Erfüllung da, und ich wußte, wohin wir gingen.

Durch eine mondhelle, sternglänzende Neujahrsnacht gingen wir über eine beschneite Aue hin zu meinem kleinen Vaterhause.

»Wacht auf, Vater und Mutter, wacht auf, eure Kinder sind da!«

Und sie öffneten die Tür, und wir waren alle glücklich.

 
Das ist des letzten Märchens Ende.
Der es erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.
Und euch allen bleibe das Herz warm!
Lebt wohl!
 

— Ende —