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Das letzte Märchen

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Märgi loetuks
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Die Liebe

 
Weiß wie Schnee!
Rot wie Blut!
Schwarz wie Ebenholz!
 

Die Melodie dieser Worte ging mir durch die Seele, immer, immerfort.

Ich glaubte wohl, das Wunder sei schuld daran, das ich sah, glaubte die Melodie, die mir einst im Kinderohr geklungen, halle mir nun wie ein spätes Echo durch die Seele.

Glaubte anfangs, es sei alles nur ein Erinnern.

Aber beim Erinnern ist Friede!

Und in mir lebte der Wunsch.

Der brennende Wunsch, die eine wiederzusehen, immer wiederzusehen, die mir die selig-unselige Melodie im Herzen erweckt hatte, die mir mit quälender Wonne den Frieden scheuchte bei Tag und bei Nacht.

 
Weiß wie Schnee!
Rot wie Blut!
Schwarz wie Ebenholz!
 

Ich ging hinaus in den Märchenwald, setzte mich unter einen großen Baum und stützte das Haupt auf die Hände.

Ein Vermächtnis war mir geworden; das tote Zwerglein hatte mir seine zehrende Schneewittchensehnsucht vererbt.

So saß ich junges Menschenkind im Märchenwalde und träumte, wußte nichts von Himmel und Welt. Nur ein süßer Duft war rings umher, ein müder, seliger Duft.

Ich wußte nicht, von wannen dieser Duft kam. Saß da im Walde mit schlafenden Sinnen. Hielt alles für einen fremden Sehnsuchtshauch und war nun ganz in der Fremde, war wie ein Kind, das sich verlaufen hat in einem blühenden Königsgarten, – so scheu und so glücklich, so unwissend und so voll Staunen und Bangigkeit.

Es kam eine lange Prozession daher mit blinkenden Lichtern. Leuchtkäfer gingen durchs hohe, bebende Gras. Und wie sie zu mir kamen, teilte sich die Reihe, sie gingen zur Rechten und zur Linken und nahmen Aufstellung im Kreise.

Als ich das ansah, war es wie ein großer, goldener Ring, der sich um mich geschlossen hatte.

Dann kamen kleine Waldmädchen gegangen, viele hundert. Sie hielten Zweige in den Händen mit zarten Blättern und noch zarteren, weißen Blüten. Als sie zu mir kamen, teilte sich abermals die Reihe, sie gingen zur Rechten und Linken und nahmen jenseits des leuchtenden Ringes Aufstellung im Kreise.

Als ich das ansah, war es ein großer, blühender Myrtenkranz.

Und hundert und aberhundert andere Waldmädchen kamen, die trugen blütenweiße Schleier in ihren Händen, wehende weiße Brautschleier.

Dann die große Schar der Spielleute im Märchenwald. Wer kennt alle die feinen Geigerlein, die Männlein, die auf Grasflöten blasen, die Mädchen, die Laubblätter zwischen den Lippen haben und zirpen wie die Grillen, die Blumengeister alle, die läuten und singen, flüstern und kosen?

Eine Sängerschar kam von lauter kleinen Elfenkindern, die sangen jubelnd immer den einen Namen:

»Angelika! Angelika!«

Und Kobolde drangen herbei, zeigten ihre Künste und banden mir Hände und Füße mit einer Girlande von Rosen.

Ich sank zurück ins Gras und schloß lächelnd die Augen.

Nun wußte ich, woher dieser süße, müde Duft kam.

Die Göttin der Liebe stand hinter mir, die rosenduftig Göttin der Liebe.

Lockend und lachend klang um mich das große Liebeslied des Märchenwaldes. Aber die Augen blieben mir geschlossen, ob ich auch hörte, daß tausend flinke, zierliche Jungfräulein sich um mich schwangen im Tanze. Die Sehnsucht meiner Seele schwieg nicht still bei diesen Wundern. Ein größeres Glück suchte sie, noch ein größeres Wunder.

Da kam ein milder Traum.

Versunken Märchenwald und goldene Stadt, verklungen das Lied der Elfen!

Ein kleines Haus sehe ich im Traum, droben auf der Welt. Ganz allein, ganz heimlich liegt es mitten im Wald. Nur Hirsch und Reh kommen zum Besuch. Vor den Fenstern blühen rote, einfache Blumen. Und drinnen in trauter Häuslichkeit waltet mein Glück:

 
Weiß wie Schnee!
Rot wie Blut!
Schwarz wie Ebenholz!
 

Beim Walddoktor

Eines Tages begegnete mir der Waldarzt Dr. Schnugu und lud mich ein, ihn zu besuchen. Aber ich solle seinen Neffen Stimpekrex nicht mitbringen, sagte er, denn er könne den kindischen Kerl nicht leiden.

»Er hat mich gestern aus dem Hause« geworfen,« sagte mir Stimpekrex lachend, als ich ihm die Begegnung mit seinem Oheim erzählte. »Ich gehe jetzt acht Tage lang nicht zu ihm; dann läßt er mich holen.«

So machte ich mich allein auf den Weg zu Dr. Schnugu, und der alte Wegzeiger im Märchenwald wies mich zurecht. Ein sehr niedriges Holzhäuslein fand ich, auf dessen schrägem Dach das Moos wucherte. Rings um das Häuslein war ein Garten voller Kräuter, die ich nicht kannte. Der Zaun war verfallen, auch die Schutzwände eines alten Ziehbrunnens waren niedergebrochen. Melancholisch baumelte ein uralter Eimer über dem Wasserschachte. Die Häustür hing nur noch in einer Angel, die meisten Fensterscheiben waren zerschlagen, oder sie waren schmutzig und von Spinnweben bedeckt. Das ganze Anwesen hatte etwas Hexenhaftes, Vernachlässigtes. Dr. Schnugu empfing mich etwas knurrig. Er erlaube sonst nie während der Sprechstund« einen privaten Besuch, sagte er. Aber bei mir sei es etwas anderes. Ich solle in der »Zeitung« die Leute über manche Dinge belehren und müsse daher meine Studien machen. Ins Sprechzimmer dürfe ich nicht, aber ich könne mir's in seinem Privatzimmer bequem machen und durch das Guckloch schauen.

Das »Privatzimmer« war eine Höhle, in der sich ein invalider Tisch, ein maroder Stuhl und eine trostlose Holzpritsche in die Ehre des Mobiliars teilten.

»Lasciate ogni speranza voi ch'entrate!«

Dies Wort, das der große Dante über die Tür seiner »Hölle« schrieb, hatte hier ein Witzbold mit Bleistift an die Tür von Dr. Schnugus »Privatzimmer« geschrieben.

Der Walddoktor machte ein grimmiges Gesicht, als er sah, daß ich es las.

»Verstehen Sie das?« fragte er lauernd.

Ich nickte.

»Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung draußen!« übersetzte ich.

Da wurde er puterrot im Gesicht.

»Das hat Stimpekrex angeschrieben – der Schweinigel! Er wollte es auch an meinem Sprechzimmer anschreiben, aber da –«

Er machte eine wilde Geberde und ging nach dem Nebenzimmer.

Ich schaute durchs Guckloch. Das »Sprechzimmer« war ein großer Raum, in dem sich eine Anzahl von Schränken und Flaschen, Düten und Schachteln befand. Im übrigen auch nur ein Tisch und ein Stuhl, die denen des »Privatzimmers« brüderlich ähnelten.

»Der nächste Patient!« schrie Dr. Schnugu nach dem Wartezimmer hin.

Ein fetter Maulwurf wackelte ins Zimmer. Er schien asthmatisch zu sein, denn er blieb immer nach drei Schritten stehen und ächzte und stöhnt« sehr jämmerlich.

»Ach – ach – ach, Herr Doktor –«

»Wo steckt's?«

»Im – im Bauch«! Ich – ich bin gewiß vergiftet und muß sterben.«

»Zeigen!«

Der Doktor fiel über den Patienten her, warf ihn mit einem Ruck auf den Rücken und drückte und knetete ihm den Bauch, daß der Schwarzrock zum Steinerweichen stöhnte.

»Überfressen!« stellte Dr. Schnugu nach der Untersuchung die Diagnose, »Vollständig überfressen! Wenn das so weiter geht, mein Lieber, sind Sie eines schönen Tages krepiert. Schmählich krepiert! Fressen Sie an einem Tage höchstens zweimal soviel, als Sie selber schwer sind! Nicht mehr! Oder der Teufel holt Sie! Und jetzt werden Sie die nächsten Tage nichts als Rhabarber fressen – verstanden? Dann wird's wieder gehen! Marsch!«

Der Maulwurf wandte ein, daß er eine so schwere Kur nicht aushalten würde und wurde daraufhin hinausgeworfen.

»Nächster Patient!«

Ein Füchslein spazierte herein. Es trug einen prächtigen, buschigen Fuchsschwanz zwischen den Zähnen und ließ ihn vor Dr. Schnugu niederfallen.

»Ich bin in eine Falle geraten,« sagte der Rotrock betrübt, »und hab ihn mir abgerissen. Mach ihn wieder an!«

Dr. Schnugu hob den Fuchsschwanz auf, hieb ihn dem Besitzer ein paarmal um die Ohren und zündete dann unter einem Kessel, auf dem »Lebensleim« geschrieben stand, Feuer an. In den erhitzten Lebensleim tunkte er den Fuchsschwanz und befestigte ihn darauf mit einem geschickten Handgriff an seinem alten Platz. Der Fuchs machte einen schmerzlichen Satz bis an die Decke des Zimmers und war, ohne erst »Danke!« zu sagen, binnen drei Sekunden mit seiner angeleimten Leibeszier verschwunden. Draußen hörte ich ihn noch einige Male mit großem Geheule um das Haus rasen

»Der Nächste!«

Eine Frau trat ins Zimmer. Es war eine Elfe. Ich erkannte das an den grünlichen Augen und den bläulich schimmernden Haaren.

Die Elfe trug ein süßes, kleines Mädchen auf dem Arm.

»Es hat sich ein Füßchen vertreten, als es tanzte,« sagte die Mutter traurig.

»O, o, ein Füßchen vertreten,« klagte der Doktor. »Ein armes, süßes Füßchen!«

Er war plötzlich wie umgewandelt. Eine große Freundlichkeit war über ihn gekommen, und er versuchte sogar, ganz fein und mild zu sprechen, was allerdings mißlang, da ihm die Stimme überschnappte.

»Ein armes, gutes Füßchen,« wiederholte er. »Wird der Onkel Doktor heilen, wird er ganz gut heilen! Wird gar nicht wehe tun! Gar nicht wehtun, du liebes Kindchen!«

Und er kitzelte die Kleine freundlich am Kinn. Das Elfenkind aber fürchtete sich vor dem bärtigen, häßlichen Gesicht, verzog das Mäulchen und fing an zu weinen.

»Aber süßes Kindchen wird doch nicht weinen! Wird doch nicht weinen, Goldherzchen! Ist ja der gute Onkel Doktor! Sie doch, Herzchen, sieh doch!«

Und Dr. Schnugu fing an zu pfeifen und von einem Fuß auf den andern zu hüpfen, wobei er mit den Armen schlug wie ein Hampelmann.

 

Davor fürchtete sich das Elfenkind noch mehr und fing ein entsetztes Geschrei an. Und ich bestätige, daß es wirklich sehr schrecklich aussah, wie Dr. Schnugu tanzte.

»Machen wir schnell, liebe Frau! O, es ist furchtbar, einem so lieben Ding wehtun zu müssen.«

Und er faßte den zierlichen Fuß, holte noch einmal tief Atem, ein paar Griffe, ein Schrei und alles war fertig.

»Nun noch einen Verband, dann ist's gut!«

Als er fertig war, ging eine tiefe Traurigkeit über sein Gesicht.

»Es wird nicht lange mehr dauern, dann laufen die Kinder fort, wenn ich durch den Wald gehe, und rufen mir nach: »Der Schinder«!«

Die schöne Elfenfrau schüttelte die dunkeln Locken.

»O nein, alle haben den Dr. Schnugu gern, die Kleinen und die Großen.«

Und sie ging auf den Arzt zu und küßte ihn auf den Mund.

»Ich danke,« sagts sie und ging.

Dr. Schnugu stand wie die steinerne Bildsäule eines Waldgötzen. Er war wie erstarrt. Minutenlang stand er so, ohne sich zu regen; nur zweimal leckte er sich mit der Zunge kurz über die Lippen. Aber dann warf er einen verdrossenen Blick auf mein Guckloch, legte seine Stirn wieder in grimme Falten und schrie mit seiner allerbarschesten Stimme:

»Der nächste Patient!«

Eine junge Ratte kam sehr zierlichen Ganges hereingetänzelt. Sie klagte über Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, Ohrensausen, Müdigkeit und sehr große, geistige Niedergeschlagenheit.

»Fräulein, zeigen Sie Ihr Zahnfleisch!« sagte Dr. Schnugu.

Das »Fräulein« hob verschämt ein wenig die Oberlippe, und Dr. Schnugu sagte:

»Sie haben die Bleichsucht, hochgradig die Bleichsucht! Viel frische Luft und gute Kost, das ist alles, was ich Ihnen anraten kann, wo wohnen Ihre Eltern?«

»Ach, sie wohnen bei einem Fleischer. Aber es geht dort so gewöhnlich zu. Da hab ich mich separiert und bin zu einem Professor gezogen. Ich bin so mehr fürs Gebildete.«

»So?! Und was haben Sie bei dem Professor für Kost?«

»Ach,« sagte die Ratte, »ich habe seit drei Monaten nichts anderes mehr gegessen als Pergamentblätter.«

Dr. Schnugu machte einen Luftsprung.

»Pergamentblätter! Urkunden! Vielleicht unersetzliche Urkunden! Die fressen Sie?«

Das Fräulein nickte bescheiden.

Dr. Schnugu raste im Zimmer auf und ab.

»Fräulein, Sie – Sie – Sie sind eine Gans!«

»Nein, eine Ratte!« sagte die junge Dame.

Da blieb der Doktor stehen, bohrte die Hände tief in die Taschen und stieß ein fürchterliches Gegrunze aus. Dann beruhigte er sich.

»Ich werd' Ihnen mal was sagen! Eigentlich müßte Ihnen das Leder – – doch nein, das will ich nicht sagen! Ich will Ihnen sagen: Wenn Sie von einem Pergamentblatte nur noch eine einzige Ecke abbeißen, sind Sie hin! Hin, sage ich! Tot! Mausetot! Und alle Schnugus der Welt können Ihnen nicht mehr helfen. Ziehen Sie augenblicklich bei dem Professor aus! Zurück zu Ihren Eltern! Zum Fleischer! In gesunde Verthältnisse! Oder es ist alle mit Ihnen!«

Das Fräulein fing ein wenig an zu weinen, versprach aber zu folgen, machte einen zimperlichen Knix und ging.

»Nächster!«

Ein einäugiger, verwildert aussehender Mann erschien, der mir bekannt vorkam.

»Heißen?«

»Brumbu!«

»Stand und Gewerbe?«

»Räuber!«

»Ah ja, wirklich Brumbu, – richtig, richtig! Haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen, Wo steckt's denn?«

»Ich hab mir ein bißchen den linken Arm gequetscht.«

Dr. Schnugu untersuchte den Patienten.

»Nein, Freundchen, nicht gequetscht, sondern gebrochen. Sogar zweimal gebrochen! Wie ist Ihnen denn das passiert?«

»Ich wollte gestern abend bei Ihnen einbrechen, da fiel ich vom Dache, und da hab ich ihn mir gequetscht, Denn Ihr Dach ist sehr schlecht, Herr Doktor.«

Schnugu war sehr überrascht.

»Bei mir wollten Sie einbrechen, Brumbu?« fragte er betroffen. »Erlauben Sie, da muß ich mal Ihren Kopf untersuchen, denn da müssen Sie doch eigentlich verrückt sein.«

Der Räuber schüttelte das Haupt.

»Nein,« sagte er treuherzig, »verrückt bin ich nicht. Ich hatte mir bloß den Magen verdorben, und da wollte ich mir eine Flasche Medizin stehlen.«

Dr. Schnugu stieß einen schrillen Quieker aus.

»Eine Flasche Medizin! Eine Flasche Medizin! Und dann wohl die Flasche aufs Geratewohl aussaufen – was?! Brumbu! Kerl! Dämlack! Wenn Sie nun eine falsche Flasche erwischt hätten! Eine giftige Flasche! Dreiviertel aller meiner Flaschen sind giftig! Ums leben hätten Sie kommen können! Ums Leben hätten Sie ja kommen können!«

Der Doktor raufte sich jammernd die Haare, und der Räuber stand mit dummem Gesichte da. Nach langer Weile erst beruhigte sich Dr. Schnugu ein wenig. Er sah den Räuber bittend an und sagte in eindringlichem Tone:

»Brumbu, mein lieber Brumbu, das eine versprechen Sie mir: Wenn Sie wieder mal bei mir einbrechen wollen, stehlen Sie, was Sie wollen, stehlen Sie meinen alten Schafpelz oder stehlen Sie meinetwegen sogar meine Tabakspfeife, aber stehlen Sie keine Medizin.«

Der Räuber versprach, sich danach zu richten. Dann wurde er eingerichtet, geschient und verbunden. Während darauf der Doktor sein Verbandzeug zusammenpackte, empfahl sich Brumbu, nicht, ohne die Tabakspfeife des Doktors mitgehen zu heißen.

Nun kam wieder eine Anzahl Tiere: ein Regenwurm, dem durch einen Fußtritt das Hinterviertel zerquetscht worden war; ein Dachs, der ein Fettherz hatte; eine Spinne, die an Drüsenverhärtung litt und dadurch sehr in ihren Berufsarbeiten behindert war; eine Schlange, die einen Giftzahn plombiert haben wollte, ihn aber ausgezogen bekam; ein eitler Hirschkäfer, der sich ein Horn abgestoßen hatte und sich »der Symmetrie halber« das andere amputieren lassen wollte; ein Igel, der sich die Stacheln schleifen ließ, und ein graues Kaninchen, das ein Haarfärbemittel wünschte.

Der Doktor behandelte alle diese Patienten mit großer Sorgfalt, alle in durchaus individueller Weise, alle mit seiner tiefen Erkenntnis und seiner starken Liebe. Es kam auch noch viel Berg — und Waldvolk: die Männer kurz und verschlossen, meist scheu und unmutig daß sie überhaupt krank seien, die Weiber mit vielem Jammern und einer breiten Ausführlichkeit. Manche bezahlten mit einem Goldklümplein, mit einem funkelnden Stein oder mit Geld. Dann schenkte allemal der Doktor dem nächsten Bergmann oder armen Moosweibchen, was er selbst zuvor erhalten hatte. Und da kam auch eine Denunziation vor.

»Herr Doktor,« sagte eine Frau, »die Schnurrgrine, die so oft zu Ihnen kommt, ist eigentlich gar nicht krank. Sie wartet bloß allemal, bis ein Reicher bei Ihnen war, der bezahlt hat. Und dann geht gleich sie ins Sprechzimmer, damit sie das bekommt, was der Reiche Ihnen gegeben hat.«

Der Doktor sagte grob, das Weib solle sich hinausscheren. Wenn er, der Doktor, so dumm sei, sich betrügen zu lassen, so sei das seine Privatangelegenheit.

Und die Warnerin wurde ungnädig entlassen.

***

Zu guter Letzt kam noch eine Patientin – Goldina, das Königskind.

Sie kam langsam, zögernd über die Schwelle. Ich sah, daß ihre Wangen blaß und ihre Augen gerötet warm vom Weinen. Auch der Doktor bemerkte das bald.

»Was ist, Kind, was ist?«

Sie blieb stehen und brach in einen Strom vom Tränen aus.

»Goldina! Kind! Was ist Ihnen geschehen?«

Da lehnte sie den Kopf an seine Brust und weinte noch heftiger.

Er führte sie behutsam zu seinem Stuhle. Aber sie kniete vor ihm nieder und preßte die goldenen Locken an den Sammet seines schwarzen Mantels. Da setzte er sich selbst, und sie kniete vor ihm, und er streichelte ihr den Scheitel und gab ihr gütige Worte wie ein Vater.

»Ich kann es ja bloß Ihnen sagen, – bloß Ihnen, – das Herz tut mir ja so weh, – so sehr weh, – und ich bin so unglücklich, so sterbensunglücklich!«

Ein mildes Lächeln ging über das Gesicht des Alten.

»Hat er Sie gekränkt – der böse Prinz Juvento?«

Sie verbarg ihr Gesichtchen in tiefer Scham ganz in seinen Mantelfalten. Seine Stimme wurde ganz milde.

»Ich weiß es ja doch, Herzenskind! Schämen Sie sich nicht! Warum soll es Ihr alter Doktor Schnugu nicht wissen?!«

Da richtete sie sich auf und schluchzte unter einem Strom von Tränen:

»Er – er hat eine Liebschaft mit der – der Angelika – mit der von droben, – mit der von den Menschen!«

Ich weiß nicht mehr, was der Doktor darauf sagte.

Es war mir, als habe mich ein Schuß getroffen. Ein kurzer, spitzer Schlag vor die Brust! Und es war, als ob mir alles Blut auf einmal nach dem Herzen geströmt und der Kopf ohne alles Leben sei.

Mit leeren, glasigen Augen schaute ich auf die beiden.

Ich sah, daß das junge Mädchen dem Alten einen Brief gab. Den Brief habe eine Kammerfrau bei Angelika gefunden. Es sei ein Liebesbrief des Prinzen Juvento. Er bestellte Angelika für eine bestimmte stunde nach den königlichen Gärten.

Eine Weile stand ich noch da, ohne mich zu rühren, auch ohne etwas zu hören oder klar zu sehen. Dann wandte ich mich nach der Tür.

Ich wollte fortgehen. Weit fort von hier! Was sollte ich hier noch? Dem alten Manne danken, Abschied von ihm nehmen? Es war mir nicht nach Dank zumute. Und der Doktor hatte wohl auch meine Anwesenheit vergessen.

Wie das junge Ding dort drin weinte!

Es war nicht zum Anhören.

So trat ich durch die Tür hinaus in den Märchenwald. Langsam ging ich eine stille Pinien-Allee entlang.

Ich dachte nichts Heftiges, es war kein Zorn in mir. Ganz still war ich und müde.

Ein Elfenkind sprang mir in den Weg.

»Angelika!« rief es. »Angelika! Angelika!«

Ich sagte, es solle ganz still sein und nicht lärmen.

Wenn es ganz still und artig wäre, würde ich ihm Zucker schenken.

Rübezahls Grab

Das Leid um meine verlorene Liebe trieb mich auf die Wanderschaft. In Marilkaporta war ich nie sicher, daß mich die Freundlichkeit des alten Königs zu Hofe lud und daß ich alsdann die wiedersehen mußte, die mir so schweren Herzenskummer bereitet hatte.

Sie war nicht treulos gegen mich gewesen; ich hatte kein Recht auf ihre Liebe und Treue. Aber die Freundin hatte sie gekränkt, hatte ein lichtes, liebes Bild in mir zerstört. Ich wollte sie nicht mehr sehen. Nie mehr!

 
Weiß wie Schnee!
Rot wie Blut!
Schwarz wie Ebenholz!
 

wenn ich nur die unselige Melodie dieser Worte noch einmal aus Sinn und Seele bekommen hätte! Sie klang mir im Wachen und Träumen immer in der alten Qual.

Das Schneewittchen hatte seinen Prinzen. Nicht einen, der es vom Tode zu einem schönen Leben erweckte, einen, der es aus dem Leben zum Tode der Entwürdigung brachte.

Der Haß zog in mein Herz gegen den Mann, der das getan. Weil er schön war, blendete er sie, wie er auch mich geblendet hatte, wie er alle blendete. Dem schönen Menschen ist es leichter, seine Verbrechen zu verschleiern, als dem häßlichen, seine Güte zu erweisen.

Den Prinzen Hamrigula traf ich einmal. Er drückte mir die Hand und sprach ein paar freundliche Worte über gleichgültige Dinge; aber ich gewahrte, als ich einmal schnell aufschaute, daß er mich mit traurigem Blicke ansah.

Vielleicht wußte er es. Gewiß wohl! Er liebte das blonde Königskind, das der andere hinterging, das der andere nur deshalb begehrte, weil die Mitgift eine goldene Krone war.

Als ich noch mit Hamrigula sprach, fuhr Prinz Helgin vorüber. Er saß in einem Wagen, der von vier weißen Ziegenböcken gezogen wurde, von denen jeder einen schwarzen Fleck an der Brust trug. Und er lächelte glücklich und dumm.

Auch ein Anwärter auf den Thron! Der und Prinz Matturga, dessen Kraft im Sumpfe vermoderte, und – Juvento, der Treulose. Da sagte ich zu Hamrigula:

»Ich bleibe nicht lange hier. Schnell wird mein Jahr vergangen sein. Aber wenn ich lange fort bin, wünsche ich, daß Sie in diesem Lande die Krone tragen mögen.«

Sein Gesicht blieb unbeweglich; aber sein Atem ging schwer, als er sagte:

»Ich wünsche es auch! Wenn es anders kommt, ist es nicht um mich. Ich finde wohl eine stille Ecke für mich. Aber das Vaterland wird leiden, und Goldina wird verderben.«

Darauf ging er schnell davon, ohne mich noch einmal anzusehen.

Ich zog auf die Wanderschaft, – floh aus der goldenen Stadt. Was hatte mich das Leid befallen in dieser wunderbaren Welt? Warum genoß ich nicht glücklichen Herzens, was mir nur einmal beschert war im Leben?

 

Weil ein anderer Mensch mit mir gezogen war. Auf der Reise ins Land der Märchen ist der störendste Genoss' das Weib.

Weiß wie Schnee! Rot wie Blut!

Das ist das Törichte, das Kleine und doch das rein Menschliche im Künstler, daß ihm die Farben eines Weiberkopfes alle schimmernde Schönheit rundum überstrahlen können.

Ich sah alles nur in der Verschleierung meiner sehnsüchtigen Augen, die glänzenden Berge, die tiefen Kohlentäler, die zugleich schwarz sind und diamantenweiß schillern, die heimlichen Wiesensteige und wundersamen Schnitzwerke der Brücken.

Es war ein tiefer Zorn über die törichte Hoffnung in mir, daß alles noch gut werden könne. Und ich wußte doch, daß die meisten Romane tragisch enden oder sich in der Öde verlieren.

Etwas Ablenkendes, etwas recht Banales brauchte ich.

In einem Buchhändlerladen hatte ich mir einen Baedeker von Herididasufoturanien gekauft. Er machte mir keinen Spaß. Baedeker machen ja selten Spaß; aber der von Herididasufoturanien hätte es doch tun müssen. Darum hatte ich ihn ja hauptsächlich gekauft.

Nein, es war nichts! Mürrisch suchte ich unter »R« im Register nach »Rübezahls Grab.«

Ich hatte mancherlei davon gehört und wollte hingehen und es anschauen. Da – Seite 257!

Rübezahls Grab. Grabmal Rübezahls. Gott 2. Klasse. Herrschte im südwestlichen Schlesien und in Nordböhmen von 3462 bis 526879l7 (nach der Erbauung Marilkaportas gerechnet). Grab befindet sich genau unter der Schneekoppe. Diese inwendig zu einer Kuppel ausgebaut. Pläne von Primuguntosto († 49518004), bis zur zweiten Galerie ausgeführt von Bramatinogo († 500l7819), die Vollendung bis zur Laterne von verschiedenen Meistern. Die Kuppel ist kassettiert, bis zur ersten Galerie aus l8 kar. Gold, von da bis zur 2. Galerie aus Diamanten, bis zur Hälfte gegen die Laterne hin aus Rubinen und von da (weil unten nicht mehr erkennbar) aus böhmischen Granaten ausgeführt. Genau im Brennpunkt der 5719½m hohen Kuppel das Grab Rübezahls. Granitplatte. Gewicht 36715 t mit etwas Knieholz (Pinus Pumilio) Habmichlieb und verschiedenen Gebirgskräutern. Rechts und links Geyser. Der linke Schacht ist der tiefere. Aus dem nahen Gebüsch gerühmte Bergmusik. Der Gott liegt lang ausgestreckt auf dem Granit. Sehr wohl erhalten. Über ihn gebeugt Emma, ehemalige Braut des Gottes; ebenfalls tadellos erhalten.

Entree frei. Der älteste der zahlreichen Wächter gibt auf Wunsch Auskunft. (Kein Trinkgeld!)

Zehn Minuten entfernt (den Weg links über die Brücke einschlagen!) Hotel Rübezahls Ruh. Logis 100 Gulden, Frühstück 50 Gulden, Diner 80 Gulden, Souper 60 Gulden. Meist gelobt!

Ich warf das Buch auf die Erde, besänftigte aber meinen Zorn und hob es wieder auf, da es sehr teuer gewesen war. Für das Wegefinden, für die Auswahl der Hotels und hundert Nebensächlichkeiten war das Ding wohl zu gebrauchen. Schließlich war es auch nicht Schuld des Buches, wenn die Leute angesichts eines Kunstwerks oder auf historischer Stätte nicht den Geist des Genies, nicht die Wucht der Jahrhunderte auf sich wirken ließen, sondern lieber in der Glücks — und Feierstunde ihres Lebens im elendesten Telegrammstil Namen, Jahreszahlen und öde Maßziffern lasen. Nicht Schuld des Buches war es, es lag lediglich am Stumpfsinn der Herididasufoturanier. Deshalb hob ich den Baedeker auf. Aber ich irrte drei Tage lang umher, ehe ich das Rübezahlkapitel so weit vergessen hatte, daß ich mich an die hohe Stätte des Riesengrabes wagte.

Daß der Berggeist gestorben war, wußte ich längst, wußte es schon, als ich noch droben war. Wer glaubte noch an ihn, wer hatte noch Freude an seiner romantischen Gestalt? Keiner! Der kleinste Knabe zeigte ein ledernes Skeptikerlächeln, wenn ihm einer vom Rübezahl sprach.

Der Sturmwind fegte wie einst über die Berge, aber Berggeists Stimme klang daraus nicht mehr, nur Windrichtung und Temperatur maß ein eifriger Beamter; wie sonst zogen sich die Wege aus dem Tal hinauf zur Höhe, aber Rübezahl legte darauf seine Wurzelgeflechte als neckische Fußangeln nicht mehr; die seinen Strandschuhtreter würden sich bei der nächsten Zeitung gar bitter beschweren; wie einst liegen Menschenhäuser auf den Wiesenplänen, aber die Einsamkeit mit ihren Schauern der Furcht und Größe ist längst geflohen vor Kellnergeschnarr, Kartengedresche und albernen Gassenliedern.

Es ist gut, alter Berggeist, daß du gestorben bist; schon gestorben bist, ehe die erste Berglokomotive dich gerädert hätte. Mach Platz, alter Riese! Die Faulen wollen nicht mehr wandern, sie sind dick und können an dir nicht vorbei. Mach Platz, abgedankter Geist! Es fehlt da oben nichts mehr von den Glorien der modernen Zeit, von den elektrischen Glühbirnen bis zur gemalten Dirne, – du und deine Romantik, ihr passet nicht mehr ins Milieu des Gebirges, ihr seid arg stilwidrig.

Leg dich schlafen, Rübezahl, tief unter deine geliebten Berge! Die Romantik hat längst in stille, dunkle Katakomben flüchten müssen, wenn sie ihre Gottesdienste halten will. Droben wird sie mit Pech bekleidet, mit dem schwarzen Kleide der Dummheit, und angezündet. Die Menschen studieren die Natur und entfernen sich von ihr. Weil sie zu kurz schauen, glauben sie, die Natur sei nichts Besseres als ein Studienobjekt. So verlieren sie, was sie erkennen. Die Naiven, die Törichten waren die Besitzenden. Und unsere Zeit ist klug, aber arm.

Ein stiller Wald nahm mich auf, ein Wald, in dem nichts war als keusches Grün. Seine Formen waren feierlich-einfach. Etwas Beklemmendes war da, wie in einer großen, leeren Kirche. Mit der Zeit wurde der Wald dunkler und öder. Parsifal fiel mir ein, der den Weg suchte zum heiligen Gralsberg. Der Weg zu allem Großen geht durch die Stille. Wie ergreifend hat es der große Wolfram gepredigt.

Mich aber befiel das Zittern des Unwürdigen, der in ein Heiligtum treten will. Ich setzte mich unter eine Tanne und faltete die Hände über den Knien.

Da trat ein Mann aus dem gegenüberliegenden Gebüsch. Er trug das Kleid der Zwerge, wie es sich in der Phantasie der Kinder darstellt: einen grauen Rock, eine Kapuze auf dem bärtigen Kopf, grobe Bergschuhe und in der Hand einen wilden Stecken.

»Willst du zum Grabe des Meisters?« fragte er.

Ich nickte.

»Warum setzest du dich hierher? Bist du müde?«

»Mir ist bange!«

Er sah mich freundlich an.

»Ich werde dich hinführen,« sagte er.

»Aber ich bin keiner von euch!«

»Du bist ein Mensch! Ich sehe es aus deinen Augen, die zugleich kinderjung und steinalt sind. Ich werde dich trotzdem hinführen.«

»Wann ist er gestorben?« fragte ich leise.

Das Gesicht des Gnomen wurde traurig.

»Vor wenigen Jahren. Er ist heruntergekommen zu uns, krank und mit bitterem Herzen. Mit der letzten Kraft hat er eine Granitplatte vom Berge gebrochen und sie unter die große Kuppel getragen. Er hat kein Wort mehr geredet und ist auf dem Stein gestorben, dort, wo er jetzt liegt.«

Wir sahen uns an und schwiegen eine Weile.

»Das Weib ist bei ihm?« fragte ich dann. »Wie kam sie hierher?«

»O, es ist eine traurige Geschichte! Du weißt, daß er sie sehr geliebt hat. Er hat sie mit Herrlichkeit und süßen Freuden beschenkt. In unserm Lande hat er ihr einen Prunksaal bauen lassen mit eben derselben großen Kuppel, die unter dem Riesenberge ist. Dort hat er sie hingeführt nach jedem Tage, wenn oben die schwarze Zeit kam, die ihr Nacht nennt. Dann hat er goldene Feste gefeiert unter der großen Kuppel. Ich sage dir, Fremdling, daß nie Herrlicheres war, noch sein wird. Er hat sie geliebt mit der Liebe seiner Weisheit und Güte. Aber so wie er groß war, war sie klein. Sie begriff seines Wesens Hoheit nicht, sie fror an seiner Brust, die Stürme barg, und floh, nachdem sie ihn verspottet hatte.«

»Das alles weiß ich!«

»Zu einem Prinzen ist sie gegangen, zu einem armseligen Menschenprinzlein! Aus den Armen des Riesen, des Helden, zu einem, der nichts war!

Und siehst du, Fremdling, da ist sie elend geworden!

Wen einmal die Liebe eines Gewaltigen begnadete, der kann nicht mehr glücklich sein im Arm des Kleinen. Seine Schönheit dünkt ihm lächerlich, sein Reichtum armer Flunker, seine Rede Geschwätz. Mitten in den Freuden, die zu bieten sich der Kleine zermartert, spricht die Sehnsucht von dem Großen, Reichen, dem das Schenken ein Spiel war. Was der Kleine mühsam bietet, ist nicht so viel als das, was der Große wegwerfen konnte, Wer das einmal erfuhr, dem hilft keine Täuschung, kein Irrglaube mehr über seine Verbannung weg. Und sie ist abermals geflohen, sie hat zurück gewollt zu ihm, sie hat den Heimweg gesucht zu seiner starken, reichen Liebe!