Malin - Vampir und Heilerin

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Sari: Malin #1
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Zwei Tage später hatte sie ihr Bett immer noch nicht verlassen, da kam Bettina vorbei und sagte ihr herzlichen Dank für die Beobachtung des Fremdgehens ihres Freundes, sie überlege, ihn in die Wüste zu schicken. Bettina selber könne jetzt nicht Urlaub nehmen, der Quartalsabschluss stand vor der Tür. Aber sie schenkte Malin ein Wochenende im Bayerischen Wald.

„Weit weg“, strahlte Bettina gegen Malins verheulte Augen an. „Bäume. Natur. Tiere.“

Und da war Malin dann und trank auf der Terrasse des Hotels einen großen Milchkaffee. Ohne Zucker. Zeiten riesiger Trauer sind gute Zeiten, um etwas zu reformieren im Leben. Und sie hatte sich gesagt, jetzt sei die Süße aus ihrem Leben verschwunden. Sie saß alleine am runden Holztisch, auf der Nase eine riesige Sonnenbrille, ein Modell wie aus den 70ern. Hinter ihr bäumte sich das Hotel auf als übergroßes Bauernhaus designt, weiße Wände, rotes Dach. Der Tisch aus grob lackiertem haselnussbraunem Holz mit nur wenig Luft zwischen den Stelen, rund eingefasst im gleichen Holz. Der Boden hatte die gleiche Farbe, die Klappstühle waren aus ähnlichem Holz. Sie saß alleine mit ihrer Trauer links außen am Rand der Terrasse und sah hinaus auf das Tal. Links und rechts sanken baumreiche Wälder sanft ab, direkt vor dem Hotel begann eine saftig grüne Wiese, die sich trapezförmig ins Flusstal weiter unten verbreiterte. Pferde grasten oder galoppierten alleine oder mit Reitern.

Malin fiel eine blonde Reiterin auf, aber auch das erinnerte sie daran, wie toll es war, Sandu zu reiten. Sie war wie in einem Tunnel, die Unterhaltung der anderen Gäste über ein Autokauf war belanglos und fast ausgeblendet, obwohl die Diskussion über die Automarken zwischen dem Vater und der burschikosen etwa 20jährigen Tochter hitzig geführt wurde. Malin hatte ähnlich der Tochter nun auch einen Kurzhaarschnitt, ansonsten keinerlei Ähnlichkeit. Die Tochter war das blühende ranke und aufgerichtete Leben, Malin ein zusammengesunkenes Haufen Elend. Rechts schob sich eine die Bedienung sich sichtbar machend ins Bild, Malin interessierte es nicht.

Malin war von den Sinnen her tot, da war die Nacht mit Sandu bereits 13 Tage her. Der Vater bezahlte die Getränke mit einem Schein, Malin hörte das Rascheln überdeutlich. Er erhielt Münzen zurück, Malin hörte das Zischen im Geldbeutel. Die Bedienung ging wieder hinein, der Vater versuchte ein Machtwort und wurde laut. Die Tochter hielt dagegen, ein Suzuki ginge gar nicht. Der Vater wurde wütend und er schlug mit der Hand auf die Kaffeetasse. Aus Versehen. Und dann roch Malin Blut. Ein beißender Geruch. Eine scharfe Süße. Malin war erschrocken, sie leckte sich automatisch über die Lippen. Dann suchte sie Halt und griff zur Zuckerkanne. Schüttete den halben Inhalt in ihren halb ausgetrunkenen Milchkaffee. Der Hunger, der Durst, irgendwas dazwischen, irgendwas beides beinhaltend, wurde drückender. Sie stürzte den Milchkaffee hinunter. In ihr war auf einmal eine nicht gekannte Gier. Der Zucker war noch nicht ganz gelöst, die zähflüssige Masse schob sich in ihren Mund. Sie schmeckte ein riesiges NICHTS.

Ich muss was essen, dachte sie stürmisch und stand mit einem heftigen Ruck auf. Der Stuhl fiel hin, Vater und Tochter waren mit der Wunde beschäftigt. Malin sah zur Wunde und sie konnte nur mühsam ein Verlangenszischen unterdrücken.

Als sie aufwachte, lag Malin am Waldrand und es war noch dunkel. Ihre Kleider waren noch ganz, aber teilweise verdreckt. Und vor allem: überall Blut. Sie schrie kurz auf, sie richtete sich auf. Auf. Auf. Blickte um sich, ein Tierbein. Das Schaf neben ihr war tot, es war gerissen worden von einem Wolf. Und der Wolf hatte auch ein anderes Schaf angefallen, beide lagen da. Das Schaf direkt neben ihr schien noch zu atmen, während es langsam verblutete. Und das Schaf hatte einen furchtbar ängstlichen Blick und sah sie noch einmal an, ehe es verendete.

Dann kehrten die Sinne zu Malin zurück. Und sie hörte die ganze Herde um sie herum blöken und wild hin und her laufen. Sie waren in einem Freigehege, Malin stand direkt am Zaun. Sie erblickte einen Widder, sie hatte auf einmal Angst. Der Widder war schon wütend, jetzt roch er ihre Angst und setzte zum Angriff an. Nur mit viel Glück konnte sich Malin über den Zaun retten. Sie erkannte den Weg zurück zum Hotel. Sie hatte bei ausgiebigen Spaziergängen die Schafe im Gehege gesehen. Sie rannte den Weg zum Hotel zurück. Dann fiel ihr auf, dass sie ja voller Blut war. Sie zog sofort alle Sachen aus und rannte bis auf die Unterwäsche nackt auf das Hotel zu.

Sie musste vorsichtig sein. Sie dachte nicht an einen Vergewaltiger. Nein, sie dachte daran, dass sie sicher mit Kleidern beim Weggehen gesehen worden war. Nur, wann? Sie hatte keine Erinnerung, der totale Blackout musste mindestens fünf bis sechs Stunden angedauert haben. Nein, eher neun bis zehn. Sie schlich ins Hotel. Keiner da. Alles noch dunkel, nur die Nachtbeleuchtung war an. Sie schlich eilig zu der Treppe, keiner da. Was wäre mit dem Schlüssel? Wo ist der? Scheiße, wahrscheinlich in den Kleidern vergessen. Wie komme ich auf mein Zimmer? Sie rannte die Treppen hoch, versuchte zu verstehen. Ihre Tür war offen. Sie rannte hinein und fing an, wie wild zu packen. Als sie fertig war mit Packen fiel ihr auf, dass sie immer noch halbnackt war. Sie zog sich an. Dann suchte sie ihre Sachen aus dem Nachtkästchen und der Toilette zusammen und verstaute sie. Als sie ihren Koffer vom Bett holte und auf dem Boden setzte, fiel ihr ein, dass sie ja hier nicht anonym war. Und sie konnte nicht einfach so abhauen. Sie sank aufs Bett.

„Was ist nur mit mir lohohos?“ weinte sie wieder los. „Was ist denn passiert – mit mir?“ Sie schluchzte und heulte los.

Eine Stunde später hatte sie sich wieder mehr gefangen. Sie stand unten am Empfang, lächelte tapfer den braunhaarigen kleinen Mann in der adretten Tracht an.

„Sie verzichten auch wirklich auch auf das Frühstück?“

„Entschuldigen Sie meine verheulten Augen“, sie zwang sich zu einem Lächeln. „Meine Mutter ist gestorben.“

„Darf ich Ihnen was einpacken, Frau Lösel?“ Der Mann schien ihr wirklich helfen zu wollen und war doch so machtlos. Gegen das Blut. Gegen die Wucht eines Ganzkörper-Sex mit Sandu.

„Keinen Hunger.“ Sie lächelte, während sie den Kopf schüttelte und dann fiel es ihr auf. Sie war tatsächlich satt. Übervoll. Ihr Entsetzen steigerte sich, ihr war gerade bewusst geworden, sie hatte das Blut der Schafe getrunken.

„Ist was?“ fragte der Mann.

„Mir ist nur aufgefallen, die Tracht steht Ihnen sehr gut“, sie versuchte ein freundliches Lächeln, aber sie schaffte es nicht. Sie grinste hinterhältig. Ihr war gerade der Gedanke gekommen, was sie vielleicht geworden war. Und sie wusste, sie würde es verheimlichen müssen.

„Danke“, sagte der Mann. „Und gute Fahrt!“ Er hatte ihren Hinterhalt erraten, er wollte sich abwenden, durfte nicht, musste die Situation tapfer durchstehen.

Ganz in Gedanken verließ Malin den Bayerischen Wald. Mit einem leichten wahrhaftigen Lächeln war sie aus dem Hotel gegangen. Der Mann am Empfang sah wirklich gut aus. Und es war ihr aufgefallen. Das heißt, dass der Liebeskummer vielleicht nachließ. Sie fuhr mit dem Zug, die ganze Zeit Musik hören, sehr oft Within Temptation – What have you done.

Sie kam daheim in Nürnberg an und googelte erst einmal alles, was sie über Vampire und Werwölfe finden konnte. Und fand sich darin wieder. Zum Teil ja. Zum Teil nein. Das war der Moment, an dem Malin Susanne Lösel, 27, 172 cm groß, Studentin der Psychologie an der FernUniversität in Hagen im 6. Semester und Arbeiterin im Ersatzteillager anfing sich zu fragen, ob Sandu ein Vampir war. Oder ein Werwolf. Weil natürlich wusste sie da, dass gestern Vollmond gewesen war. Und ob er sie gebissen hatte. Sie würde sich absuchen müssen nach dem Biss. Und sie würde Bettina natürlich nichts von alledem erzählen können. Sie sagte sich die ganze Zeit über, ich bin gefallen, ich habe das Schrecklichste getan. Ich habe getötet. Leben getötet. Ich muss wieder aufstehen. Ich muss nach dem schrecklichen Niedergang wieder aufstehen und zu alter Blüte zurückfinden. Ich muss, sagte sie sich, ich muss wieder neu lernen, der Liebe den Vorzug zu geben, vor dem Hass. Der Gemeinsamkeit vor dem Entzweienden. Ich muss zurück – mit neuen Vorzügen, mit neuer Erkenntnis, mit neuer Energie und mehr Wissen – zurück zu dem Pfad, den ich als Studentin eingeschlagen habe. Und der Weg ist, zu helfen. Für andere da zu sein. Ein steiniger Weg. Mühsam und tricky.

Wie wahr, liebe Malin.

Und wie schwer.

Drei Tage später.

Es klingelte an der Tür. Malin drückte den Summer, wahrscheinlich nur Werbung. Sie war so in Gedanken, aufgewühlt, aufgeschreckt, sie schreckte zusammen, als es wieder klingelte und jemand an der Tür klopfte.

„Ja, bitte“, öffnete sie die Tür und sah einen großen Mann vor sich. Er hatte schwarzes Haar, pechschwarz. Wenn man ein undeutliches Foto von ihm sah und beim deutlich werden würde ein älterer Keanu Reeves auch möglich. Aber dieser war nicht nett. Und er schien auch nicht auf der guten Seite zu stehen. Das fiese Grinsen schien nichts Gutes zu verheißen.

„Malin Susanne Lösel?“ er zeigte mit links seinen Ausweis, Polizei. Noch schlimmer hätte es kaum kommen können.

„Ja?“ stieß sie hervor, augenblicklich überrannt von Angstschauern. Ihr kamen die toten Schafe in den Kopf.

„Kommissar Anton Fuchs. Sonderabteilung Vampirkriminalität“, er hatte seine rechte Hand hinter seinem Körper verborgen gehabt, jetzt richtete er die Waffe in seiner Hand auf sie. „Ich bin befugt, Sie zu erschießen, wenn Sie sich wehren. In ihrer Filmgucker-Sprache: Ich habe le Doppelnull-Lizenz.“

„Ich kenne meine Rechte!“ wehrte sie sich. Aber nur halb mutig.

 

„Vampire haben keine Rechte. Weil sie nicht existieren“, er grinste und entsicherte die Pistole mit dem charakteristischen Klicken, sie war auf sie gerichtet. „Meine Tat würde sehr gut vertuscht werden. Und ich will mich mit dir auch über Vertuschungen unterhalten. Die im Bayerischen Wald vielleicht als Anfang?“

„Ich werde mich nicht wehren“, sie hob die Hände hoch und trat zur Seite.

„Kannst Du gar nicht, wir haben kein Vollmond“, er grinste noch frecher, sicherte die Pistole wieder und steckte sie in seinen Halfter als er einen Schritt in die Wohnung hinein tat.

„Ich wurde da hineingezogen“, ihr Ton hatte viel Flehendes, als sie die Tür schloss. Sie hatte den Impuls, draußen nach Hilfe zu sehen. Aber als ihre Gedanken diese Neigung prüften, erkannte sie die Ausweglosigkeit.

„Kaue nicht an le Vergangenheit, hat meine Mutter immer gesagt“, er schritt auf einen Stuhl zu. „Besonders nicht, wenn die Zukunft dir jetzt sofort auch ein paar ordentlich zähe Fleischbrocken vor den Latz knallt.“ Er setzte sich und grinste immer noch.

„Du kannst mich Toni nennen“, er stellte das Grinsen ein. Der fest zupackende Unheil verheißende Ernst in seinem Blick war aber noch schlimmer. „Der ohne Prozess eingekerkerte kleine Sandu hat dir le Fahrt zur Hölle geschenkt. Verkleidet in einem schneeweißen puffigen Federkleid der Leichtigkeit. Mit dem im Abgang im Gaumen säureartig beißenden ach so blöden Beigeschmack der Machtlosigkeit. Ausgeliefertsein ohne ein Codewort, welches es beenden könnte. Das ist nun mal le Preis der guten Orgasmen. Hallo“, er machte eine eisige Pause, „Giftkrallen-Täubchen! Die Schlange ist da.“

„Was wollen Sie?“

„Als gläubiger Christ, der ich bin“, sagte er dann ernst. „Mag ich eine bestimmte theologische Richtung der Neuzeit sehr. Der sagt, le Vorwurf, der der Kirche zu machen ist, sie versucht immer von oben herab auf le Menschen unten Ideale überzustülpen. Das führt zu Scheinheiligkeit, weil le Menschen NATÜRLICH scheitern an den hohen Idealen. Und diese Scheinheiligkeit schreckt le Nicht-Gläubigen ab. Aber Gottes Liebe kann nicht VERDIENT werden, und schon gar nicht, indem wir Idealen nachstreben. Sondern es ist das Gleiche genau anders herum. Wir sollen durch Selbsterkenntnis wachsen, so weit wir eben nach oben kommen. Wir sollen gute Dinge tun, aber eben im Bewusstsein, dass uns Gott BEREITS so liebt, wie wir sind. Le Auswirkungen sind die gleichen, gute Taten. Vampire jagen, die Böses tun als Beispiel. Aber eben nicht, um sich dadurch Lohn zu VERDIENEN. Sondern aus einem Gefühl der Dankbarkeit für le Liebe Gottes. Kennst du den Unterschied dieser Sichtweisen?“

„Nein.“

„Ich muss eben in meinem Beruf genau untersuchen, welcher Vampir ist böse. Und welcher ein versteckter Heiler. Sandu verdient le Gefängnis, weil er dich nicht gefragt hat. Gleichwohl war seine Entscheidung, dich zum Wrukola zu machen, vielleicht richtig. Das gilt es herauszufinden. Wir werden etwas Zeit miteinander verbringen, dann werde ich meine Entscheidung treffen, einen Bericht schreiben. Vielleicht dich töten. Vielleicht dir helfen.“

Ja, er hat alle bezeichnenden Artikel verschluckt und durch das französische LE ersetzt, dass er, wie mir erzählt wurde, auch französisch aussprach. Wegen einer Lehrerin hatte er diese Macke: merke wohl, eine Sprache wird wie jedes Attribut der Welt von den Trägern mies gemacht. Ich kenne jemanden, der isst mit über 50 noch keine Suppe, weil seine Tante, die auf ihn aufgepasst hat, ihn immer dazu gezwungen hat…

Kap. 2 – Kommissar für besondere Angelegenheiten

„Ich habe Französisch in le Schule gehabt“, erklärte er als erstes. „Le Lehrerin, Frau May, hat mich irre gemacht mit den Artikeln. Ich war schließlich in Frankreich und habe es gelernt, aber ich wende es seitdem nicht an, wenn es direkt vor dem Substantiv steht erst recht nie – sonst manchmal schon. Ich habe mein Abi immer mit LE geschrieben, habe 10 Punkte gekriegt. Der Rest war perfekt. Meine Hochzeitsreise ging nach Frankreich. Paris gehört den Liebenden und Casablanca. Die Cote d‘Azur den Reichen. Reims gehört nur mir und meiner Frau. Was ich damit sagen will, Täubchen, meine Frau und ich - ein überragendes Team. Aber speziell. Eigen.“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Eine Chaostruppe waren wir. Einmal, wir waren frühe Kandidaten der Gesundheitsbewegung, hat sie die Waschmaschine ausgeräumt, die lag in der Küche, und suchte was, egal was. Und sie hat alle Kleider nach hinten geworfen. Und danach ihr grünes T-Shirt nicht mehr wiedergefunden. Und sie war so sauer, wir haben Sex gehabt. Und in der Frühe geht sie in die Küche, sie war verschlafen, sieht das Grüne im Mixer. Und legt den Deckel drauf. Und los geht‘s mit dem frühen Smoothie. Und das war aber nicht der gefüllte Topf, sondern das T-Shirt. Hahahaha. Das grüne T-Shirt. Sie hat das grüne T-Shirt zerhäckselt.“

Eine gute Viertelstunde später saß Malin auf dem Beifahrersitz des schwarzen 3er BMW und der Kommissar fuhr sie zu einem Ort, wie er sagte „ohne Gefahr, gehört zu werden.“

Er sah sie immer wieder an, durchdringend. Als könnte er erahnen, dass ihre erst gestern schwarz gefärbten kurzen Haare in Wirklichkeit dunkelblond-hellockerfarben waren. Er war sehr schwer einzuschätzen, still, ohne ruhig zu sein, und fuhr konzentriert und schnell.

Er sah sie wohl zu oft an, denn mit einem Mal musste er bremsen, weil eine Joggerin über die gelbe Ampel vor ihrem Auto gerannt war.

„Jogge nur“, stieß der Kommissar zu der Joggerin hervor, als er der kurz hinterher sah. „Das häßliche Gesicht kannst du nicht ändern, aber vielleicht deinen fetten Arsch.“

„Ich hasse Sie!“ stieß Malin unvermittelt hervor. „Sind Sie ein arroganter Frauenhasser!“

„Vorsicht. Sonst landest du im Kittchen. Kein Fernsehen. Kein Ausgang. Gar nichts!“

„Wir sind in einem Rechtsstaat. Egal was Sie behaupten!“

„Nicht ganz. Die Bundesregierung steht auf dem Standpunkt, Wrukolas gibt es nicht. Wen es nicht gibt, der hat auch keine Rechte. Im Wrukola-Kittchen gibt es nur einen Anwalt, der ist selber einer. Hilft ihm nicht weiter. Man kann keine rechtliche Eingabe machen ohne Ansprechpartner. Der Deutschen liebster Satz ist dort vollendet worden: ich bin nicht zuständig.“

„Dann sollte ich Sie beißen...“

„Ich bin nicht dein Feind. Ich bin vor allem ein Fan von Kinderfernsehen. Meine Lieblingsseite im Internet ist tierchenwelt.de. Eine Kinderseite. Über Tiere und ihre hervorragenden Eigenschaften – vielleicht ein kleiner Einfluss von den Wrukolas war dabei mit im Boot – einfach die Vielfalt des Lebens auf der Erde kennen lernen. Und weil ich diese Erde liebe bin ich auch Vegetarier. Keine toten Tiere. So einfach ist das. Einfach ist ein Stichwort. Einfache Deals. Du hilfst mir, den Urhebern dieser Sache näher zu kommen. Und ich liefere dich nicht ins Kittchen ab.“

Damit hielt er auf einem Parkplatz am Marienberg. Sie stiegen aus und er bugsierte sie auf eine einsame Bank zu. Weglaufen wäre hier schwierig, es war der menschenleere nördliche Teil der Parkanlage. Über der Straße lagen nur Bürohäuser und jetzt war nicht Mittagspause. Menschenleer.

„Geschäft verstanden?“ fragte er.

„Und falls ich nicht mitmache?“

„Hör zu, Scharfbeißerchen. Ich gehe ohne einen Plan B nicht mal aufs Klo. Ich will ein faires Geschäft. An dem ich mich halte. Und du auch. Ich habe am liebsten mit niemandem Scherereien, macht nur mieses Karma. Und schon gar nicht wegen Leuten, deren Tellerrand eine Kaffeetasse ist. Und ich bin gläubiger Christ. Wie der Spruch aus Tarantinos „From dusk till dawn“: Wenn es die Vampire gibt, dann gibt es das Böse. Und wenn es das Böse gibt, dann gibt es einen Gott. So einfach ist das. Ich war schon früher gläubig, der Job macht es noch mehr. Fronten geklärt? Standpunkt klar?“

„Worum geht es genau?“ fragte Malin.

„Ein einfaches Geschäft. Ich liefere dich nicht ins Kittchen ab. Und du hilfst mir. Und zwar in zwei Punkten. Erstens, wie schon erwähnt, es gibt ein Kittchen. Und dazu die Regierung, die Oberen, nenn sie, wie du willst. Wegen dieser Leute ist das Kittchen geheim. Denn die wollen das Schöne an der Story für sich alleine.“

„Es gibt was Schönes daran?“ Malin zog eine einzelne Augenbraue misstrauisch hoch.

„Ich mag das. Eine einzelne Augenbraue hochziehen. Kann meine Frau auch.“ Er lächelte. „Weißt du, Marlin...“

„Malin. Das a in der Mitte wird ausgesprochen wie das oooo im mitleidigen Oooh! Fast: Moolin. Schwedisch. Man versteckt ein r nach dem a. Malin.“

„Meine kleine Schwedin, du kannst heilen!“

„Wie bitte?“

„An Neumond. Es ist die Strafe Gottes. Kennst du den Witz mit dem Golf spielenden Rabbi?“

„Nein.“

„Pass auf. Ein Rabbi war auch Golfspieler, er ist auf Reisen und kommt in einem Hotel an. In der Frühe lugt er hinaus, es ist ein perfektes Grün, ein Golfplatz. Jungfräulich geschnitten, perfekt. Aber Scheiße, es ist Sabbat. Weißt schon, Rabbi darf am Sabbat nichts tun. Und schon gar nicht Golf spielen. Aber die Sünde ist stark im Menschen. Er denkt sich, nur ein zwei Schläge. Wenn mich jemand sieht, die Bälle können von jemand anderem sein. Und er schnappt sich seine Schläger, schleicht sich raus, keiner sieht ihn, Sommer, 5 Uhr. Und da drückt er den Tee in den Boden, legt den Ball drauf und holt mit dem passenden Schläger aus. Soweit alles klar?“

„Ja.“

„In dem Moment wandert das Bild in den Himmel, Petrus sagt da zu Gott. Ich weiß, du bist barmherzig. Aber Regeln sind Regeln. Und bei einem normalen Juden würde ich nicht mal was sagen, ich sagte schon, du bist barmherzig und rufst nach der Sünde die Gefallenen immer wieder zu dir zurück. Aber es ist ein Rabbi! Du MUSST ihn bestrafen. Und Gott überlegt, schließlich nickt er. Hast du die Pointe vom barmherzigen Gott mitgekriegt, Schwedenname?“

„Sicher.“

„Das Bild geht wieder auf die Erde, der Rabbi holt aus, schlägt. Und der Ball fliegt hoch, noch weiter hoch, noch weiter weg, viel weiter weg. Und als er runterkommt, fällt er geradewegs ins Loch. Ein Hole-In-One. Nur ein Schlag und der Ball ist über zig Meter im Loch. Eine absolute Seltenheit, ein Wunder. Bild geht wieder hoch zu Petrus, der ist verblüfft, nein, verdattert, viel mehr: entsetzt, sagt zu Gott: Und ich dachte, du wolltest ihn bestrafen??!! Und was antwortet Gott, was sagt er?“

„Weiß nicht.“

„Habe ich doch. Wem kann er DAS jetzt erzählen?“

Der Kommissar machte eine Pause.

„Die Vampire Werwölfe Wrukolas. Sie können heilen. Es ist genauso eine Bestrafung von Gott. Gerade sie, die sich dem Bösen verschrieben haben indem sie Blut saugen. Was für eine große Bestrafung! Ausgerechnet sie. So werden sie immer wieder daran erinnert, selbst das Böse hat eine gute Seite. Es sagt ihnen, du bist nicht ganz böse. Du bist nur Teil von Gottes Vollkommenheit. Wie Engel, die nur einen Flügel haben. Die Ahnung vom Fliegen, es aber nicht können. Wie der blödsinnige One-Night-Stand mit Sandu. Diese sexuellen Kurzgeschichten – einfach zu blöde, zu schlimm. Es ist ein liebender Gott, auf jeden Fall. Aber die Zustimmung zu solch schnellebigem Mist wird es nie geben. NIE! Diese Schnellgeschichten sind vor allem eins: schnell schlecht. Du kannst heilen – und das ist eine Strafe!“

„Davon ist in keinem Film, in keinem Buch die rede.“

„Doch. In der Bibel. Jesus sagt: Wer nicht mein Fleisch isst und mein Blut trinkt – und so weiter. Das ist natürlich nur sinnbildlich gemeint. Bis ein paar Mönche im 11ten Jahrhundert auf die Idee kamen. Gregor J. Mendel mit der Vererbungstheorie war einer von den Nachfolgern – da hatten sie sich auf Pflanzen zurückbesinnt. DAVOR aber haben die schon immer mit der Verbesserung des Menschen beschäftigt. Nachdem man gesehen hatte, zu was Menschen fähig sind, die Hunnen, die ganze Völkerwanderung: die hatten ganze Landstriche ermordet. Das ganze Mittelalter ist voll von Versuchen, den Menschen zu was Besserem Göttlichem zu machen. Im 14ten Jahrhundert suchte man genetisch besondere Kämpfer gegen die Osmanen. Sie begannen, Blut an andere Menschen zu verfüttern. Experimentierten herum. Kräuter hier. Alchemie da. Sie sperrten sie in Käfige. Sie ließen sie unter Vlad Dracu aus Rumänien auf die Osmanen los. Und so weiter und so fort. Es ist eine der modernen Märchen der Anti-Kirchen-Leute - zu behaupten, im Mittelalter wurde nicht geforscht. Doch, Täubchen, es wurde. Halt anders. Man hatte damals ja nicht die Erfindung der Statistik. Man hatte auch nicht die Forderung, dass etwas nur wissenschaftlich war, wenn es sich wiederholen lässt. Man war ganz frei - in den Klostern. Wird man zum Wrukola, wenn man die ganze Zeit – über zwei drei Generationen hinweg nur Blut trinkt? Sonst nichts isst? Das weiß niemand – auf der ganzen Welt nicht. Ich weiß nur, Essen ist zu großen Teilen angelernt, die in Asien essen keine kaputte Milch, also Buttermilch, Käse, Butter. Und wir essen keine gegrillten Spinnen. Und wenn du dann nur Blut hattest – sagen wir 18 Jahre lang, in deinem Käfig. Und sie hätten dir immer wieder gesagt, du verträgst kein anderes Essen und dir Schauergeschichten erzählt, 18 Jahre lang, von deinen körperlichen Reaktionen als Kleinkind darüber, dass du nichts anderes verträgst. Und dann brichst du aus und wirst hungrig: was wirst du suchen zum Essen? Hm? Was suchst du, um deinen Hunger zu stillen?!“

 

„Ist das irgendwie belegt?“

„Ich kenne da nichts. Natürlich hatten später die aufkommenden neuen Wissenschaftler auch ein Interesse, sowas unter den Tisch zu kehren. Du denkst, die Kirche hat die Bücherverbrennungen erfunden? Es könnte aber sein, dass es Hinweise gibt, zumindest auf die Versuche. Man berichtete damals die Erfolge in den Vatikan – und die Bibliothek des Vatikan ist ja nicht digitalisiert im Internet“, er lachte laut auf. „Was sicher ist, es taucht in Romanen auf. Und schon bei Bram Stoker? Indirekt. Sie bezaubern die Frauen, diese Vampire. Womit denn? Mit einer dunklen romantischen Ader? Neumodischer Blödsinn. Haben sie erfunden, weil ihnen nichts einfiel. Nein. Sie spielen die Guten, sie können heilen. Die Frauen sind nicht dunkelromantisch, sie spüren in ihnen wegen der Heilungsfähigkeit die Nähe des Guten. Die Frauen sind doch nicht SOO dämlich, auf Liebesschwüre zu hören. Was diese Wrukolas – sicher – nicht zum unbedingten Vorteil der Frauen ausnutzen. Weil SOO klug sind die Frauen dann auch nicht.“ Er lächelte diebisch. „Es wird doch erwähnt, dass sie sich selbst heilen können, oder nicht?“

Malin nickte.

„Sandu hat dich geheilt.“

Malin nickte wieder.

„An Neumond. Da fließt aus ihnen die pure Liebe der Heilung. Die unterschwellig wirkende ewige Macht Gottes. Du bist der beste Beweis, dass es funktioniert. Gleichwohl nutzen sie es natürlich zu ihrem eigenen Zwecken. Warum auch nicht? Warum fliegt eine Mücke? Weil sie es kann.“

„Ich dachte, das hätte mit seiner Art des Sex zu tun.“

Der Kommissar schüttelte eifrig den Kopf: „Als mit der Macht Gottes in Verbindung stehende kennen sie natürlich den schönen Satz: Warum sollten Frauen beim Sex mindestens einen, wenn nicht mehrere Orgasmen haben? Weil sie es kann. Auch das wiederum wurde in den Filmen überspielt. Mit dem dunkelromantischen Blödsinnserfindung. Die Vampire wissen, sie tun es, sie haben Erfolg. Bram Stoker konnte doch kaum was von mehrfachen Orgasmen zu der Zeit schreiben. Die weiblichen Orgasmen waren damals unbekannt.“

„Aha? Woher haben Sie das Wissen?“

„Meine Frau wurde gebissen. Während sie eine lesbischen Sex hatte - mit einer anderen Frau natürlich. Sie kam zu mir zurück, wir hatten diesen Ganzkörpersex. Sie hat es mir erzählt. Sie ist inhaftiert. Wir wurden nicht mal geschieden, sonst müsste man ihren Aufenthalt preisgeben. Sie ist bis heute offiziell verschwunden – wie so viele. Einfach so“, er schnippte mit den Fingern.

„Und?“

„Ich bin, wie bereits gesagt, gläubiger Christ. Und diese Sache macht mich noch gläubiger. Ohne mehr zu sagen ist der Konflikt klar. Mir wurde dann angetragen, den Job zu machen.“

„Verstehe. Ein Rachefeldzug aus gekränkter Liebe...“ Malin erinnerte sich, im Auto lief zwei Mal Katy Perry – The one that got away.

„Das Gefängnis befindet sich in einem Geheimtrakt unter dem Nürnberger Kittchen in der Mannertstraße. Da ist meine Kerstin jetzt. Und ich sehe sie mindestens jedes Mal, wenn ich jemand Neues bringe. Aber dann jedes Mal. Und ich habe auch ein Interesse, nicht krank zu werden. Und damit sind wir beim zweiten Teil des Deals.“ Er lächelte. „Bin ich jetzt nicht. Also bin ich auf Sandus Geschichte scharf.“

„Sie haben doch sicher die Wohnung durchsucht?!“

„Nix gefunden“, er schüttelte wieder eifrig den Kopf. „Wie du dir sicher vorstellen kannst, wird mit den Wrukolas Versuche angestellt. Besser, wurde. Die Versuche sind so lala gelaufen. Es gibt aber unter der Hand ein paar Mittelchen. Und sie haben allesamt russische Etiketten.“

„Ich dachte, Sandu war Rumäne?“

„Seine Mutter hat wohl in Moskau studiert. Eine Altkommunistin. Ich sage, die hat noch Verbindungen. Zur alten Garde.“ Er schlug sich mit der rechten Hand auf den Oberschenkel. „Du wurdest ohne deinen Willen zum Wrukola. Da ist was da. Und ich will es herausfinden!“ Dann blitzten seine Augen: „Lust auf Wrukola-Witze?“

„Nur zu.“

„Was ist der Snack für Wrukolas? - Volle Blutegel.“

„Naja.“

„Die natürlichen Feinde der Wrukolas? - Stechmücken.“

„Wird das auch mal besser?“ fragte Malin „Ist nicht so Ihr Talent, das Witze reißen?!“

„Wrukola beim Zahnimplantologen, sagt er: Rücken Sie bitte den Beißzahn in die Mitte. Ich hatte mein Outing als Linkshänder, jetzt kommt das Outing als Linksbeißer.“

„Naja.“

„Es gibt ein Toblerone Wrukola-Edition – Zähne statt Berggipfel.“ Er lächelte. „Aber am meisten mag ich die tiefsinnigen Gags: Ein Wrukola beim Augenarzt, er hat sich ins Handy verbissen. Sagt der Augenarzt: Merken Sie sich, nicht alles, was redet, hat auch Blut und ein Herz!“

„Besser“, Malin wog den Kopf hin und her. „Pluspunkt wegen modern, geht auch mit diesen smarten Lautsprechern...“

„Da war wohl jemand seeehr überhastet, sagte der Arzt, ehe er den Wrukola von dem festhängenden Ohrring befreite...“

Malin grinste. Macht Daumen-Hoch.

„Wie heißen die dritten Zähne für Wrukolas? - Tackerklammern.“

Sie lachte laut los.

„Der Beste kommt erst noch, ist aber etwas länger. Bereit?“

Malin nickte.

„Ein Wrukola geht zum Arbeitsamt. Ich war Männerrasierer, jetzt ist der Job durch den neuen Braun futsch. - Fragt die Frau vom Arbeitsamt: Was ist ihre Kernkompetenz? Antwort: In die Halsader schneiden, ohne dass man es merkt. Aha, sagt die Frau, großartige Aussichten: Wir zahlen ein Jurastudium, was Soziales, Außendienst, vielleicht Handyverkäufer – oder aber wir übernehmen die OP zur Ehefrau.

Naja, sagt der Wrukola, ich sauge die Leute aus aber nur einmal im Monat. Aha, sagt die Frau, dann bliebe Steuerberater, Finanzamt – oder Frauenarzt.

Ja ja, sicher, der Wrukola ist sehr deprimiert, aber ich hadere damit! - Und machen es dennoch? - Ja. - Super! Dann Fallmanager beim JobCenter oder Schwiegermutter!

Aber verstehen Sie mich doch, klagt der Wrukola. Ich will das nicht ewig tun, ich sollte davon ganz sicher geheilt werden. Es ist furchtbar, was ich tue.

Und was antwortet die Arbeitsamts-Frau? Dann ist nur noch ein Job übrig: Sie passen zu einer Bank!“

„Wie wahr“, nickte Malin. „Wie wahr.“

Und so kam es dann, dass zwei Tage später Malin bei Sandus Mutter Marianna auf der Couch saß und Tee aus einem aufwändig dekorierten Samowar trank. Die ältere Frau war korpulent, aber nicht hässlich, sie rauchte lange dünne Zigaretten, die sie mit schlanken Fingern wie eine Grand Dame hielt. Malin hatte sie bei der Hausarbeit unterbrochen, der Staubsauger lag auf dem Boden – aber selbst zur Hausarbeit war Marianna herausgeputzt und geschminkt, mit knallroten Fingernägeln. Sie trug einen Hosenrock aus edlem Stoff, darüber einen Pulli. Sie saß im abgewetzten alten dunkelroten Ledersessel („ist ein Überrest aus dem Kreml, habe ich bei einer Renovierung unter Jelzin teuer erstanden“) und strahlte die Erhabenheit einer Botschaftergattin bis auf die Bilder von Lenin und Che Guevara aus.