Malin - Vampir und Heilerin

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Kap. 3 – Vom Heilen

Die Rolle rückwärts ist im Wasser in der Tat kein großes Problem. Das erkannte Malin gleich in der ersten Tauchstunde, die im Wasser stattfand - in einem beheizten Pool. Mit der geliehenen Ausstattung von Bettina. Und fast erlangte sie da etwas Lebensmut zurück.

Aber nur fast. Denn in Malin stieg die Angst vor Neumond. Wenn das Heilen nur halb so schlimm endete wie das Beißen und Blutsaugen, war daran nichts Spaßiges. Ein jeder kann Bibelstellen problemlos googeln und über Jesus wird berichtet, dass er spüren konnte, wie Energie von ihm fließt. AB-fließt. Also weg fließt. Und jeder, ich sage mal vorsichtig, fast jeder kennt das Gefühl, wenn er Drogen nimmt oder ein plötzlicher Krankheitsausbruch oder was auch immer passiert, wenn man eine Welle von Energie in sich weg fließen spürt. Es ist ein Verlust, der einen bis auf die Knochen blank werden lässt.

Dazu hatte Kommissar Toni erwähnt, was an Neumond im geheimen Gefängnis losbrach:

„Vergiss le Gier an Vollmond, le zischende Verlangen nach Blut. Kinderkram. Nein. Le Brüllen an Neumond. DAS ist das Ohrenbetäubende! Was ein Glück, dass le Gefängnis tief in le Erde eingegraben ist. Eine Schmerzsymphonie aus Kreischen und Brüllen, DAS wäre mal ein Horrorfilm! Eine ganze Stunde lang. Mit Ansage. Suche dir jemanden, den du heilen willst. Oder gehe auf schnellstem Weg ins Krankenhaus - sobald du die Anzeichen spürst. Du wirst Kranke dann zunehmend spüren können. Viel Spaß!“

Der Abend vor Neumond war wieder ein Wochenende.

21:30. Malin machte sich schick und fuhr mit den Öffentlichen zu der Russenfeier. Sie wollte einfach rumfragen, einen anderen Plan war ihr nicht eingefallen. Sie war wohl „dressed to kill“, weil sie wusste, dass deren Frauen sich teilweise sogar zum Einkaufen aufstylen. Was sicher nichts ist im Vergleich zum Hübschmachen für die Disco. Die Lippen, die Wimpern, just perfect. Als intelligente Frau wusste Malin, dass gutes Make-Up das ist, was einen gut aussehen lässt, ohne dass man es allzu deutlich erkennt. Nein. Hier musste sie sich aufdonnern! Sie musste sich aufstacheln, die Musik bebte Energie durch die ganze Wohnung: VNV Nation Mix DeVision – I regret.

Das Hinkommen war nicht das Problem, das Reinkommen so aufgedonnert, wie sie das Beste aus ihrem Äußeren gemacht hatte, auch nicht.

„Ich suche einen Programmierer namens Sewa“, sagte sie am Eingang zum Kassenmann.

„Den sucht man nicht, der findet DICH!“ gab der nur zurück und grinste bedeutungsschwer: „Der sucht dich sogar. Wo du auch bist.“

Damit war das Gespräch für den Kassenmann beendet. Für Malin aber war es eine Bürde und sie wollte mehr Infos. Aber der Kassenmann wandte sich so entschlossen den Nachdrängenden zu, da war kein zurück. Sie suchte ihren Weg zur Garderobe und gab ihre Jacke ab.

„Einen Euro bitte“, sagte der Garderobier, nachdem sie Deutsch zu ihm „Eine Jacke“ gesprochen hatte. Sie gab ihm einen Zwickel „Du kannst den Rest behalten, wenn du mir was erklärst.“

„Was denn?“

„Ich suche einen Websitenprogrammierer namens Sewa und der an der Kasse hat gesagt, der würde MICH suchen...“

„Das ist seine Einstellung“, lächelte der Garderobier mit dem langen Rauschebart freundlich. „Das sagt er immer wieder. Er sucht jeden. Und zwar heim.“

„Heimsuchen?“ Das Mulmige flutete jetzt durch Malin, sie machte große Augen, ihr Herz pochte laut in den Hals hinein.

„Mit seiner Kunst. Sewa ist der DJ.“ Der Garderobier grinste breit.

Malin musste lachen.

Aber das Lachen verging ihr schnell: Zu dem DJ gab es kein Durchkommen. Es gab nur ein Weg - und zwar sich hinstellen, möglichst prominent auf die Tanzfläche. Mit dem Gesicht zum DJ und dann möglichst auffällig tanzen.

Eine Viertelstunde wusste den Blicken nach jeder, dass die Kurzhaarige etwas vom DJ wollte. Weiter gekommen war sie nicht. Schließlich verlor sie Schwung und wollte sich ein Getränk holen. Sie wartete am Tresen und beäugte die um sie herum. Es war ein großes Gedränge, zehn Minuten später war sie kaum Zentimeter vorwärts gekommen.

„Trinkst du auch Vodka Bull?“ fragte sie ein mittelgroßer Mann mit zerzausten Haaren und freundlichen grünen Augen.

„Manchmal?“ antwortete sie. Sie war so durstig, sie hätte jetzt egal was getrunken.

Der Zerzauste hob seine Hand und deutete eine zwei an.

„Ich bin Sewa“, sagte er, immer wieder zum Tresen lugend. „Du suchst mich?“

„Ach ja“, schrie Malin durch den Lärm. „Ich dachte, du wärst der DJ?“

„Später“, sagte der, sah auf die Uhr. „In fünf Minuten. Gehen wir kurz hoch?“

Da kamen die Getränke auch schon und Sewa führte sie die Treppe hoch. Oben konnte man sich unterhalten, er hielt ihr eines der Gläser hin.

„Danke“, Malin nahm es an, zog einen tiefen Schluck. „Ich suche den Programmierer der Website von Sandu. Ein Rumäne, er verkauft Freundschaftsbänder. Ich bräuchte da eine Website...“

„Ach so“, Sewa sah auf die Uhr. „Und ich dachte schon, du kommst von Julias Aktion.“ Sewa erläuterte: „Ich habe verlauten lassen, dass ich Kapitalgeber suche und Julia wollte einen Aushang an der Uni machen, bei den Juristen und BWLern: deren Eltern haben manchmal Geld.“ Er drehte sich um. Ging auf einen Rücken zu, tippte ihn an. Ein großer Mann mit Spitzbart drehte sich um. „Michael, übernimm die mal. Ich muss.“

Damit war Sewa weg.

Und Malin sah sich vor dem Mann und lächelte ihn scheu an. Er trug Jeansjacke und Jeanshemd, nicht ganz so edel, aber sie standen ihm gut. Die beginnenden Geheimratsecken verrieten jemanden so Mitte 30. Die randlose Brille machte ihn intellektuell, die warmen Augen gaben dem Ganzen einen menschlichen Touch: ein freundliches Aussehen mit angenehm wirkenden Gesten.

„Ich bin Michael“, er hielt ihr die Hand hin. „Ich bin hier geboren. Kein Russe.“

„Malin“, sie legte kurz ihre Hand in seine, ließ sie aber gleich los. „Malin geschrieben. Aber das a wird zum oah, wie in ooh. Ooah!“

„Sag ihnen nicht, dass ich sie als Russen bezeichne“, Michael beugte sich vertrauensvoll-verschwörerisch zu ihr. „Das mögen die gar nicht!“

„Und was machst du hier?“

„Ich kenne die DJs von einer anderen Veranstaltung in einer anderen Disco“, erklärte er. „Von den Gästen kenne ich keinen. Aber die DJs kenne ich sehr gut.“

„Hast du die Nummer von Sewa?“

„Warum sollte ich sie dir geben?“

Malin empfand Hilflosigkeit. Und ja, der Michael gefiel ihr. Und schließlich wollte sie ja in zwei Monaten sterben. Dazu kam vielleicht schon der erste Einfluss des Neumonds, der ja bei Sandu schon so gewirkt hatte. Auf jeden Fall küsste sie ihn wortlos auf die Lippen.

„Ich kann sehen, was du willst“, entgegnete er barsch. „Du willst mir etwas von dem süßen Honig Wärme geben. Bis ich mich daran gewöhnt habe. Und dann kommt deine Zickigkeit, dein Kopfweh beim Sex, dein Eigensinn, deine Orgasmusgier bei gleichzeitigem Egoismus, was meine Bedürfnisse angeht. Daneben eine unstillbare Konsumsucht mit gelegentlichen prüfenden Zweifeln, du willst hören, dass ich dich wirklich liebe und nicht den Club oder mein Auto. Und kaum suche ich nach Worten, drehst du dich innerlich schon um, gibst mich auf, gibst die Hoffnung auf. Und ich soll dann darunter leiden, dass du doch wieder die Alte bist. Weil wir alle nicht aus unserer Haut können. Aber wehe! ich sage dir, dass ich an dir zweifle. Dann nehme ich dir deine Potenziale. Und wenn ich dir sage, ich liebe dich so wie du bist, dann nehme ich dir die Energie, dich ändern zu wollen. Am Monatsanfang und wenn du dir neue Schuhe gekauft hast glaubst du, du wärst was Besonderes. Wenn aber dich jemand niedermacht, am Besten deine Eltern oder Geschwister, dann glaubst du, du bist nichts wert. Du schaffst es, bei einem Liebesfilm zu heulen und mich gleichzeitig als Heulsuse zu beschimpfen, wenn ich das auch tue. Weil du sagst, ein richtiger Mann KÖNNTE heulen, tut es aber nicht. Und noch mehr so pseudo-geistreiche Sprüche. Wie Niveau ist keine Hautcreme. Aber auch du benimmst dich niveaulos - manchmal. Weil am Ende der Sache steht einfach, dass du dich nicht kennst oder liebst. Dass du dich nicht zähmen und nicht wachsen lassen kannst. Du weißt nicht, wer du bist, noch wer du warst und schon gar nicht, wer du sein könntest. Und ich werde dann zum Lückenbüßer für deine Lücken. Für alle. Für die seelischen. Für die psychischen. Für die beruflichen und Ziellücken. Und für die sexuellen Lücken. Löcher. Nein, ich sage nein. Es gibt ein Gedicht, das heißt, wenn das Land sagt, macht Soldaten, Frauen sagt nein. Ich aber sage: Wenn die Frauen kommen und sagen, macht Liebe. Männer sagt nein. Das Locken des ewig Weiblichen ist nichts weiter als ein Locken in die Falle. In die Falle, in der Mann nicht lernt. Sondern immer nur die selben Fehler vorgehalten bekommt. Nein, nein, nein.“

„Du bist psychisch krank...?“ Malin spürte wohl etwas. Etwas Aufkeimendes in ihr.

„Schizoaffektive Störung, F25“, er hob das Glas zum Prost. „Pillen wirken sehr gut. Aber wenn ich mental nicht so stark bin, Chester Bennington ist tot, der Sänger von Linkin Park. Schon eine Zeit her, aber dennoch. Und wenn ich dazu zu viel Alkohol getrunken habe, lässt die Wirkung der Pillen nach. Und dann kommt sowas dabei raus. Weil you were shocking. Und ich aber brauche länger, bis ich jemanden an mich ran lassen kann.“

„Ein Kranker“, sagte sie voller sanfter Wärme.

„Es ist jetzt raus, sage ich sonst keinem so schnell“, er wandte sich ab, trank sein Glas fast aus, wandte sich wieder zu ihr um. „Du bist energetisch stark. Whow!“ Er lächelte betont breit, sah verlegen zum Boden, dann ihr in die Augen: „Das Wegstoßen von Leuten gehört dazu. Wenn man emotional berührt ist. Das Buch dazu heißt: Ich hasse dich. Verlass mich nicht. Wann hast du Geburtstag?“

 

„18. Februar.“

„Wassermann. Whow. Ich liebe Wasserfrauen...“

„Und du willst, dass ich dich nicht verlasse?“

„Eine Beziehung zu führen, heißt, jemanden ein bisschen wie heilen. Die Leute versuchen es mit weniger Liebe. Und kriegen die Fresse vermöbelt. Und noch weniger. Und noch weniger. Schließlich wenden sie sich ab. Es wenden sich alle ab. Die Lösung ist einfach und schwerer zugleich: Mehr Liebe wagen. MEHR! Denn das Versprechen heißt, wenn du jemanden geheilt hast, gehört er dich für immer. Das ist das Geschenk des Universums für die Liebe, die heilt.“

Er drehte sich um, legte das Glas ab, drehte sich zu ihr um.

„Gehen wir woanders hin“, er sah ihre Verwunderung. „Wir haben hier beide nichts verloren.“

Er fasste sie bei der Hand und führte sie zur Tür hinaus. Sie sahen ein Taxi, sie rannten darauf zu. Stiegen ein. Der Taxifahrer rollte los, nachdem Michael ihm die Adresse gesagt hatte „Schnieglinger Strasse 11, ein Einfamilienhaus.“

„Meine Jacke“, sagte Malin. „Ich habe meine Jacke vergessen. Sie ist an der Garderobe.“

„Halten Sie“, rief Michael, öffnete die Tür. „Deine Garderobenmarke“. Sie gab sie ihm. „Ich hole sie. Warte hier.“ Und dann war er draußen.

Malin lehnte sich zurück. Das war jetzt stürmisch gewesen. Zu stürmisch.

„Ich muss Geld machen“, sagte der Taxifahrer mürrisch.

„Fahren Sie!“ sagte Malin. Er zögerte. „Beschützen Sie eine Frau! Ich gebe Ihnen 10 Euro extra.“ Der Taxifahrer nickte.

„Nach Johannis.“

Das Taxi fuhr los.

Man muss für das, was jetzt passiert, wissen, dass das Haus von Michael auf halbem Wege von der Disco nach dem Stadtteil St. Johannis liegt. Die Fahrt gestaltete sich zunächst ruhig, dann war es fast halb zwölf. Vor Neumond.

Malin beruhigte sich und sie tröstete sich damit, dass sie seine Adresse hatte. Damit hätte sie einen Hinweis für den Kommissar ergattert. Der Rest würde sich geben. Sie könnte ja zu Michael noch fahren, morgen dann. Egal. Und die Jacke? Egal, ihr war warm. Nein. Falsch. Ihr wurde warm. Und zwar schnell. Sie hörte in sich hinein, sie war das mit Roemhild gewohnt. Es waren Wellen, leichte Ausläufer voller Wärme. Ein klein wenig vergleichbar mit dem aufkommenden Drang, den jeder kennt, wenn er weiß, es wird ihm übel. So wie man sich Wechseljahre vorstellt. Und die Wärme war aber nicht vorwiegend körperlich, sie kam von unten, vom Magen her, und wurde im Kopf zu großer Liebe. Malin änderte ihre Meinung mit einem Mal sprunghaft. Sie wollte noch was erleben.

„Nein“, sagte Malin laut. „Fahren Sie in die Stadt hinein.“

Ihr fiel auf, die Welt um sie herum schien mit einem Mal tröstlicher. Die Musik aus dem Radio von Sia – You loved me back to life tat den Rest – sie wurde liebevoll-heiter.

Sie schaute in sich hinein, hörte. Ein in sich hinein spüren bis in den Bauch hinein, bis an den Rand des Herzens. Bis an die Grenzen der bewussten Wahrnehmung. Zuerst wieder nichts. Und dann Fetzen von Dahinschmelzen. Episoden des Verstehens. Wellen tiefer Wärme. Wogen von Vergebung legten sich über einander, drückten Angst heraus. Fontänen der Liebe. Ein Meer von Mitgefühl. Schauer von Verbundenheit mit allem. Ziehen in der Brust voller Empathie. Zittern vor der allumfassenden Zärtlichkeit der Schönheit von allem. Immer wieder musste sie sich beherrschen, dass sie nicht tief seufzte.

Ich bin im Taxi, dachte sie bei sich. Sie spürte den Taxifahrer. Empfand seine Mühen übers Fahren, konnte dann seine leichte Müdigkeit riechen, der Geruch jahrelangen Mühens, der Duft des sich Kümmerns.

„Haben Sie Familie?“ fragte Malin wie in einem Film.

„Ich habe vor allem Rückenschmerzen“, antwortete der Taxifahrer. Er schien ihr Mitgefühl zu spüren. „Danke der Nachfrage.“

„Fahren Sie zu der Adresse, die Michael Ihnen davor genannt hat. Der Mann.“

Er sah sie verwundert an.

„Sind Sie sicher?“

„Er ist mein Mann“, log sie und dachte, dass er der Richtige war. Ein Kranker. Das Taxi wendete mitten auf der Straße und der Fahrer guckte ihr auf die Finger. „Kein Ring“, sie zeigte ihren Ringfinger. „Mein Ex-Mann.“

Sie sah nach oben, weil über Malin regnete es. Ein Freuderegen über jeden einzelnen Sonnenstrahl des untergegangenen Tages. Blitze der Beschaulichkeit des Abends aus der Erinnerung. Hohe Bogen des Verständnisses für jedes einzelne Insekt. Sogar der Dachhimmel war eine reine Flut der Liebe. Wie zauberhaft-kümmernd er angebracht war. Und der Stoff erst. Schützend-einhimmelnd. Sie zwang sich, nach vorne zu sehen. Erkannte die Hoffnungen der Fliege an der Innenseite der Frontscheibe klar und deutlich fühlbar. Hörbar: „Futter. Licht. Paaren. Hier nicht. Woanders suchen. Futter. Licht. Paaren.“ Sie betrachtete sich im Schminkspiegel, sie konnte den Lebenshunger jedes einzelne ihrer Augenbrauen spüren. Kaskaden von Kitzel auf der Haut des ganzen Körpers bis in die Fersen (die ja dafür gemacht sind, wenig zu fühlen) krochen jedes einzelne Haar erregend über sie hinweg. Betrachtete ihre Hand, ihre ganzen Bakterien auf ihrer Haut leuchteten ein „Leben will“ hinaus in ihr Gefühl. An der Bushaltestelle wartete ein junger Mann, er leuchtete ein „Will begeistert werden“, im Auto nebenan ächzte ein alter Mann „Meine Arme“, aber ehe sie dem Taxifahrer sagen wollte, er solle anhalten, waren sie schon weiter gefahren. Und dann waren sie da und der Fahrer hielt.

Bei diesen Wallungen in sich muss Sandu im normalen Leben geradezu kalt gewesen sein. Das waren die Gedanken Malins, als sie einen 50er aus ihrem Geldbeutel fischte. Sie wollte ihm noch sagen, dass er warten solle, das Krankenhaus war von hier zu weit zum Laufen. Dann aber spürte sie eine Krankheit sie hinaus ziehen. Es war wie das Öffnen eines Ofens im tiefsten Winter und man hält das Gesicht darüber und die Wärme schießt einem ins Gesicht – jedoch stürmte hier eine Art Bedarf zu ihr hinüber, das sie kräftig anzog. Ein Gefühl, als würde ein Glaser einen Riss im Fenster sehen – das sofortige Wollen des Handelns. Hier war sie richtig, war ihr beherrschender Gedanke. Hier konnte sie helfen. Hier würde sie das Menschsein erleichtern. Ja. Menschsein erleichtern. Das traf es gut, dachte sie sich. Hier musste sie hin. Unbedingt! Eine Gier des Helfenwollens. Eine Gebensgier. Warum gibt es kein Wort für Gier anders herum, fragte sie sich? War das Geilheit? Die Geilheit aufs Helfen? Sie warf die Autotür zu, wandte sich um, quiekte vor freudiger Erwartung.

Sie sah die niedrige Mauer. Sie sprang energiegeladen darüber hinweg. Im Haus ging soeben das Licht an. Es war eine Unvollkommenheit darin. Ein Mangel. Ein Gefühl, als hätte man eine Milliarde Euro in den Taschen und man habe den Bettler gefragt, wieviel er haben wolle und er habe geantwortet, nur zehn Cent. Ein überbordendes Überfließen. Gewaltige Blasen in einem übergroßen Kochtopf, das den Deckel mehrere Zentimeter nach oben springen lässt. In wollüstiger Erwartung, dass der Deckel gleich an die Decke fliegt und den Putz weghaut.

„Jiaaa!“ entfuhr es ihr. Sie wollte sich zur Räson rufen, aber sie hatte nicht die Kraft innezuhalten. Sie rannte zur Tür, zog daran. Sie war zu.

„Michaeeeeel!“ schrie sie. Dann rannte sie wie ein Wolf, der den Geruch des Bratens durch ein gekipptes Fenster riechen kann, ums Haus. Im Inneren das brüllende Geräusch einer Wespe auf Speed, ein Kreischen, das mit jedem Schritt lauter und lauter und lauter und lauter und lärmender und lärmender wurde. Der Mangel war das. Und ihre Reaktion darauf.

Sie erreichte die Hintertür, sie war ein Spaltbreit offen. Sie stürzte ins Wohnzimmer, da sah sie den Stuhl. Auf ihm stand Michael. Und um dessen Hals ein Strick. Sie stolperte, fiel auf ihn zu, er erschrak, sie hätte ihn fast vom Stuhl gerissen mit ihrer Gier. Aber sie hielt mit letzter Kraft inne, atmete tief durch, dann schnellten ihre Hände vor, sie suchten die Beine, drückten die Jeans hoch, quetschten die Socken nach unten und umklammerten seine haarigen Unterschenkel am Knöchel. Sie packten zu und genau in diesem Moment barst der Staudamm in ihrem Inneren. Wärme, Liebe, Vergebung, Leben, flossen aus ihr ab. Die Schleusen hatten sich geöffnet, Blitze schossen ins Tal der Verzweiflung, Wellen brachen sich Bahn, schossen durch seinen Körper hoch. Und er musste aufstöhnen.

„Ne Wrukolaaaaaah!“ schrie er laut.

Zwei Stunden später lagen sie nackt auf dem Boden. Er lag unten, sie hatte ihren Kopf auf seine Brust gelegt. Sie spürte seinen Atem, der Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig.

„Warum bist du mit dem Taxi weggefahren“, fragte er schließlich.

„Muss die Diskussion jetzt sein?“

„Ja. Ich habe die Theorie, dass das Abtasten am Anfang einer Geschichte sehr viel bestimmt darüber, wie die Geschichte laufen wird“, er wirkte entschlossen. „Es wird halt am Anfang sehr viel festgelegt. Die ganzen Lügen, die eine Beziehung hat. Was man unternimmt. Der Umgang miteinander. Und ich möchte gleich zu Anfang klarstellen, dass ich solche Anfälle nicht dulden werde!“

„Es tut mir leid“, erwiderte sie knapp. „Mir ging das alles so schnell. Es war alles fremd.“

„Akzeptiert“, beschied er ihr. „Ich verspreche dir, es wird fortan gemächlicher ablaufen. Und der Sex wird auch neue, viel zärtlichere Seiten haben.“

„Aber hoffentlich nicht weniger emotional...“ lachte sie befreit.

„Nein“, versicherte er ihr. Dann wollte er wohl die Stille überbrücken. „Wir erfinden jetzt Substantive und dazu unpassende Adjektive. Aber nur vordergründig unpassend. Denn in einer perfekte Welt gäbe es das. Ich fange an: duftende Lieder. Es ist ein Kreativspiel, ich kann das für den Job gebrauchen. Weil der Trend in den Jobs geht zu interdisziplinärem Handeln. Die Kaufleute sollen lernen zu Programmieren, die sozialen und sprachlichen Berufe lernen das Kaufmännische. Und meiner einer, Techniker, wir sollen uns soziale Kompetenzen wie Sprache und Kreativität aneignen. Duftende Lieder also.“

„Einen faltbaren Kühlschrank“, sagte sie, dann eröffnete sie ein neues Thema. „Sewa hat gedacht, ich sei eine Freundin von Julia. Wer ist das?“

„Seine Schwester. Sie ist seit drei Wochen spurlos verschwunden.“

„Wie verschwunden?“ dieses Stichwort löste in ihr eine Ahnung aus.

„Keiner weiß was“, er schüttelte leicht den Kopf.

„Kannte sie einen Sandu? War sie mal krank?“

„Du meinst, ob er sie geheilt hat? Nein. Sewa hat mal gesagt, ein Sandu könne heilen. Er könnte sogar auch mich heilen. Ich sollte ihn mal kennenler...“ Er stutzte. „Ich bin klar im Kopf. Früher als Schizoider hätte der Hinweis gereicht, um mir Gedanken zu machen. Ob du mit diesem Sandu was hattest. Aber jetzt erkenne ich klar, dass ich diese Befürchtung habe. Und es löst in mir keine nagenden Gedanken aus. Kein Selbstzerstörungstrieb mehr da.“

„Ich hatte eine Nacht mit ihm“, sie hob ihren Kopf und sah ihm in die Augen, wollte ihn und seine ach so klaren Gedanken prüfen. Aber er schüttelte nur den Kopf. Zuerst zweifelnd, dann lächelnd und deutlich.

„Nein. Keine Eifersucht. Nichts Brennendes in mir. Was vergangen ist, ist vergangen. Wenn es vergangen ist.“

„Ist es“, sie legte den Kopf wieder auf seinen Brustkorb. „Mir ist aufgefallen, er war eigentlich für das, was er fühlte, reichlich emotionslos.“

„Was hätte er denn fühlen sollen?“

„Die Nähe der heilenden Allmacht des Universums.“

„Es gibt verschiedene Stadien der Gewöhnung. Verliebtheit verwandelt sich nach etwa sechs Wochen in Liebe um oder es verschwindet. Andere Umstände werden nach 21 Tagen verarbeitet, wenn man in eine neue Wohnung zieht als Beispiel. Oder auch: wenn man 10 Mal eine Sache nicht mehr gekoppelt hat, dann ist es fest. Wenn man z. B. nach dem Duschen immer seine Emails gecheckt hat. Oder eine geraucht hat. Dann muss man zehn Mal duschen ohne Emails, ohne Rauchen, damit die neue Verbindung im Gehirn sich gefestigt hat. Du wirst dich vielleicht daran gewöhnen…?“

„Mein Dozent“, sagte sie, sie rutschte an ihm hoch und küsste ihn auf dem Mund.

„Meine Heilerin“, antwortete er. „Nichts mehr da. Der Sturm in meinem Kopf ist nur noch ein laues Lüftchen über einem Ozean von Ruhe. Früher waren meine Gedanken so sprunghaft wie ein Eichhörnchen. Mit dem Ängstlichen eines Hasen. Jetzt ist es der ruhige Blick eines Wals. Mit der Freundlichkeit eines Delphins. Ich war ein sprudelnder Bach, ungestüm eilend. Jetzt bin ich ein Ozean, ruhender Überblick. Angekommen. Bei mir. Was für ein Geschenk!“

 

„Ein Poet. ER. Der Mann. Ist ein Poet. Ich habe mir einen Poeten geangelt. Juhu. Mein Herz singt zu einem Poeten.“ Sie lächelte mit dem ganzen Gesicht. „Was machst du eigentlich beruflich?“

„Bauingenieur. Wenig Poesie!“ Er presste die Lippen zusammen, wie bei einer Entschuldigung.

„Ein Brückenbauer...“ Sie nickte, sie hatte es ihm gegeben. Dann sah sie ihm in die Augen. „Kennst du das Wort, das Gegenteil von Gier?“

„Nein, aber wir können es googeln...“

Eine halbe Stunde später hatten sie nichts gefunden.

„Dann gibt es das wohl nicht“, schloss er den Laptop.

„Dann erfinden wir es“, sagte sie. „Ich sage, wir nennen es ‚molinieren‘. Die Gier, jemanden zu helfen. Die Gier zu geben. Im Gegensatz zur Gier, die ja ein unbedingtes Wollen des Nehmens ist. Der Helfereifer. Der Maßstab für den Helferleinkomplex.“

„Von deinem Namen her?“

„Ja. Und zwar darf es nicht mit a geschrieben werden. Weil dann gerät es in die Nähe von ‘malign‘, was da heißt ‘bösartig‘. Kommt aus dem Französischen - oder Latein.. Ein Tumor kann malign sein.“

„Einverstanden“, er wollte aufstehen.

Sie hielt ihn zurück.

„Du hast bei dem Namen Julia gezuckt. Warum?“ fragte sie.

„Weil sie sich sehr wohl überlegt hat“, er stand auf. „Sie hat darüber nachgedacht, eine Wrukola zu werden...“

Am nächsten Tag fuhr Malin zu dem verabredeten Treffpunkt mit Marianna, sie hatte die Mutter über die Party eingeweiht. Und Malin würde den Affenverein in Roth bei Nürnberg besuchen, dieser Roman wollte sie kennen lernen. Dort wurde ihr Andi vorgestellt, er war mit in der Partei. Andi war ein leicht untersetzter Mann mit Errol Flynn-Schnurrbart und Gamsbart vorgestellt, er hatte deutlich buschige Augenbrauen. Aber die Haare hatten sich vom fast glatzköpfigen Kopf anscheinend aufs Gesicht verlegt, hatten den Hinterkopf aufgegeben. Er hatte stechende grüne Augen, eine Stummelnase und auf der Wange waren ein zwei Pickel, obwohl er sich als 27Jähriger ausgegeben hatte.

„Ich bin ein Techie seit ich denken kann“, er hielt ihr seine kräftige Hand entgegen.

„Und Bodybuilder“, erwiderte Malin, sah bewundernd seinen kräftigen Oberkörper.

„Wenn ich nicht im Fitnesscenter bin, mache ich was mit Technik.“ Er holte ein Paket hervor und hielt ihr eine Schachtel kleiner Aufkleber hin. „Das sind RFID-Chips. Die kann man orten. Die kannst du auf die Käfige auf dem Unterboden aufkleben. Dann können wir sie verfolgen.“

„Aber sie werden sie entdecken?“

„Dafür sind diese Schachteln da“, er hielt ihr die anderen hin. „Es sind Aufkleber, in Fürth gibt es eine Firma. Mit verschiedenen Tönen von Holz und Metall. Frisches hellgraues Holz, dunkles Holz, schmutziges Holz, Farbe vom frischen Stahl, vom alten Stahl, vom rostigen Stahl. Ich empfehle, jede Art der einzelnen Streifen in eine andere Tasche zu stecken. Merke sie dir. Dann kannst du den Aufkleber direkt auf den RFID-Chip aufkleben, Rand fügt sie ein, ist unsichtbar.“

„Haben Sie eine Julia Petrowskaja eingekerkert?“ fragte Malin den Kommissar direkt.

„Nein. Sollte ich?“ Er hatte die Hände auf den Hosen des schwarzen Anzugs gelegt und öffnete sie jetzt zur Seite, wie um es zu unterstreichen. „Hat Sandu sie auch dazu gemacht?“

„Ich weiß es nicht. Sie ist verschwunden.“

„Ich soll sie für dich suchen?“ der Kommissar rätselte über ihren Willen, ihren Besuch bei sich zu Hause.

„Sie haben mir Angst eingejagt“, sie nickte. „Sie schulden mir was.“

„Angst? Wovor?“

„Vor dem Heilen. Ich dachte, es ist eine starke Energie, die abgeht. Und man bleibt hinterher zurück ohne Energie. Ausgeblutet.“

„Du weißt doch gar nicht, was es heißt, ausgeblutet zu sein! Und jetzt wirst du es noch viel weniger wissen.“

„Wieso?“

Er kam auf sie zu, packte sie mit Gewalt am Arm.

„Komm mit!“

Er zerrte sie zu einem Tisch, hielt ihren Arm mit der Linken fest. Dann hatte er ein Messer in der Rechten, ein Opinel, die scharfen Franzosen, und zog ihr einen Schnitt in die Handfläche. Das Blut quoll hervor, sprang auf den roten Teppich, aber anderes rot. Und auch nicht so zart flauschig.

„Auaaaa!“ schrie sie laut. Dann sah sie erschrocken auf ihre Hand, denn sie spürte was. Heilungsenergie wurde vom Körper gebildet. Das Blut hörte auf zu fließen, weil sich die Wunde schloss. Und dann war die Wunde geschlossen. Sie sah ihn entsetzt an.

„Wie…?“ Sie sah in verwundert an. „Sie sind ein elender Arschloch!“

„Nein. Nur eifersüchtig. Ich muss aufpassen, dass mir nichts passiert. Du nicht.“ Er legte das Messer wieder hin, steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Heilen zu können ist in Kontakt zu treten mit dem Höchsten“, er deutete nach oben. „Du bist mit Gott in Kontakt, Dummchen! Aber wenigstens hat le Ganze auch einen Nachteil: Jemanden nicht heilen zu können. DAS ist die Hölle! Den Mangel sehen. Verkorkstheit sehen. Krankheit sehen. Le Energie dazu zu haben. Zu haben meinen. Pure Katastrophe. Desaster. Untergang. Bersten vor Können – nicht dürfen! DAS macht die Wrukolas im Gefängnis so schreien. Was für ein Wahnsinn le Welt doch ist!“

„Im Gegensatz zum Sex, den man der Frau nicht gegeben hat, meinen Sie?“

„Bitte?“

„Ist es einfacher, wütend zu sein auf die eigene Frau, weil sie mit einer Lesbe geschlafen hat?“

„Man muss nicht mit einer Frau schlafen, nur weil man gerne geleckt wird“, er wischte es weg und hatte wieder diesen scharfen Blick drauf. „Man weiß erst seit Kurzem, dass le spezifische Entfernung der Klitoris zum Vaginaleingang entscheidend ist, ob eine Frau leicht oder schwer oder gar nicht bei le Penispenetration kommen kann. Je weiter weg, desto schwerer. Bis hin zu unmöglich. Dann braucht Frau halt einen Partner, der mit der Hand kann. Oder halt lange leckt, bis zu ihrem Orgasmus. Ich bleibe dabei: Man muss als Frau nicht lesbisch werden, nur weil man gerne geleckt wird. Das führt nur zum Frustlesbentum, und le Lesben haben ihre liebe Not mit Frauen, die nicht wirklich lesbisch sind.“

„Amen.“

„Wie ich schon sagte, meine Frau hat mir den Ganzkörpersex beigebracht“, er grinste diebisch. „Damit stehen mir bei anderen Frau alle Türen, nein: alle Tore offen. Endlich ein Mann, sagen sie, der nicht bei le Hälfte des Weges der einen halben Seite stehen bleibt. Zumal ich zwei Eigenschaften habe, die mir le Leben seeehr erleichtern. Erstens: ich stehe auf Frauen in meinem Alter. Das macht das Leben billig – le Frauen haben ihr eigenes Geld. UND ich bin der Meinung, es gibt keine Männer, die auf kleine Brüste stehen. Es gibt nur Männer, die auf große Titten stehen. Und die, die Angst haben vor hängenden. ICH bin der einzige, der kleine Titten mag – auch wenn sie hängen. Mit dieser Kombi gehören alle ab 43 alleine MIR. Muahahaha!“ Er strahlte übers ganze Gesicht. „Du siehst, Häschen, ich bin mit le Ehe mit meiner Frau im Reinen. Ich bin Christ, ich kann vergeben.“

„Ach, was ist das denn für ein Attribut?“ jetzt war Malin wütend.

„Jetzt hör mal zu, Kleines. Das Gehirn ist gemacht, um Muster zu entdecken. Wenn man bei einem Spiel z. B. Solitär eine Karte (eine 5) dringend braucht, aber sie kommt nicht. Und dann startet man ein neues Spiel, und dann ist le 5 da. Dann glaubt le Mensch, dass sich le Computer gegen ihn verschworen hat. Was der natürlich nicht hat. So entstand die Religion, le Mensch sucht eine Ursache in einer Wirkung. Ganze Nobelpreise beziehen sich auf le Unfähigkeit des Menschen, Zufälle richtig einzuschätzen. Wahr ist aber, das eigene Gehirn ist so gemacht, dass es zu einer Wirkung eine Ursache sucht. So entsteht das Gedankenkonstrukt des Karma und des ‚tue Gutes, dann widerfährt dir Gutes‘.“ Er machte eine Pause.

„Der christliche Glaube, dass man durch Beten Dinge aktiv beeinflussen kann, ist somit ein Trugschluss. Diverse Versuche, durch Beten aktiv Dinge zu beeinflussen sind gescheitert. Und das nicht nur, weil le Andere einen eigenen Willen hat. Somit kann das „lange, ausdauernde“ Beten um konkrete aktive Beeinflussung womöglich in le Reich der Mythen geschickt werden. Weil es sich hierbei um das schlichte Warten auf le Eintreten des Zufalls handelt. Ist somit das ausdauernde Beten unsinnig? Nein. Und das aus dem folgenden Grund: es ist die Magie des Glaubens.

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