Das Traummosaik

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9

Anders als zwei Tage zuvor standen keine Polizeiwagen vor der Wohnanlage, als Finkler sein Auto abstellte. Schade, dass die Hausbesetzer damals keinen Erfolg gehabt hatten, dachte er, als er in die Durchfahrt des Gebäudes ging. Der Kran war abtransportiert worden. Lediglich ein Flatterband der Polizei sicherte die eingebrochene Stelle, als er auf das Parkdeck trat.

Inzwischen hatte es zu regnen angefangen. Finkler spannte den Schirm auf und lief gebeugt über den Hof zur Öffnung. Ungute Erinnerungen griffen nach ihm, als er über den Rand nach unten blickte. Hinunterspringen würde er nicht noch einmal.

»Da haben sie eine Leiche rausgezogen.«

Finkler drehte sich um. Ein älterer Mann in einem warmen Lodenmantel sah ihn unter einer Schiebermütze neugierig an. Ein kleiner Mischlingshund zerrte an seiner Leine. Er winselte im Regen und sah sein Herrchen flehentlich an.

Finkler zeigte dem Mann seinen Dienstausweis. »Wohnen Sie hier?«

»Ich bin seit meiner Geburt hier im Viertel. Und seit zweiunddreißig Jahren hier im Haus. Wir waren froh über den Komfort damals. Keine Ölöfen mehr wie in der alten Wohnung. Heute ist das alles ein bisschen in die Jahre gekommen, obwohl die mit der Zeit einiges investiert haben.«

»Wer sind die?«

»Na, die Verwaltungsgesellschaft. Das Haus gehört so einem Fatzke in der Schweiz.«

Finkler beließ ihn bei seinem Irrtum. »Haben Sie den Namen der Verwaltungsgesellschaft?« Der Mann nickte und gab Finkler breitwillig den Namen und die Adresse. Währenddessen ruckte er immer wieder an der Leine, damit der Hund zu ziehen aufhörte.

»Was war mit den Protesten der Hausbesetzer?«

»Sie wissen davon? Das ging eine Weile so. Erst wurden die Häuser besetzt, um sie zu retten, dann ziemlich rabiat geräumt.«

»Rabiat?«

»Das war wie eine Straßenschlacht mit Verletzten und so. Nach dem Abriss, als bereits gebaut wurde, kam es immer wieder zu Aktionen, Maschinen wurden beschädigt und Material unbrauchbar gemacht. Diese ganzen linken Spinner mit ihrem Protest waren mir suspekt. Haben nur Unruhe reingebracht und was von Unrechtsstaat gefaselt. Genauso wie dieser Reporter – Ferdinand Nager, wobei der Name Programm war. Verdammt lange Zähne. Verstehen Sie? Hat die Fakten verdreht, wo er nur konnte. Das war damals nicht anders als heute mit den Medien.«

Bevor der Alte mit einer Tirade über die Falschmeldungen der Mainstreammedien beginnen konnte, zu der er ganz offensichtlich gerade ausholte, bedankte sich Finkler und ging.

***

Ferdinand Nager war inzwischen achtundsiebzig und hatte in seiner langen Laufbahn als freier Journalist für viele renommierte und weniger geachtete Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Tendenziell war er eher links. In den achtziger Jahren hatte sein Engagement der Hausbesetzerszene in Frankfurt gegolten. Finkler fand mehrere Artikel, in denen er sich kritisch gegen die damals grassierende Spekulationswelle wendete, die einige Stadtviertel vollkommen umgekrempelt hatte. Der Fall der Immobilie, die Finkler interessierte, hatte es nicht zuletzt durch seine Reportagen mehrfach in die Presse geschafft. Nager war so nahe dran gewesen, dass er selbst in eine der Schlägereien geraten und ins Krankenhaus transportiert worden war.

Schließlich fand Finkler unter Ferdinand Nager tatsächlich einen Eintrag im Netz, doch niemand hob ab, als er die Nummer wählte.

***

Der Club Rose lag in einer Nebenstraße in der Nähe des Finanzzentrums. Eine angesagte Adresse, die in dem Ruf stand, den ausgelaugten Arbeitssoldaten der Banken nach Büroschluss die besten Cocktails der Stadt zu servieren.

Es ging schon auf elf Uhr zu, als Finkler mit Melanie die Treppe erreichte, die in den Barbereich hinabführte. Als sie sich bei ihm einhängte, lächelte Melanie ihn an. Er hatte sich wie versprochen Sakko und Hemd angezogen, dazu seine rahmengenähten Budapester. Doch mit ihr konnte er nicht mithalten. Ihre blonden Haare schimmerten im Licht der Lampen wie Gold. Sie flossen weich über ihren Rücken und bildeten einen schönen Kontrast zu dem dunklen Hosenanzug, den sie trug. Er roch ihr Parfüm und genoss es, mit einer so attraktiven Frau auszugehen.

Melanie hatte eine Ausstrahlung, die sie von anderen abhob. Wenn sie einen Raum betrat, wandte sich ihr die Aufmerksamkeit zu. Doch das letzte Jahr war auch für sie nicht einfach gewesen und so hatten sich erste kleine Fältchen um ihre Augen geschlichen.

Vor seinem Unfall waren er und Melanie häufig in solche Clubs gegangen. Sie hatten viel getanzt, miteinander geflirtet, getrunken und waren schließlich meist für den Rest der Nacht in Melanies Wohnung mit dem grandiosen Blick auf die Skyline gestrandet. Eine andere Zeit, wie ihm heute schien. Fast ein anderes Leben.

Sie schlenderten zur Bar, die sich an der Wand des Gewölbekellers entlangzog, und setzten sich auf die chromglänzenden Barhocker. Obwohl es mitten in der Woche war, war der Club rappelvoll. Einige Gäste bewegten sich auf der Tanzfläche im Rhythmus der Musik, die laut durch den dämmrigen Raum dröhnte. Die meisten aber standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich laut im wechselnden Licht der LEDs, die hinter den Glasregalen blinkten. Viele der anwesenden Männer schienen noch den Anzug und die Krawatte vom Morgen zu tragen und waren offensichtlich gleich nach der Arbeit hierhergekommen. Es wurde viel gelacht, manchmal zu laut und zu schrill. Finkler war sich sicher, wenn er mit einem Drogenhund zwischen den Gästen hindurchliefe, würde das arme Tier nicht wissen, wo es zuerst bellen sollte.

Melanie las gut gelaunt die Cocktailkarte, während Finkler dem Barmann winkte. Der Mann hatte sich die Haare zurückgekämmt und das Hemd unter der Weste weit aufgeknöpft. Der Prototyp eines geschmeidigen Südeuropäers, der, wenn er nicht mit Ausschenken beschäftigt war, mit vollem Einsatz die Bar oder Gläser auf Hochglanz polierte. Finkler sah zu, wie er die Zutaten abmaß und in den Shaker schüttete, während seine dunklen Augen den Raum abtasteten wie eine Überwachungskamera. Dem Mann entging nichts.

Er orderte einen Tequila Sunrise und Melanies geliebten New England Highball.

Während sie auf die Cocktails warteten, beobachtete er die Umstehenden in der Hoffnung, der Zufall möge ihm behilflich sein, doch niemand reagierte auf ihn. Als ihre Getränke kamen, stießen sie an und Melanie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, dann einen weiteren, diesmal auf die Lippen.

»Tanzen?« Ihre Augen hatten einen besonderen Glanz, als er ihr auf die Tanzfläche folgte. The beauty and the beast, schoss es ihm durch den Kopf.

Nachdem sie ein paar Runden auf der Tanzfläche gedreht und sich in der Musik hatten treiben lassen, wurden ihm die Umstehenden egal. Er drückte Melanie eng an sich. Es war schön, ihre Arme um seinen Hals und ihren Körper an seinem zu fühlen, und Finkler spürte, wie sich endlich der Knoten in seinem Inneren löste und Frust und Sorgen wie trockener Lehm von ihm abplatzten. Erst als die Musik wechselte und sie Melanie nicht mehr gefiel, kehrten sie an die Bar zurück und bestellten eine neue Runde.

Der Barmann kam mit den Gläsern, schenkte Melanie ein Lächeln, das hart an der Grenze zur Anzüglichkeit war, und blinzelte Finkler verschwörerisch zu, doch mit einem Mal stutzte er und ging mit fragendem Blick davon.

Melanie sog an ihrem Strohhalm. Auch sie hatte das Zögern bemerkt.

»Kennt der dich?«

Er feixte. »Du weißt doch, mein Gedächtnis ist nicht voll auf der Höhe. Ich frag ihn mal.«

Er ging die wenigen Meter zur Bar, wo der Barkeeper mit den Zapfhähnen beschäftigt war.

Der Mann sah kurz auf. »Schön, Sie wiederzusehen. Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«, rief er gerade so laut, dass Finkler es trotz der Musik verstehen konnte.

»Ich hatte einen Unfall. Hat mich längere Zeit außer Gefecht gesetzt.«

»Deshalb waren Sie also so lange nicht hier.«

Finkler nickte, obwohl er keine Erinnerungen an den Mann hatte. »Ich war im letzten Jahr öfter mit einem Bekannten hier – haben Sie den in letzter Zeit mal gesehen?«

»Nein, leider keine Idee, wen Sie meinen könnten.«

Finkler setzte gerade zu einer neuen Frage an, als er sah, wie sich ein Kerl neben Melanie an den Tresen stellte.

»Was will der denn?«, sagte er mehr zu sich selbst, doch der Barkeeper hatte ihn gehört.

»Nehmen Sie es ihm nicht krumm. Bei Dr. Altmann wird es ab und an mal der eine oder andere Drink zu viel. Sie verstehen?«

Finkler nickte und ging hinüber, während der Säufer unverhohlen an der Perlenkette vorbei in Melanies Ausschnitt starrte.

»Das ist mein Platz.«

Altmann ignorierte ihn und konzentrierte sich auf Melanie. »Was trinken Sie?«

Die Augen des Typen waren rot unterlaufen, doch Finkler erkannte, dass hinter dem Mann, der Kleidung nach zu urteilen, einiges an Geld steckte. Wahrscheinlich ein Banker.

Er legte seine Hand auf Melanies Knie.

Finkler sprang vor, doch noch bevor er den Mann an der Schulter packen konnte, stieß Melanie Altmanns Hand beiseite.

»Nimm deine dreckigen Pfoten weg, sonst kannst du was erleben.«

Sie rutschte wütend vom Barhocker und lief in Richtung Toilette, während ihr Altmann mit glasigen Augen hinterherschaute.

»Wie kommst du an solch eine Braut?«, wandte er sich an Finkler.

»Geht dich das was an? Nein, also verpiss dich!«

Altmann grinste überheblich und musterte Finkler. »So wie du aussiehst, musst du innere Werte haben.«

»Das unterscheidet uns vermutlich.«

Altmann wandte sich ab und winkte dem Barkeeper, der wusste, was verlangt wurde.

 

Als der Betrunkene kurz darauf mit einem neuen Bier in der Hand davontorkelte, rammte er seine Schulter absichtlich in Finklers Rücken und schüttete einen Teil seines Getränks auf dessen Schuhe. Anstatt sich zu entschuldigen, murmelte er: »Komisch, irgendwie kommt mir deine Fresse bekannt vor.«

Noch bevor Finkler etwas antworten konnte, war Altmann zwischen den Gästen verschwunden. Finkler war völlig überrumpelt, doch gerade als er ihm hinterherwollte, kam Melanie zurück. Ihr Gesichtsausdruck bedeutete nichts Gutes.

»Bring mich bitte nach Hause.«

Er versuchte, sie zum Bleiben zu überreden, aber sie nahm einfach ihre Tasche und Jacke und wandte sich zum Ausgang. »Ich geh schon mal raus.«

Er zahlte und folgte ihr fluchend die Stufen hinauf. Noch vor zehn Minuten hatte es so ausgesehen, als würde der Abend in Melanies Bett enden, doch das konnte er sich abschminken, so gut kannte er sie.

Inzwischen hatte es zu stürmen begonnen. Windböen wirbelten welke Blätter durch die Luft.

Ärger blitzte in ihren Augen auf. »So ein schöner Abend. Dann kommt dieser Säufer und jetzt schickt mir meine Chefin eine Info, dass ich morgen früh um halb acht zu einem Meeting auftauchen muss.«

Sie schwiegen frustriert, bis er sie vor ihrem Apartmenthaus absetzte. »Ich bin müde. Also ohne Umwege ins Bett. Okay?« Ihr Lächeln wärmte ihn. »Am Wochenende!«

***

Zu Hause saß er, ohne Licht zu machen, noch lange im Sessel und dachte über den Abend nach.

Der Barkeeper und dieser Altmann hatten ihn erkannt. Da sein Gedächtnisverlust nur die letzten Wochen vor dem Unfall betraf, mussten seine Besuche in dieser Zeit gelegen haben, sonst würde er sich erinnern. Offensichtlich war er alleine dort gewesen, denn ohne Frage hätten die beiden sofort auf Melanie reagiert. Solche Typen vergaßen schöne Frauen selten. Außerdem aus beruflichen Gründen, was wiederum bedeutete, dass es sich um den Rosetti-Fall gedreht haben musste, da er diesen zu der Zeit bearbeitet hatte.

Wer war also dieser Altmann? Kannte er Finkler nur flüchtig aus der Bar oder war da mehr?

Er schrieb Daniel eine kurze Nachricht und bat ihn, Altmann zu checken, ohne zu erwähnen, wie er auf den Namen gekommen war.

Irgendwann, es war schon kurz nach vier Uhr am Morgen, war er vollkommen zerschlagen und schaffte es kaum mehr ins Bett.

Die Wand ist deckenhoch verglast und gibt einen fantastischen Blick auf die nächtliche Skyline Frankfurts frei. Links das angeleuchtete Heizkraftwerk, daneben die vielen Bürotürme und, alles überragend, der Fernsehturm. Er ist in Melanies Wohnzimmer. Schwach nimmt er einen Geruch von Wein und Essen wahr und sieht in der fahlen Beleuchtung unter den Schränken Teller und Gläser auf dem Tresen zur offenen Küche stehen. Sie ist eine gute Köchin und legt großen Wert auf ausgesuchte Lebensmittel, mit denen sie ihn oft verwöhnt.

Momentan trocknet der Rest ihrer grandiosen Lasagne in einer Ofenform vor sich hin. Am Hals der fast leeren Weinflasche prangt der Gallo Nero, Wahrzeichen ihres geliebten Chiantis.

Der Kühlschrank beginnt zu brummen, doch da ist noch etwas anderes. Langsam wendet er sich um, lauscht und späht in den Flur, der zum Bad und zum Schlafzimmer führt. Ein schwacher Lichtschein und die leisen Geräusche kommen von hier.

Vorsichtig schleicht er hinüber, barfuß und im Schlafanzug, wie er plötzlich feststellt. Das dunkle Kirschbaumparkett fühlt sich glatt und kühl an und schmeichelt den Fußsohlen.

Die Tür zum Bad ist verschlossen, doch die zum Schlafzimmer steht weit genug auf, um hineinsehen zu können. Das breite dunkelrote Lederbett, die Flokatis davor, der verspiegelte Schrank, der die gesamte rechte Wand einnimmt, und die kleine Kommode stehen an ihrem Platz und er weiß, dass gleich neben der Tür der Stich irgendeines modernen Künstlers hängt. Auch seine Freundin ist da. Sie liegt in ihrem Bett. Auf ihr ein Fremder. Die Beine über seinem Rücken gekreuzt, genießt sie mit geschlossenen Augen den Sex. Ihr leises Stöhnen, das ihn hierhergelockt hat, geht in die lauter werdenden spitzen Schreie über, die er so gut kennt. Sie steigert sich, krallt sich in die Schultern des Fremden und kommt schließlich zum Höhepunkt, um dann heftig atmend die Augen aufzuschlagen und ihn direkt anzusehen, während der Mann sich in ihr weiterbewegt. Sie scheint nicht überrascht zu sein, ihn zu sehen.

»Tut mir leid, Sebastian, ich hätte es dir lieber in Ruhe erzählt. Deine Zeit im Koma. Er war eben einfach da.«

Sie wendet sich wieder dem Mann zu und es ist so, als ob er für sie nicht mehr existierte. Jetzt erkennt er ihn auch. Es ist der Kollege Melanies, der schon so lange hinter ihr her war: Bodo Baldner.

Er taumelt verwirrt in Richtung Schrank, der – kurz bevor er dagegenschlägt – zur Seite gleitet und ihn in die Bar eines Clubs führt.

Schwerer Zigarettenmief schlägt ihm auf die Lungen. Der Raum ist überfüllt mit Menschen, die sich angeregt unterhalten und trinken. Der Barmann nickt ihm freundlich zu und stellt ihm ohne zu fragen einen Drink hin. Lautes Gelächter schwillt an. Er wirbelt herum und sieht Altmann. Ihm gegenüber sitzt ein heftig schwitzender Mann, dessen Gesicht mit Hämatomen und verschorften Rissen übersät ist. Ein Grinsen teilt sein aufgedunsenes Gesicht.

»Die Braut ist eindeutig zu scharf für dich.«

Wut keimt auf. Er holt aus, um dem Lachenden in die Visage zu schlagen, als aber seine Faust niederfährt, trifft er Prock, der plötzlich dort sitzt, wo eben noch der Unbekannte saß. Procks Nase verformt sich und Blut spritzt hervor. Finkler springt auf und sucht den Ausgang. In Panik flieht er die Treppe nach oben, als ihn jemand festhält. Er will sich wehren, der Griff aber ist sanft und bestimmt zugleich, lässt Wut und Enttäuschung, die in ihm brennen, abklingen. Wärme durchflutet ihn. Sarah Herbst streicht ihm mit den Fingern über seine Wange. Ihre Augen sind offen und zeigen Verständnis. Er greift seinerseits ihre Hand und lächelt, doch als er sie wieder anschaut, ist Sarah Herbst verschwunden und eine Fremde sieht ihn an. Sie spricht zu ihm, er aber kann die Worte nicht verstehen. Blut läuft ihr aus den Augen.

10

Freitag, 18. November

»Um eins vorwegzunehmen: Ich halte die Freistellung angesichts deines Zustandes für folgerichtig und bin froh darüber.«

Finkler öffnete den Mund, doch Sarah hob abwehrend eine Hand.

»Ich bin nicht für deinen Job oder die Karriere verantwortlich, sondern ausschließlich für deinen Kopf und hierfür ist es gut.«

Sie sah auf ihre Unterlagen. Das Thema war durch.

Ihr Gesichtsausdruck verriet Besorgnis. Er war erst gegen Mittag aufgewacht, verwirrt und nun froh, mit ihr reden zu können.

Ihre Augen waren dezent geschminkt, was die Müdigkeit, die in ihnen lag, jedoch nicht verdecken konnte. Ihre Narbe war wie immer nicht abgedeckt. Sie leuchtete in einem kräftigen Rotviolett. Finkler hätte zu gerne gewusst, wie sie ihr beigebracht worden war und wieso sie sich nicht kosmetisch operieren ließ. Ob sie einen Partner hatte? Auch das wusste er nicht. Einen Ring trug sie jedenfalls nicht.

Obwohl Finkler nichts über Sarahs Vergangenheit wusste, bestand eine besondere Verbindung zwischen ihnen. Sie beide waren für alle sichtbar gezeichnet. Er durch den Unfall, sie durch die Narbe. Diese Nähe half ihm anscheinend, ihr mehr zu vertrauen als allen anderen.

Nach dem Krankenhaus hatte er gegen den Willen der Ärzte auf eine Psychotherapie verzichtet und dann, als es nicht mehr ging, die Träume ihn zu verschlingen drohten, ihre Adresse und unzählige Empfehlungen im Netz gefunden, war hergefahren und einfach hereingeplatzt. Sie hatte sofort erkannt, was los war, und ihn beraten. Mittlerweile glaubte er, kaum noch ohne ihre Betreuung über die Runden zu kommen.

»Fang an!« Ihre dunkelbraunen Augen ruhten auf ihm.

Es dauerte eine Weile, bis er ihr alle Einzelheiten erzählt hatte. Sie fragte viel nach, auch weil es ihm nur mit Mühe gelang, die richtigen Worte zu finden.

»In deinem Unterbewusstsein ist etwas in Bewegung geraten. Und der Trigger für die letzte Intrusion muss das Medaillon gewesen sein.«

Finkler schüttelte den Kopf. »Das passt aber nicht. Als der Mord passierte, war ich höchstens zwei Jahre alt. Und anschließend lag das Medaillon über dreißig Jahre unter der Erde. Woher also die Verbindung?«

»Dein Gehirn nimmt es wahrscheinlich nicht so genau. Ein ähnliches Schmuckstück könnte in deiner Vergangenheit eine Rolle gespielt haben.«

Finkler dachte kurz nach. Ihm kam ein beunruhigender Gedanke. »Wir sprechen hier doch immer noch über meine Traumatisierung durch den Unfall, oder?« Sie nickte und wollte etwas einwerfen, doch er bat sie mit einer Geste um Geduld. »Du hast von Überlagerung der Traumata gesprochen. Glaubst du, es gibt da noch mehr aufzuklären, und wenn ja, was genau?«

Sie zog den weißen Arztkittel aus und setzte sich wieder.

»Ja, da gibt es wahrscheinlich noch mehr. Dein Problem ist komplexer, als ich anfangs vermutet habe. Denk an deine Kindheit. Sie war nicht einfach. Vielleicht liegt es daran.«

Sie wendete ihr Blatt. Finkler erkannte Worte und Verbindungslinien und eine Menge Fragezeichen. Das Chaos ihrer Notizen schien dem Chaos in seinem Kopf nicht unähnlich zu sein.

Sarah sah ihn an. »Ich verstehe noch nicht, was es ist. Der verletzte Mann, die Frau mit dem Medaillon, die davoneilende Gestalt und der Garten.« Sie hob die Schultern. »Alles hat eine Bedeutung, doch dein Gehirn wirft uns die Dinge während der Intrusionen ungeordnet vor die Füße. Um das richtig aufzuschnüren, werden wir auch tiefer in deiner Vergangenheit forschen müssen.«

»Muss das sein?« Was Sarah ihm gerade erklärte, bedeutete im Zweifelsfall nichts anderes als einen unendlichen Therapiemarathon. Er wollte keine neuen Probleme aus seiner Vergangenheit aufkochen. Er hatte mit den bekannten Verwerfungen schon genug zu tun. »Gibt es keinen anderen Weg?«

»Du kannst den Therapeuten wechseln.«

Wäre es nicht Sarah gewesen, er wäre an diesem Punkt sofort aufgestanden und hätte die Behandlung für beendet erklärt. Aber so war das sicher das Letzte, was er wollte. Er hob resigniert die Hände.

»Ist schon in Ordnung.«

»Also lass uns damit beginnen, den Traum auseinanderzunehmen. Was ist mit den beiden Personen? Dem geschundenen Mann und der weinenden Frau?«

»Sie waren nicht richtig zu erkennen.«

»Die Gewalt und ihre Trauer passen doch zu deinem Job, oder?«

Er nickte. »Möglich.«

»Was ist mit alten Fällen?«

»Bei den älteren Sachen funktioniert mein Gedächtnis noch ganz gut, doch ich erkenne keine Verbindungen. Wenn da etwas ist, dann hängt es mit dem letzten Fall zusammen.«

»Was ist mit den Objekten, die du auf den Regalen gesehen hast?« Sarah schien kurz einer Erinnerung nachzuhängen. Dann schaute sie ihn wieder an. »Vor drei oder vier Jahren hat eine Patientin ein ganzes Puppenhaus erträumt. Alle Zimmer, die Figuren und Einrichtungen, jedes Detail. Doch sie hat nie so etwas besessen. Kurz darauf rief sie an. Sie war zu Besuch bei ihren Eltern und ist zufällig auch bei einer sehr guten Freundin aus Kindertagen gewesen, die noch immer in ihrem Heimatort lebte. Und sieh an, da stand das Puppenhaus und wurde von ihrer Tochter bespielt.«

»Du meinst, die Objekte in den Regalen könnten verschüttete Erinnerungen sein, die wahllos eingeflossen sind?«

»Ja, so könnte es sein. Dinge, die in deiner Kindheit eine Rolle gespielt haben und jetzt an die Oberfläche drängen.«

Finkler lachte. »Das kann ja lustig werden.«

Um zu erkennen, dass bei seiner Kindheit etwas im Argen lag, hätte er keine Psychologin gebraucht. Diese Zeit glich einer Vollkatastrophe.

Seine Mutter hatte die Familie verlassen, als er noch so klein gewesen war, dass er an sie keine Erinnerung hatte. Nicht einmal ein Foto von ihr war ihm geblieben, sein Vater hatte alle vernichtet. Er hatte lediglich in alten Kartons, die nach dem Tod seines Vaters eingelagert worden waren, die paar Postkarten gefunden, die sie aus Amerika an ihn geschickt hatte, und daraus geschlossen, dass sie ihn und seinen Vater wohl von einem Tag auf den anderen wegen eines Amerikaners in Richtung USA verlassen hatte. Er hasste diese Karten mit ihren Bitten um Vergebung und Beteuerungen ihrer Liebe, ohne dass er sie je hätte wegwerfen können, denn sie waren das Einzige, was ihm von ihr blieb. Sie hatte ihn abgelegt wie schmutzige Wäsche, das war es. Er wusste nicht, was aus ihr geworden war. Für ihn war sie tot, gestorben und vergessen. Nun ja, fast vergessen. Sein Vater war bald gestorben. Unfall mit dem Dienstwagen. Das schwarze Loch danach konnte er noch sehen.

 

Tränen standen plötzlich in seinen Augen.

»Als Kind die Eltern zu verlieren und ins Heim und zu Pflegeeltern zu kommen, hinterlässt mehr Narben, als man denkt.«

Sie las ihn manchmal wie ein offenes Buch.

»Muss zwischen allem, was ich gesehen habe, ein Zusammenhang bestehen?«

»Nein. Ob der gequälte Mann mit dem vergessenen Fall etwas zu tun hat, können wir nur vermuten, es muss aber nicht sein. Genauso wenig können wir über andere Zusammenhänge sagen. Es sind nur Vermutungen. Mal sehr vage, mal schon eher wahrscheinlich. Eins steht aber außer Frage: Für dich persönlich sind diese Punkte sehr relevant, sonst hätte die Intrusion sie nicht an die Oberfläche gebracht. Wir müssen allem auf den Grund gehen. Was ist mit dem Garten?«

»Noch nie gesehen, aber er macht mir irgendwie ein besonders schlechtes Gefühl. Schau dir das an!« Er zeigte ihr seine Hände. Sie zitterten leicht.

»Bleib ruhig. Hast du das Medaillon noch?«

»Ja.«

»Ich will ein Experiment machen, bevor ich Schlüsse ziehe. Morgen ist Samstag, da ist hier nichts los. Komm bitte um zehn vorbei, dann versuchen wir mit dem Medaillon eine Intrusion zu provozieren.«

Unzählige Gegenargumente fluteten sein Gehirn, die alle einen Ursprung hatten: Angst. Er schüttelte den Kopf, wie um sich von den lästigen Gedanken zu befreien, doch ihr Blick schien in ihn hineinzusehen.

»Ich deute das als ein Ja.«

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