Der Fluch der goldenen Möwe

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»Na und? Passt doch auch.« Marian ließ sich nicht beirren. »Wenig gebildet und unerfahren sind Kinder und Jugendliche doch ganz zwangsläufig, jedenfalls gemessen an Erwachsenen – einfach auf Grund ihres geringeren Lebensalters. Wer mehr weiß, traut sich auch mehr. Wer aber wenig weiß, ist unsicher und hält sich eisern an das, was er kennt.«

»Auf alle Fälle trifft das zu«, unterstützte ihn Sina. »Hab ich doch selbst oft genug erlebt, während meines Schulpraktikums im Studium vor ein paar Jahren. Da sind wir mit dem Bus durch Holland und Belgien gefahren. Per Bordmikro habe ich die Schüler auf alle möglichen Sehenswürdigkeiten hingewiesen. Glaubt ihr, das hätte auch nur eine Laus interessiert? Aber kaum tauchte irgendwo ein McDaisy’s-Schild auf, gingen ein Jauchzen und ein wohliges Stöhnen durch den Bus. Da brauchte keiner etwas zu sagen, das sahen die alle sofort.«

»Home is, where McDaisy’s is«, sagte Marian mit versonnenem Blick.

Stahnke verschränkte die Arme. »Dann wollt ihr also sagen, dass die Jugend von heute schon rettungslos auf die Fettfressketten abgerichtet ist?«

»Nicht mit diesen Worten, sicher auch nicht hundertprozentig alle, und rettungslos klingt jetzt auch ein Stück weit sehr negativ – aber ansonsten: ja, durchaus«, antwortete Marian.

»Und wenn die Jugendlichen solcher Burger-Tempel sehen, dann rennen sie hin, ganz egal, was sonst noch im Angebot ist?«

Marian nickte.

»Die Eltern lassen das zu, um ständigen Streit zu vermeiden, oder sie gehen gleich selber mit hin?«

Kopfnicken.

»Und jetzt will jemand hier auf Langeoog, wo es so was bisher nicht gibt, eine Kettenburgerschmiede eröffnen?«

»So sieht es aus«, bestätigte Marian.

»Das wird die hiesige Restaurantszene ganz schön in Alarm versetzen«, sagte Sina. »Gegen solch eine neue Konkurrenz wird sich manches Traditionslokal nicht halten können.«

»Bin mal gespannt, ob sich die anderen Wirte das so einfach gefallen lassen«, ergänzte Marian, dem man die Vorfreude auf kommende Schlagzeilen ansehen konnte.

»Vielleicht kann die Gemeinde ja vermittelnd eingreifen, und man einigt sich irgendwie«, sagte Sina.

»Und wenn nicht?«, fragte Marian.

»Dann gibt es hier Mord und Totschlag«, sagte Stahnke.

4.

»Moin mitnanner!« Mit lautem Ächzen ließ sich Bodo Schmidt auf die Bank fallen. Die Sitzbank ächzte zurück, und die drei anderen alten Männer, die schon vorher auf ihrer angestammten Bank am Langeooger Bahnhof gesessen hatten, wackelten mit den Köpfen. Das konnte als stumme Begrüßung gedeutet werden, oder auch als Zeichen altersbedingter Muskelschwäche, was aber nur auf Harm Bengen zutraf, dessen Kopf allein schon von seiner überschweren Brille nach vorne gezogen zu werden schien. Tatsächlich aber lag das allgemeine Wackeln daran, dass Bodo Schmidts Kugelbauch in den zurückliegenden Wintermonaten noch weiter angeschwollen war.

»Moin«, erwiderte Ocko Onken als Einziger und mit Verspätung. »Und herzlichen Glückwunsch!«

»Wieso Glückwunsch? Bei mir gibt’s doch nichts zu feiern«, sagte Schmidt verdutzt.

»Und ob!« Onken, der mit seinem schlohweißen Vollbart und der verbeulten Schiffermütze wie ein Klischee-Ostfriese aus dem Fernsehzoo aussah, griente breit: »Nämlich dass Walfang heutzutage verboten ist!«

Klaas Reershemius, ein Hutzelmännchen mit spitzem, vorstehendem Kinn, krähte los vor Vergnügen, Harm Bengen kicherte wie irre, und Onken, der ebenso wie sein Banknachbar schon auf die achtzig zuging, würdigte seinen eigenen Witz mit einem heiseren Glucksen. Auch Schmidt lachte mit. Übelnehmen galt nicht, nicht in dieser Runde, nicht auf dieser Bank. Als Mitglied der Langeooger Viererbande war man hart im Nehmen. Und im Austeilen noch härter.

»So ein Wal, der hat doch ’n Klütjeleben«, krächzte Reershemius. »Dauernd im Tran und die meiste Kraft im Schwanz. Bloß Haare hat er keine. Was, Bodo?« Mit seinem Handstock deutete er auf Schmidts Glatze, in der sich die Frühlingssonne spiegelte.

»Jau, dor sechst du wat«, rief Schmidt durch das erneut aufbrandende Gelächter. »Darum wäre Harm ja auch gerne ’n Wal geworden. Aber als Zahnwal isser ja durch die Prüfung gefallen – mangels Masse. Und Barten wollen ihm auch keine mehr wachsen.«

»Tja, Harm, so sücht dat ut! Jetzt bleibt dir vom Wal bloß noch der Fischgeruch!«, sekundierte Onken.

Harm Bengen, der so an seinem fleckigen hellblauen Oberhemd hing, dass er es kaum jemals wechselte, verschlug es für einen Moment die Sprache. In einem seltenen Anflug von Verlegenheit nahm er seine dicke Brille ab, spuckte auf beide Gläser und begann, die Schlieren darauf mit einem Zipfel des besagten Oberhemds zu verreiben.

Bodo Schmidt grunzte. Den üblichen Frontalangriff, mit dem jedes Mitglied der Viererbande unfehlbar rechnen musste, das als Letztes zu den vormittäglichen Sitzungen auf der Bahnhofsbank erschien, hatte er elegant abgebogen. Jetzt konnte das Tagesgeschäft beginnen. Zufrieden warf er sich mit vollem Gewicht gegen die Rückenlehne. Wieder wackelten alle Köpfe bis auf seinen.

»Und?«, fragte Schmidt, »was gibt’s Neues? Wieder allerhand buntes Volk aus Deutschland eingetroffen?«

»Hou!«, erwiderte Reershemius. Dieses Wort – wenn es denn eines war – konnte grundsätzlich alles bedeuten. Eine echte ostfriesische Allzweckwaffe.

»Da kannste einen drauf lassen«, übersetzte Harm Bengen. »Ischa nu Ostern. Da kommen sie wieder alle angehoppelt.«

»Die Alten wie die Jungen«, fiel Ocko Onken ein. »Vor allem die Jungen, hordenweise. Man fragt sich, wo die alle herkommen.«

»Wo die Jungen herkommen?« Reershemius beugte sich vor, stützte sich auf seinen Stock und leckte sich die blassen, schmalen Lippen. »Das weiß du nicht?«

»Nicht mehr«, keckerte Harm Bengen. »Zu lange her, was? War wohl noch vorm Krieg, dein letztes Mal, was?«

»Erster Weltkrieg oder Zweiter?« Bodo Schmidts Wampe wogte vor Lachen.

»Dann müssen wir den jungen Mann wohl mal ein bisschen aufklären.« Klaas Reershemius konnte sich nur mit Mühe auf der Bank halten, trotz seines Stocks.

»Als ob du noch wüsstest, wozu das kleine Ding gut ist, das du jede Nacht beim Pieseln dreimal in der Hand hältst«, feuerte Bodo Schmidt von der Seite. Reershemius verschluckte sich.

»Und als ob du dein Ding seit dreißig Jahren überhaupt noch mal gesehen hättest, außer im Spiegel«, attackierte Onken. Damit war er den Schwarzen Peter wieder los. Und Bodo Schmidt, eben noch so guter Dinge, hockte wieder im Zentrum des erneut aufbrandenden Hohngelächters.

Ein Schrilles Pfeifen unterbrach das Lachen und Lästern. Der Inselzug mit seinen bunten Waggons näherte sich vom Fährhafen her. Erwartungsvoll beugten sich die Mitglieder der Viererbande vor.

Das Ritual war immer dasselbe. Kaum dass der Zug zum Stehen gekommen war, quollen die Touristen über die offenen Plattformen aus den Wagen, liefen ein paar eilige, ziellose Schritte, blickten sich suchend um und hasteten dann auf die große Glastür des Bahnhofsgebäudes zu. Jedenfalls die Neulinge taten das. Die Erfahreneren jedoch, die, die schon einmal oder öfter auf Langeoog Urlaub gemacht hatten, schlenderten in aller Ruhe den Bahnsteig entlang zur Seitenfront des Gebäudes, dorthin, wo die kleinen Containerwagen mit dem Reisegepäck abgestellt wurden, die auf einem flachen Waggon mitgereist waren. Dann allerdings kamen auch die Erfahrenen in Wallung. Die Bahnbediensteten lösten nur noch schnell die seitlichen Verschlüsse der Containerwagen, dann brachten sie sich in Sicherheit, und die Reisenden fielen auf der Suche nach ihren Koffern über die Wagen her. Ob es nun die Neulinge oder die Inselroutiniers waren, die dabei ihre Ellbogen beherzter einsetzen, war schwer zu entscheiden.

»Lernen die eigentliche keine Zahlen mehr heutzutage?«, meckerte Reershemius. »Die Gepäckwagen haben Nummern dran, die kann man sich doch wohl merken.«

»Sind aber teilweise zweistellige Zahlen«, gab Onken zu bedenken. »Und diese Leute da kommen vom Festland.«

»Aus Deutschland«, korrigierte Bodo Schmidt.

»Auch wieder wahr«, gab Reershemius zu.

»Vielleicht merken die sich heutzutage auch nichts mehr, weil die ja meist alle verstöpselt sind«, ließ sich Harm Bengen vernehmen, die flaschenbodendicke Brille wieder auf der Nase. »Das lenkt ja ab, sagt man.«

»Verstöpselt?« Allein dieses Wort klang aus Bodo Schmidts Mund lüstern und schmierig. »Meinst du wirklich?«

»Ja, sicher.« Harm Bengens Kopf wackelte noch eifriger als sonst. »Kann man doch sehen, wie denen überall die Schnüre raushängen.«

»Ich glaube, die merken nicht nur sich nichts mehr, die merken überhaupt nichts mehr«, knarzte Onken. »Die mit den Stöpseln, die können ja schon mal nicht mehr hören, was um sie herum vorgeht. Und die mit diesen Spielzeugtelefonen in der Hand, wo sie dauernd draufgucken, die sehen nichts anderes mehr. Die könnteste statt nach hier auch nach München schicken, die würden den Unterschied nicht merken.«

»Oder nach Gifhorn auf ’n Rübenacker«, behauptete Harm Bengen.

»Oder in die Wüste«, steigerte Klaas Reershemius.

»Oder nach Norderney«, sagte Bodo Schmidt.

Allgemeines Gestöhne und Kopfschütteln. »Nee, das nun doch nicht«, widersprach Ocko Onken. »Langeoog oder Norderney, das kann ja wohl selbst ein Blinder mit Krückstock unterscheiden.«

»He«, maulte Harm Bengen und plierte durch seine Brille. »Nu’ mal fein vorsichtig hier. Pass auf, was du sagst.«

»Genau, vorsichtig«, warnte Klaas Reershemius und rammte seinen Stock auf den Boden. »Selber Krücke.«

»Was seid ihr denn plötzlich alle so empfindlich?«, wunderte sich Ocko Onken.

 

»Ja, stimmt. Was ist denn mit euch?«, pflichtete Bodo Schmidt bei.

»Du sei mal schön still, oller Pottwal«, grummelte Harm Bengen. Klaas Reershemius nickte stumm.

»Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass die Kinder nie was tragen?« Ocko Onken wechselte das Thema. »Ich meine, Koffer, Taschen oder so. Das lassen die alles schön die Alten machen.«

»Wie denn auch«, sagte Klaas Reershemius. »Rundrücken, Übergewicht und zu doof zum Geradeauslaufen. Tragen ist da nicht mehr drin.«

»Ach, so doof können die gar nicht sein«, widersprach Harm Bengen. »Lassen ihre Ollen für sich schleppen, das ist doch clever.«

»Und wenn die doch mal mit anpacken sollen, dann können die das nicht, weil sie ja die Hände voll haben. Mit ihren Spieltelefonen«, sagte Klaas Reershemius.

»Das sind Handys«, korrigierte Ocko Onken.

»Nee, die heißen i-Pods.« Bodo Schmidt wusste es besser.

»Ei-Pott? So was gab’s früher schon. Zum Eierkochen. Für sechs Stück. Mann, hab ich mich an so was mal verbrannt, Teufel auch!«, krächzte Harm Bengen.

»Wieso wollen kleine Jungs denn Eier kochen?«, wunderte sich Klaas Reershemius.

»Na ja, ist ja nu Ostern, vielleicht deswegen.« Harm Bengen zuckte die Achseln.

»Als ob kleine Jungs mit ihren Eiern nichts anderes anzufangen wüssten.« Das war natürlich Bodo Schmidt.

»Ostern.« Aus Ocko Onkens Mund klang das wie ›Themawechsel‹. »Geht ihr denn dieses Jahr auch wieder zum Osterfeuer?«

»Ach, ich weiß nicht«, quengelte Klaas Reershemius. »Ist ja immer alles voller Touristen. Da kommt unsereiner an die Bierbude ja kaum noch ran.«

»Du meinst wohl ans Klohäuschen«, stichelte Bodo Schmidt. »Eins trinken, zwei pieseln, so sieht’s doch bei dir aus. Also ich geh auf jeden Fall wieder hin. Notfalls deponiere ich mir vorher mein Bier unter den Bahnschienen.«

»Trotz all der Touristen?«, wunderte sich Harm Bengen.

Bodo Schmidt grinste lüstern: »Nicht trotz, sondern wegen! Und zwar wegen der Touristinnen.«

»Stehst wohl auf Walkühe«, kicherte Klaas Reershemius.

Ocko Onken machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mach dir bloß keine Hoffnungen, dass es was zu sehen gibt. Ist noch viel zu kalt, die Weiber haben einfach viel zu viel an.« Er deutete auf den Bahnhofsvorplatz, wo sich die letzten frisch eingetroffenen Inselgäste verliefen, begleitet vom mehrstimmigen Quietschen der überforderten Rollkofferräder. »Darum haben wir hier ja auch nur den halben Spaß.«

»Außerdem ist da bestimmt wieder alles voller Kinder«, schob Klaas Reershemius nach. Er hatte sein Hassthema des Tages gefunden; anscheinend ging ihm die Überalterung der Gesellschaft noch viel zu langsam. »Toben da rum und kreischen, oder sie stehen überall im Weg und glotzen auf ihre Spielzeugtelefone, oder von mir aus auf ihre Ei-Pott-Kocher. Und dauernd kriechen sie einem zwischen den Beinen durch und suchen nach ihren Eiern.«

»Ha! Nach ihren, meinst du? Oder nach deinen?« Auch Bodo Schmidt hatte sein Thema, aber das war längst nichts Neues mehr.

»Ohne diese Kinder wäre es beim Osterfeuer auf jeden Fall schöner.« Harm Bengen pflichtete Reershemius bei. »Man müsste die irgendwie da weghalten. Kann man Kinder zu Ostern nicht einfach verbieten?«

Die anderen drei wiegten zweifelnd die Köpfe. »Da hat die Kurverwaltung bestimmt was gegen«, mutmaßte Ocko Onken. »Nee, verbieten geht nicht. Aber weglocken vielleicht.«

»Wie denn weglocken?«, fragte Harm Bengen hoffnungsvoll.

»Na, wo stehen die denn drauf?«, fragte Ocko Onken. »Fernsehen. Oder Computer.«

»Oder dieses Fertigfutter«, mutmaßte Klaas Reershemius. »Diese weichen Brötchen mit Ketchup und so ’ner platten Boulette drauf und geschmolzenem Scheiblettenkäse, wie heißen die noch?«

»Schiet«, krächzte Harm Bengen. »So wie das klingt, kann das doch nur Schiet sein.«

»Na und? Computer sind auch Schiet. Und im Fernsehen kommt auch kaum noch was anderes.« Reershemius klang schon wieder beleidigt.

»Hamburger«, erläuterte Schmidt wichtig. »Du meinst Hamburger.«

»Hamburger? Nee, das ist ja ’n büschen weit weg«, erwiderte Reershemius. »Von wegen, zum Kinderweglocken.«

»Blödsinn!« Schmidt lachte, dass sein Speckbauch einen Wellengang entwickelte, der ihn fast von der Bank warf. »Hamburger sind was zum Essen, das weiß doch jedes Kind! Die gibt’s nicht nur in Hamburg, die gibt es überall.«

»Bei uns aber nicht«, stellte Ocko Onken fest.

»Und das ist auch gut so«, ergänzte Harm Bengen.

»Wieso das denn? Für dich und Klaas ist das doch direkt bedauerlich. Weiches Brötchen und dünne Frikadellen sind doch gut, von wegen für ohne Zähne. Die könntet ihr doch lutschen!« Schmidts Bauch kam überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Er waberte sogar so stark, dass die Spitze von Klaas Reershemius’ Stock ihn glatt verfehlte, als der Alte wütend zustieß. Schmidt lachte nur noch lauter.

»Hamburger sind Schiet«, beharrte Harm Bengen. »Alles Fertigfraß, mit Chemie drin und ohne Vitamine. Die Pommes dabei sind schieres Fett. Und was die dazu trinken! Nix als Zucker mit Wasser und Kunststofffarbe. Igitt, kann ich da nur sagen.«

Ocko Onken staunte: »Seit wann interessierst du dich denn für gutes Essen? Und woher weißt du das alles?«

»Von Bea.« Seine Augen hinter den flaschenbodendicken Brillengläsern bekamen einen verliebten Ausdruck. »Die Kleine hat doch jetzt dieses Restaurant, wo es so viel Gemüse gibt, bloß dass das anders heißt. Die ist toll, die kennt sich aus.«

»Bea Wulf?« Bodo Schmidt fiel fast der Unterkiefer weg. »Sag bloß, die Lady ist dein neuer Schwarm! Donnerwetter, hätt ich ja nicht gedacht, dass sich in deinem alten Gerippe noch was regt. Bea Wulf, mein Lieber, na, du traust dich was! Das ist ’ne Frau von Format, ich kann dir sagen, die wär ja eher noch was für mich!«

Einen Moment lang herrschte Schweigen auf der Bank; Onken und Reershemius schauten Bengen von der Seite an. Erst als der schallend losprustete, lachten sie laut mit. Und Bodo Schmidt guckte verdutzt.

»Von wegen neuer Schwarm. Bea ist doch seine Enkelin!«, klärte Onken ihn auf.

»Genau.« Bengen nahm die Brille ab, um sich die Lachtränen wegzuwischen. Seine Augen schienen plötzlich in Faltenfächern verschwunden zu sein. »Bea ist klasse. Die weiß Bescheid. Und darum ist es auch gut, dass es solche Hamburgerschmieden hier auf Langeoog nicht gibt.«

»Noch«, sagte Bodo Schmidt leise.

»Weiß gar nicht, warum du die und ihren Laden so toll findest. All das Grünzeug, das die einem vorsetzt, das ist doch mehr was für Hasen!«, stichelte Klaas Reershemius. »Als ob du nicht selber auch lieber zu Renko gehst und dir einen schönen gebratenen Rotbarsch vorsetzen lässt.« Er hielt inne, legte den Kopf schief, schien in sich hineinzuhorchen. »Wieso ›noch‹?‹«, fragte er dann.

»Ja, genau.« Auch Onken hatte etwas gemerkt. »Wieso ›noch‹?«

Bengen sagte nichts, obwohl sein Mund offen stand.

»Keine Zeitung gelesen heute früh?«, fragte Bodo Schmidt zurück, seinen Wissensvorsprung genüsslich auskostend. Die Wal-Witze auf seine Kosten schrien nach Rache.

»Klar«, gab Reershemius zurück. »Wie jeden Morgen. Aber da stand nichts. Bloß was von Merkel und Bohlen und so ’n Zeug.«

»Kein Wunder«, sagte Ocko Onken trocken, »du liest ja auch die Bild.«

»Na und? Die kann man wenigstens lesen!«, schnauzte Reershemius.

»Jedenfalls die Überschriften«, stimmte Harm Bengen zu. Sein Kopf wackelte bestätigend. »Die sind groß genug.«

»Ach, ihr guckt euch doch sowieso nur die Bilder an«, lachte Bodo Schmidt und leckte sich die Lippen. »Nackte Weiber zum Frühstück, als ob das bei euch noch was nützen würde!«

»Jetzt aber raus mit der Sprache!«, fuhr Onken dazwischen. »Von welcher Zeitung redest du? Und was stand da drin?«

»Vom Inselboten«, rückte Schmidt endlich heraus. »Und da stand drin, dass wir vielleicht bald doch einen McDaisy’s nach Langeoog kriegen.«

»Einen was?«, krähte Reershemius. »Ich dachte, der heißt McAllister! Oder er hieß so, jedenfalls, bis sie ihn abgewählt haben.«

»McDaisy’s, Mensch! So ein Fettfutter-und-Zuckerbrause-Laden, mit Hamburgern und Pommes und so. Nicht dieser christdemokratische Halbschotte.« Ocko Onken war von Herzen Sozialdemokrat; warum, das wusste er zwar schon lange nicht mehr, aber gegen die Konservativen war er aus Prinzip. Irgendwie.

»Ein McDaisy’s kommt hierher?« Harm Bengen sprach ungewohnt laut. Sein Kopf saß gerade und bewegungslos auf seinem faltigen Hals. »Das kann überhaupt nicht sein. Ist doch bestimmt verboten, hier so was aufzumachen.«

»Ist es nicht!«, triumphierte Bodo Schmidt. »Ja, ja, hättet ihr mal doch den Inselboten gelesen, da steht das nämlich alles drin. Dieser Redakteur, wie heißt der noch, Gottverhau oder so ähnlich, der hat nämlich unseren Bürgermeister genau das gefragt. Tja, und der Bürgermeister meint, dass er da überhaupt nichts zu verbieten hat.«

»Was?« – »Unmöglich!« – »Kann ja gar nicht.« – »Hier darf doch nicht jeder, wie dass er glaubt, dass er meint!« – »Also früher, da hätte es das hier nicht, ich meine …« – »Hat dieser Bürgermeister denn überhaupt keinen Mors in der Buxe?« Die anderen drei Mitglieder der Viererbande zeterten wild durcheinander. Bodo Schmidt grinste nur. Endlich schwamm er wieder obenauf. Wie Walspeck.

Dann zog er eine zerknitterte und wieder aufgerollte Zeitung aus einer der vielen Taschen seiner Weste. »Wenn jemand hier auf der Insel ein Gebäude ankauft oder pachtet, das bereits als Restaurant konzessioniert ist, dann kann er darin auch ein Restaurant betreiben«, zitierte er, ohne die Zeitung aufzuschlagen; er hielt sie vielmehr wie ein Ausrufezeichen vor sich in die Luft. »Darauf, was für eine Art Restaurant das dann ist, hat die Gemeinde keinerlei Einfluss, sagt der Bürgermeister.«

»Dat giff’t ja wol nich.« Ocko Onken war die Entrüstung pur. »So wenig haben die zu sagen? Dafür machen die aber ganz schön viel Wind.«

»Anders sieht es aus, wenn es sich um einen Neubau handelt. Dann ist eine Genehmigung natürlich notwendig«, deklamierte Schmidt weiter.

»Na also, wusste ich’s doch. Dann können die dem also doch ins Frittenfett spucken, diesem McDaisy’s.« Siegessicher entblößte Harm Bengen sein Zahnfleisch.

»Von wegen.« Wieder wusste es Bodo Schmidt besser. »In solchen Fällen ist nämlich nicht die Gemeinde zuständig, sondern der Landkreis. Und diese Herrschaften sitzen ja bekanntlich drüben in Deutschland.«

»Der Landkreis? In Deutschland? Sag bloß, die dürfen entscheiden, was wir hier zu essen kriegen!« Das empörte Klaas Reershemius noch mehr als jeder Norderney-Vergleich.

»Musst ja nicht hingehen, auch wenn die hier aufmachen«, widersprach Schmidt. »Außerdem verkaufen die sowieso nix in Schnabeltassen.«

»Na, von wegen!« Ocko Onken lüpfte seine Schiffermütze und rieb sich erregt die spärlichen Haarstoppeln. »Wenn dieser Laden, dieser Imbiss, also dieser McDaisy’s wirklich hier aufmacht, dann rennen alle Kinder und Jugendlichen hin, darauf kannste einen lassen.«

Klaas Reershemius zuckte die Achseln, stieß seinen Stock aufs Pflaster und kreuzte die Hände über dem Griff. »Na und? Dann sind die Blagen alle gut aufgehoben, und wir anderen wissen, wo wir nicht hingehen müssen, um unsere Ruhe vor denen zu haben.«

»Oh nee. Nee nee!« Harm Bengen fuchelte aufgeregt mit dem Zeigefinger. »So einfach ist das nicht. Weil, wenn die Jungen alle zu diesem Burgerladen gehen, dann gehen ein paar von den Alten sicher mit. Im Urlaub muss ja Familie sein, nicht? Geht ja nicht anders. Und diese Gäste, die jungen wie die alten, die fehlen dann den anderen Lokalen! Dann sind die nicht mehr ausgelastet. Und weil die doch alle so knapp kalkulieren müssen, hat mir Bea erzählt, werden die das nicht lange verknusen können. Und dann …«

»Dann machen die dicht«, unkte Ocko Onken mit Grabesstimme.

»Und dann musst du wirklich zu McDaisy’s gehen, wenn du noch mal auswärts essen willst«, sagte Harm Bengen zu Reershemius. »Weil es die anderen Restaurants nämlich nicht mehr gibt.«

»Was für ein Quatsch!«, widersprach Bodo Schmidt, obwohl auch seine Augen vor Schreck gerundet waren. Er ließ die aufgerollte Zeitung fallen. »Es machen hier doch nie und nimmer alle Restaurants dicht, nur weil ein einziger McDaisy’s eröffnet wird! Das ist doch pure Schwarzmalerei. Guckt euch doch bloß mal um, wie viele verschiedene Fressläden es hier gibt!«

»Klar, das stimmt«, antwortete Onken. »Natürlich gehen nicht alle ein. Sondern nur einige. Nur weiß man vorher nicht, welche das sein werden. Vielleicht Renko Heidergott mit seinem Fischlokal? Oder vielleicht … Harms kleine Bea?«

 

»Bea ist zäh, die gibt so schnell nicht auf«, verkündete Harm Bengen mit brüchiger Stimme.

»Mag sein. Aber kämpfen wird sie müssen. Weil auch die anderen kämpfen werden, kämpfen wie die Kanalratten!«, sagte Onken. »Harte Bandagen. Ein paar werden dabei hopsgehen. Und bei den anderen wird nachher auch nicht alles so sein wie vorher, weil sie ja versuchen müssen, diesem McDaisy’s die Kunden abzujagen. Dabei werden sie sich denen wohl ein bisschen anpassen müssen.«

»Anpassen?«, fragte Reershemius. »Du meinst – überall weiche Brötchen und Fettpommes?«

»Musste mit rechnen.«

»Oh Gommes nee!«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann fragte Harm Bengen: »Wer ist es denn nun eigentlich? Also der, der hier so ’nen Laden aufmachen will? Ich mein, dieser Herr Meckes selbst isses ja wohl nicht.« Er runzelte die Stirn. »Daisy. Ist das nicht überhaupt ein Frauenname?«

»Ihr werdet es mir nicht glauben.« Wieder schickt Bodo Schmidt sich an, seinen Wissensvorsprung genusssüchtig auszukosten. Angesichts dreier finster blickender Augenpaare jedoch verzichtete er lieber darauf. »Also gut, es ist Heiko Grendel. Was sagt ihr nun?«

»Heiko? Ha!« Ocko Onken lachte kurz und freudlos auf. »Dann haben wir ja nichts zu befürchten. Heiko kriegt doch nie was gebacken.«

Harm Bengen lachte nicht. »Heiko Grendel alleine?«, hakte er nach.

»Nee«, sagte Bodo Schmidt. »Wo soll der denn das ganze Geld hernehmen, das er dafür braucht? Die Zeitung schreibt, dass er noch zwei Leute hinter sich hat. Investoren nennt man so was.«

»Aha«, grummelte Klaas Reershemius. »Zwei aus Deutschland, stimmt’s?«

»Stimmt«, bestätigte Schmidt.

»Und die haben Geld übrig, Geld, das Junge kriegen soll?«

Bodo Schmidt nickte.

»Dann wird es vielleicht doch ernst«, sagte Reershemius und hieb erneut seine Stockspitze aufs Pflaster. »Leute, die schon Geld gemacht haben, die wissen, wie das geht. Anders als Heiko Grendel. Und reiche Leute sind nie zufrieden. Die wollen immer noch mehr.«

»Aber warum geben die sich dann überhaupt mit Heiko ab?«, fragte Ocko Onken. »Heiko ist kein Koch, und als Geschäftsführer bringt er’s auch nicht, das ist erwiesen. Ja, wenn er wenigstens ein passendes Gebäude hätte! Dann könnt ich’s ja verstehen, von wegen keine Genehmigung und so. Aber er hat ja … keins …« Er stockte und rieb sich nachdenklich den schlohweißen Vollbart. »Oder denken die etwa … dass Heiko …«

Reershemius nickte. »Tjabbes Laden. Der steht leer.«

»Aber der gehört doch … Tjabbe?«

»Tjabbe Grendel liegt im Hospiz, in Leer.« Reershemis’ ohnehin schmallippiger Mund wurde zu einem dünnen Strich mit abwärts gebogenen Enden. »Soll es wohl nicht mehr lange machen, heißt es.«

»Ja und? Der alte Knochen ist zäh«, sagte Onken. »Außerdem, selbst wenn er demnächst in die Kiste springt – wer sagt denn, dass Heiko das Haus erbt?«

»Wer denn sonst? Heiko ist Tjabbes einziger Neffe, sonst ist da keiner.« Die Familienverhältnisse auf der Insel kannte Reershemius ganz genau.

»Na ja, er könnte doch auch alles sonst wem vererben, nicht? So begeistert von Heiko war Tjabbe doch nie.«

Reershemius schüttelte den Kopf. »Selbst wenn. Grundbesitz aus der Familie geben, so etwas tut man doch nicht. Tjabbe bestimmt nicht.«

»Das Haus ist in miesem Zustand«, warf Bodo Schmidt ein. »Deswegen ist doch der letzte Pächter raus. War ja auch keiner da, an den er sich wenden konnte, wenn es mal irgendwo durchgeleckt hat oder die Heizung kaputt war.«

»Für einen Investor mit Kohle im Rücken kein Problem«, sagte Onken. »Und Leerstand ist doch geradezu ideal. Dann könnten die praktisch gleich anfangen.«

»Sowie Tjabbe tot ist«, knurrte Reershemius. »So viel Zeit muss schon noch sein.«

Schmidt machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, das bisschen …«

»Dann steht der Hamburger-Invasion ja eigentlich kaum noch was im Wege«, sagte Onken. »Oder, mit anderen Worten: Die goldene Möwe kreist schon über Langeoog.«

»Wieso denn goldene Möwe?«, fragte Reershemius verständnislos.

Schmidt lachte. »Warte nur, bis die hier sind und ihre Werbung angebracht haben! Dann weißt du schon, was das bedeuten soll.« Mit ausholenden Gesten malte er ein großes, abgerundetes »M« in die Luft, so, wie kleine Kinder einen fliegenden Vogel malen.

»Bis dahin werden wir aber noch einen ganz schönen Sturm erleben«, prophezeite Onken. »Einen Sturm der Entrüstung! Sobald sich das alles rumspricht, werden so ziemlich alle Gastronomen der Insel auf die Barrikaden gehen. In Heiko Grendels Haut möchte ich dann nicht stecken.«

»Ich auch nicht«, sagte Reershemius. »Trotzdem versteh ich das mit der goldenen Möwe nicht. Begreifst du das, Harm?«

Er blickte zur Seite. Aber Harm Bengen war verschwunden.

»Meine Zeitung ist auch weg«, maulte Bodo Schmidt.