Ebbe und Blut

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5

Ich bin übrigens ein sehr verschiedener Mensch«, sagte Ewald Thoben.

Lächeln tut er nicht, überlegte Nanno. Ich soll mir also etwas dabei denken. Er legte den Kopf in den Nacken und musterte den kräftigen Mann, der die Schwelle zum Alter erreicht hatte, sich aber eindeutig weigerte, sie zu überschreiten. Thobens kantiges Gesicht schien nur aus eingebrannten Falten zu bestehen, vor allem um die schmalen Augen herum. Ein Eindruck, der sich verstärkte, wenn der Kapitän lächelte.

Was er gerade jetzt aber nicht tat.

Nanno Taddigs kannte das Spielchen: Wer anders ist als die anderen und außerdem selbstbewusst, der provoziert. Dadurch erfährt er viel über sein Gegenüber, schnell und direkt. Zum Beispiel über seinen neuen Untermieter.

Nanno kannte natürlich auch die Gerüchte, die über Thoben in Umlauf waren. Ein Einzelgänger, kauzig, unberechenbar. Gefährlich sogar. Angeblich hatte er damals, als seine Frau gestorben war, auf den Notarztwagen geschossen. Der Doktor hätte keine Anzeige erstattet, weil ihm der Mann leid getan hatte, hieß es. Außerdem wurde erzählt, der Arzt sei ein Kurpfuscher, dem gehörte längst mal eins auf den Pelz gebrannt. Gut zwei Jahre war das nun her. Wenn’s denn so gewesen war.

»Genau genommen ist doch jeder verschieden«, sagte Nanno. »Doppelt verschieden sogar. Verschieden von allen anderen und verschieden von sich selbst. Niemand ist immer ganz derselbe.«

Thoben lächelte. »Seh’ ich auch so. Aber gut gesagt, Sie!« Er stand auf. »Dann will ich Ihnen mal die Butze zeigen.«

Nanno griff in die Räder, dirigierte sich hinter dem plüsch­deckigen Esstisch hervor, gab Doppelschub und ließ seinen schmalen Sportrollstuhl schnell und exakt durch die aufgehaltene Tür sausen. Die Neunziggradkehre im Flur erzeugte ein leises Quietschen. Jeder hat so seine Methoden, dachte Nanno.

Falls der Kapitän von diesem Manöver beeindruckt war, so ließ er es sich nicht anmerken.

Von der Vorderküche, dem ostfriesischen Alltags-Esszimmer, ging es über den Flur, von dessen Wänden blau bemalte Kacheln leuchteten, Richtung Diele. Nirgendwo Türschwellen, registrierte Nanno. Und hinter der Tür, wo eigentlich die Diele hätte sein sollen, fing eine zweite Wohnung an. Komplett neu eingebaut oder höchstens ein paar Jahre alt. Extrabreite Türen. Nanno öffnete die erste rechts: ein Badezimmer mit sensationellen Abmessungen und allen Behinderten-Einrichtungen. Inklusive Wannenkran. Er kippte seinen Stuhl auf die Hinterräder, wirbelte herum und schaute den Kapitän an. Der wich seinem Blick aus. »Kommen Sie man mit nach achtern«, knurrte er und ging voraus ins Wohnzimmer. Zielsicher öffnete er eine Klappe der niedrigen Anrichte und griff nach deren einzigem Inhalt, einer grünlich schimmernden Flasche und zwei kleinen Gläsern.

Dass er den Kräuterschnaps ablehnte, nahm Thoben nicht krumm. Ein Punkt für ihn, dachte Nanno. Sein komplizierter Tagesablauf vertrug sich nun einmal nicht mit Alkohol. Und seine Selbstachtung auch nicht. Er konnte nicht begreifen, dass viele Fußgänger ihre Privilegien einfach wegwarfen, dass es Leute gab, die soffen und soffen, bis ihre gesunden Beine lahm waren. Er hatte sich geschworen, dass er das niemals begreifen würde, ganz egal, welche Rolle der Alkohol in seinem eigenen Früher gespielt hatte. Ein saufender Rolli machte sich selbst zum Säugling.

Der Kapitän trank, dann stellte er die Flasche unter den Tisch des kleinen Wohnzimmers, drehte das tulpenförmige Glas auf der Stelle und blickte hinein, während er erzählte. »Vor sechs Jahren ging das mit meiner Mutter los. War ja schon eine alte Frau. Da haben wir das alles bauen lassen, Platz war ja genug in der riesigen Diele. Damit sie klarkommt. Hier sollte eine Pflegerin wohnen können, falls meine Frau das nicht mehr schaffte. Wohnzimmer, Schlafzimmer, kleine Küche. Na, und eben das Bad. Aber vor drei Jahren ist Mutter dann gestorben.« Er schien nach der Flasche angeln zu wollen, legte seine linke Hand aber sofort wieder auf die Tischplatte und drehte weiter am Glas.

»Und dann ist meine Frau auch krank geworden, sofort hinterher. Musste auch in den Rollstuhl. Damals war ich ja schon zu Hause, bin nicht mehr gefahren. Ich wollte sie alleine pflegen. Da hab ich dann erst gemerkt, was das heißt, und wie das gewesen sein muss für sie, allein mit meiner Mutter, drei Jahre lang.« Er räusperte sich und richtete seinen Oberkörper auf. Seine Stimme klang wieder fester. »Vor zwei Jahren ist sie dann auch gestorben, ganz schnell. Und ich glaube heute noch, es hätte nicht sein müssen. Na ja. Erst wollte ich ja von dem ganzen Kram hier nichts mehr wissen. Vermieten sowieso nicht. Aber das ist natürlich Unsinn. Und als ich dann gehört habe, dass Sie suchen, hab ich gedacht, kannst ja mal was sagen.«

Nanno hatte Übung darin, Gefühle zu deuten. In den letzten sechs Jahren hatte er genügend falsche serviert bekommen. Er nickte: »Echt nett von Ihnen.«

Die Räume lagen rechts und links vom Flur, an dessen Ende eine breite Holztür in den Garten führte. »Da haben Sie Ihren eigenen Ausgang«, sagte Thoben. »Fester Plattenweg zur Auffahrt, da können Sie auch parken. Mein Wagen steht immer unterm Carport vorm Haus.«

Nanno mochte es, wenn auf diese Art über seine Bedürfnisse gesprochen wurde. Immerhin war seine Behinderung Fakt, und sein Alltag war an Bedingungen geknüpft.

»Die Tür nach drinnen wird natürlich dichtgemacht«, fügte der Kapitän hinzu. Daran hatte Nanno schon gar nicht mehr gedacht.

Die Zimmer schienen nach dem Ikea-Katalog möbliert zu sein. Alles in allem aber gut zu ertragen. Dort, neben der niedrigen Couch, konnte er seine Musikinstrumente aufhängen: Gitarre, Mandoline, Mandoloncello. Die Hängeschränke in der kleinen Küche, in die sein Stuhl gerade gut hineinpasste, waren natürlich unerreichbar, aber mit den unteren Stauräumen würde er leicht auskommen. Und es gab eine kleine Spülmaschine.

»Was soll’s denn kosten?«

Thoben zuckte die Achseln. »Zweihundert?«

Das war fast geschenkt, selbst wenn man bedachte, dass dies hier ein Fehndorf war und nicht die Innenstadt von Leer.

»Ich muss da nicht von leben«, sagte Thoben.

Scharfer Beobachter, dachte Nanno und nickte: »Alles klar von mir aus.« Er drückte die ausgestreckte Hand des Kapitäns und verkniff sich die Frage nach einem Mietvertrag, weil er sie unpassend fand.

Hinter dem Haus war eine großzügige Terrasse mit Sonnenschirmständer, abgedecktem Grill und dem unvermeidlichen Windschutz. Straße und Haus lagen etwa drei Meter höher als der Garten und der Hammrich dahinter. Nanno genoss den Ausblick.

»Wie weit geht denn Ihr Grundstück?«, fragte er, als ihm auffiel, dass es keinen Zaun gab.

»Bis da hinter dem Schuppen«, sagte Thoben.

Das war allerdings gewaltig. Dieser Wellblechschuppen im Nissenhütten-Stil, halbrohrförmig und an die vierzig Meter lang, war bestimmt zweihundertfünfzig Meter entfernt.

»Was ist denn da drin? Ackergeräte?«, fragte Nanno.

»Och, alter Kram.« Thoben winkte ab. Dann ging er in Richtung Auffahrt, Nanno folgte. Die Vollgummireifen schmatzten leise auf den feuchten Waschbetonplatten.

»Früher hatten wir ja noch viel mehr Land«, erzählte der Kapitän, als er neben Nannos Golf Position bezogen hatte, wohlüberlegte anderthalb Schritt von der Fahrertür entfernt. »Ich stamme ja aus einer reinen Bauernfamilie. Witzig, was? Aber das ist ja nun lange vorbei.«

Nanno lächelte, während er seinen Rollstuhl zur Beifahrertür lenkte. »Viele Leute denken, sie tun mir einen Gefallen, wenn sie beim Parken auf meiner Fahrerseite besonders viel Abstand halten«, sagte er. »Dabei brauche ich den Platz auf der anderen Seite. Sonst könnte das ja mit dem Stuhl gar nicht klappen.«

Er hatte die rechte Tür geöffnet, den Rollstuhl neben den Beifahrersitz rangiert und die Räder blockiert. Jetzt stemmte er seinen Körper hoch, setzte sich auf die linke Seitenlehne des Stuhls, stützte den linken Arm auf den Autositz, drückte und schwang sich hinein. Nanno war jung, kräftig, schlank und geübt, daher hatte das Manöver eine gewisse Eleganz. Seine schlaffen dünnen Beine zog er mit den Händen nach, einzeln und vorsichtig. Es war unglaublich, wie schnell man sich an diesen leblosen Anhängseln verletzen konnte. Dann rutschte er weiter zur Mitte und bugsierte die Beine in den Fußraum auf der Fahrerseite. Als er saß, beugte er sich zurück, löste die Sitzsperren des Rollstuhls, klappte ihn zusammen, zog ihn hinein und stellte ihn vor den Beifahrersitz.

Der Kapitän klopfte zum Abschied aufs Dach: »Dann man bis morgen!«

Nanno grüßte mit dem Kopf zurück. Seine Hände brauchte er zum Fahren. Bis zur Durchgangsstraße ging es ein paar hundert Meter geradeaus. Im Radio begannen gerade die Elf-Uhr-Nachrichten. Immer noch nichts Neues über das Windrad-Attentat, nur das übliche Geschwätz von ein paar schrecklich empörten Politikern. Nanno schüttelte den Kopf. Als er an der Ecke kurz anhielt, sah er im Rückspiegel, dass auch Thoben in seinen Wagen stieg.

6

Mittlerweile war der Plattenweg an beiden Enden abgesperrt, trotzdem herrschte eine Völkerwanderung wie sonst nur am Emsdeich bei den Passagen der tiefgehenden Kreuzfahrt-Riesen aus Papenburg. Da pflegten viele Gaffer nach einer Katastrophe zu lechzen, hier war sie bereits eingetreten. Natürlich kam niemand durch das bewachte Weidetor, trotzdem standen die Menschen zu Hunderten um den kahlen, schlanken Stumpf und den sachte wippenden Rotor herum. Trampelpfade im dünnen Schnee der Nachbarweiden wiesen Nachzüglern den Weg zu den Löchern im Stacheldraht. Jetzt am Mittag war der Zustrom noch einmal angeschwollen. Dennoch versuchte niemand, in den sauber abgezirkelten Kreis vorzudringen, in dessen Zentrum die Spurensicherung gerade zusammenpackte. Die Leute, die dem Sog eines imposanten Unglücks nachgaben, hatten ein sicheres Gespür dafür, bei welcher Distanz mit Abwehrmaßnahmen zu rechnen war. So blieb das Gleichgewicht gewahrt, Polizei und Publikum schienen sich nicht umeinander zu kümmern.

 

Reinhold Boelsen stapfte eine Zickzacklinie nach der anderen in den auch hier schon längst zertrampelten Schnee. Die Hände hielt er hinter dem kerzengeraden Rücken verschränkt, den Blick seitlich an seine demolierte B-340 K geheftet. Seine schwarzen Halbschuhe waren durchnässt, sein heller, viel zu dünner Trenchcoat knatterte ihm um die Beine. Der beherrschende Ausdruck in seinem langen, durch die breite Stirn und das spitze Kinn dreieckig wirkenden Gesicht war Verständnislosigkeit. Aufgerissene Augen und ein gelegentliches Kopfschütteln zeugten von Lücken in seiner sonst so verlässlichen Selbstkontrolle.

Er bemerkte Kornemann erst, als der ihm in den Weg trat. Einen Moment lang standen sie Brust an Brust, Korne­mann musste zu dem deutlich längeren und mit seinen siebenunddreißig Jahren auch deutlich jüngeren Ingenieur und Geschäftsführer aufschauen. Das passt ihm nicht, aber es macht ihm auch nichts aus, dachte Boelsen automatisch. Dann hob er die Konfrontation auf, indem er einen halben Schritt zurücktrat und sich dem Stumpf zuwandte. Jetzt standen sie Seite an Seite.

»Haben sie dir das Ding gezeigt?«, fragte Kornemann.

Boelsen nickte. »Nylonbändsel und Kette. Welle blockiert und mit der Schwungmasse des eigenen Rotors gesprengt. Clever.« Er klemmte seine eiskalten Hände in die Achselhöhlen. »Wäre beim 345er aber schon nicht mehr gegangen, wegen der neuen Verkleidung. Dieser ringförmige Abweiser – da hätte sich der ganze Krempel höchstens außen drumgewickelt. Vermutlich aber wäre die Wurfleine gleich abgerutscht. So gesehen, haben die Burschen Glück gehabt.«

Kornemann schnaubte durch die Nase. »Von wegen Wurfleine. Das Ding ist da hochgeschossen worden, ganz professionell. Und so ein Abweiser hätte die Mühle auch nicht gerettet. Sowie die Kette am Flügel hängt, ist doch eine Unwucht da, und der ganze Apparat ist im Handumdrehen Schrott.« Er stellte den Kragen seines Ledermantels hoch und stopfte die Enden des Schals hinein. Natürlich trägt er Handschuhe, dachte Boelsen. Und natürlich hat er Recht. Er kombiniert ja immer logisch. Und immer verdammt schnell.

Die Polizei rückte ab, die Einsatzleiter verabschiedeten sich per Handschlag, zuerst und beflissen bei Kornemann, dann, eher flüchtig und mit Kondolenzmiene, bei Boelsen.

»Dass die was finden, darauf brauchen wir nicht zu warten«, sagte Kornemann, ohne Rücksicht darauf, wie weit der Wind seine Worte trug. »Müssen wir schon selbst sehen, dass wir zu was kommen. Die sollen das jedenfalls kein zweites Mal machen.«

»Kennst du denn jemanden, der zu so etwas imstande wäre?«

Kornemanns Blick ließ Boelsens Ohren glühen. »Wo lebst du denn, Menschenskind? Die Leute hier sind nicht zimperlich, das müsstest du doch auch schon mitgekriegt haben. Wenn’s ums Prinzip geht, dann gilt Gewalt gegen Sachen hierzulande nicht viel, ganz egal, ob die Sache nun hundert Euro kostet oder eine Million. Und wer diese Prinzipienreiter sind, das weiß ich genau.«

Boelsen schüttelte den Kopf. »Alles etablierte Leute, die meisten sind doch Geschäftsleute oder Beamte.« Die führenden Windkraft-Gegner hatte er in den letzten Jahren bei den verschiedensten Anlässen getroffen und kennen gelernt. Jetzt ließ er ihre Gesichter Revue passieren. Ausgeschlossen. »Die setzen doch nicht so einfach ihre Existenz aufs Spiel.«

»Das kapierst du nicht.« Kornemanns Urteil klang unanfechtbar und vernichtend, und Boelsen, der schon seit über fünfzehn Jahren in Leer wohnte, kam sich für einen Moment wieder so fremd vor wie damals, ganz zu Anfang. »Überleg lieber, wer so was überhaupt kann. Ein paar Grundkenntnisse der Physik braucht man ja wohl dazu, oder?«

»Weiß nicht.« Was ganz ist, muss kaputt, was hoch ist, muss runter, was sich dreht, muss gestoppt werden – die Grundregeln des Demolierens stellte Boelsen sich nicht sonderlich anspruchsvoll vor. »Frag doch mal, wer an so ein Leinenschießgerät herankommen könnte, so ein Ding, wie heißt das eigentlich genau?«

»Keinen Schimmer.« Kornemann schüttelte unwillig den Kopf. »Aber gesehen habe ich so etwas schon. Die Dinger gibt’s auf den Seenotrettungskreuzern, aber auch auf Schleppern. Die geben so ihre Schleppleinen rüber. Dünne Leine zum anderen Schiff schießen, dickere Leine nachholen, und dann so weiter, bis die Trosse kommt.«

»Bei der Marine machen die das auch.« Boelsen erinnerte sich an einen Werbefilm: Zerstörer und Versorger üben Materialübergabe auf See. »Quellen gibt es also. Und jetzt? Alle Soldaten und Seeleute filzen?«

Flapsigkeit ließ sich Kornemann nur gefallen, wenn er den Ton selbst vorgab. Sogar Boelsen hatte sich an diese Regel zu halten. Dass er sie gerade gebrochen hatte, ohne es zu wollen, ließ ihn schlagartig erkennen, wie verstört er war. Erschrocken blinzelnd beobachtete er Kornemann aus den Augenwinkeln, aber der reagierte gar nicht.

»Vergiss die Jäger nicht«, sagte er stattdessen.

»Was hat denn das jetzt mit der Jagd zu tun?«, fragte Boel­sen, lebhaft und für den Augenblick erleichtert.

»Jäger interessieren sich grundsätzlich für alles, was schießt. Kannst ja mal einen Jäger nach Signalwaffen fragen, oder meinetwegen nach einem Leinenschießgerät. Wetten, die kennen sich aus? Und die kommen an alles heran.«

Kornemann war Jäger, das wusste jeder. »Einer von deinen Grünröcken also? Ich dachte, ihr wärt so eine verschworene Gemeinschaft.« Wieder hätte sich Boelsen am liebsten auf die Zunge gebissen.

Kornemann schaute geradeaus. »Sind wir auch, aber in punkto Windkraft gibt es einen Riss. Quer durch.«

Der Menschenring um den schlanken Torso hatte sich inzwischen aufgelöst, die Menge flanierte jetzt ziellos, wie auf einem Rummelplatz. An den Rändern war schon eine deutliche Absetzbewegung zu erkennen.

Kornemann schlug Boelsen kurz mit dem Handrücken an die Brust. »Ich ruf dich an«, sagte er. Dann marschierte er los und war nach wenigen Schritten im Gewimmel untergetaucht.

7

Auch Eilert Iwwerks verlor Kornemann schnell aus den Augen. Als er zurückblickte, war Reinhold Boel­­sen ebenfalls nirgends mehr zu entdecken. Also wandte er sich wieder seinem eigenen Gefolge zu.

Zwölf waren es diesmal, lauter Männer, die ihn von beiden Seiten bedrängten. Iwwerks strich sich über die graue Bartkrause und zupfte am Reißverschluss seiner Lammfelljacke, bis sein dunkelblaues Fischerhemd gut zu sehen war. Wieder hatte er den Spruch vom Menschenfischer Simon Petrus auf der Zungenspitze, diesmal aber verkniff er ihn sich. Die Leute erwarteten etwas anderes von ihm, eine Entscheidungshilfe, eine Bewertung. Und er wollte die Leute nicht enttäuschen.

Iwwerks wusste genau, dass er in Wirklichkeit kein Volkstribun war, aber er hasste diesen Gedanken, weil er es so sehr liebte, in dieser Rolle geliebt zu werden. Er liebte das große Wort und beherrschte es, er wusste genau, was mehrheitsfähig war und wann Opposition mit Sympathie belohnt wurde. Eigentlich war Iwwerks keinen Deut anders als die vielen, die niemandem Böses, Gutes aber vor allem sich selbst wollten. Das aber förderte seine Popularität eher noch, denn alles andere hätten seine Bewunderer als unnormal empfunden.

Bewunderung in großem Maßstab war seine Droge, und wie viele Abhängige war auch er eher zufällig darauf gestoßen. In den sechziger Jahren war er, der damals noch junge Greetsieler Fischer, gegen die Pläne der Holländer, ungeklärte Abwässer in den Dollart zu leiten, Sturm gelaufen. Alle seine Kollegen hatten um ihre Fänge gefürchtet, er hatte den Mund aufgemacht: »Duum drup op de Smeerpijp!« Umweltschutz aus ökonomischen Gründen – das war etwas Neues gewesen, das hatte ihm plötzlich Beifall aus den verschiedensten Ecken von linksökologisch bis nationalistisch eingebracht. Eine Ur-Erfahrung.

»Fischer schmiedet Koalition quer durch alle Lager«, hatte eine Zeitung getitelt. Das war seitdem sein Markenzeichen. Das und sein Fischerhemd.

Eigentlich war er längst kein Fischer mehr. Seine beiden Kutter fuhren mit angeheuerten Besatzungen, und sie fischten auch nicht richtig, sondern fuhren Hobbyangler zu den Fischgründen. Das war zuverlässig einträglich, zumal die Kuttergäste überwiegend in seinen eigenen Pensionen und Hotels geworben wurden. Iwwerks hatte geerbt, Land vor allem, hatte gut dosiert verkauft und klug investiert. Sehr klug sogar. Sein Sinn für das Angesagte erstreckte sich eben auch aufs Geschäft. Kaum jemand wusste, wie reich er inzwischen wirklich war.

Aber jetzt wurde es Zeit. Seine Korona wollte etwas hören. Der Schwarm bestand aus Zufallsguckern und war doch typisch: Jagdfreunde vom Hegering, weitläufige Nachbarn, Gastwirte, Umweltschützer. Die meisten erklärte Windkraftgegner, die Iwwerks auf ihrer Seite wussten. Schließlich hatte er als pflichtbewusster Fremdenverkehrsgewerbler doch oft genug gegen den Verbrauch der einmaligen Küstenlandschaft gewettert, und bei mancher Protestaktion hatte er in der vordersten Reihe gestanden. Dort, wo man nicht übersehen wird.

Kontrovers war nicht die Stoßrichtung dieser neuen Aktion, kontrovers war der Sabotageakt selbst. Fünf der zwölf Männer sprachen sich offen und vehement dafür aus, fünf andere, die weit bedächtiger auftraten, eher dagegen. Nur die Buurmann-Brüder, zwei junge Landwirte aus Cirkwehrum, wetterten lauthals gegen »diesen Schweinkram«. In Cirkwehrum war ein großer Windpark in Planung, und die Buurmanns hatten Land an der richtigen Stelle. Jeder wusste das. Die Aussicht auf persönlichen Profit war eben ein Argument wie jedes andere auch.

»Ich will euch mal was sagen.« Iwwerks brauchte seine Stimme kaum zu heben, die Diskussion war sofort wie abgeschnitten. Gewöhnlich genoss er diesen Moment, in dem alle Blicke erwartungsvoll auf ihm ruhten, genoss die Vorfreude auf seine Droge, den kleinen Rest prickelnder Unsicherheit, ob er wohl wieder den Punkt treffen würde. Diesmal aber war es anders. Ganz anders. Und er musste höllisch aufpassen, dass keinem das auffiel.

»Ihr wisst, wie ich zu diesen Windmühlen stehe«, sagte er. »Und ihr wisst auch, wie wütend ich auf die Politiker bin, die uns immer mehr davon hinstellen. Ich kann jeden verstehen, der sich darüber aufregt. Und ich kann auch jeden verstehen, der seinen Ratsvertretern, die so was beschließen, ’ne Fuhre Mist vor die Tür kippt.« Jetzt erhob er seine Stimme, rief in das aufbrandende Gelächter hinein: »Aber das hier ist was anderes. Hier stecken Werte drin, Investitionen, da hängen Arbeitsplätze dran. Das kann man doch nicht einfach in Klump hauen.«

Augen wurden aufgerissen, Münder zum Protest geöffnet. Schnell sprach er weiter: »Wenn einer mit so was durchkommt, dann ist das, als ob ein Deich bricht. Und dann muss manch einer von uns damit rechnen, dass ihm der Laden angesteckt wird.«

Das saß. Viele Pensionsbetreiber, egal ob haupt- oder nebenberuflich, hatten ihre Gebäude in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgestockt und erweitert, ohne sich übermäßig mit den Bauvorschriften abzugeben. Streit und Anzeigen hatte es reichlich gegeben, aber nie mehr als ein Bußgeld. Der Gedanke an aktive, an handfeste Kritik per Sabotage ließ alle schaudern.

Der Kreis zerstreute sich. Iwwerks spürte die Seitenblicke. Keine Droge heute. Er musste die Sache endlich ins Reine bringen, so viel war klar. Dieser Spagat war nicht mehr lange durchzuhalten.

Nachbar Ihne Kröger blieb noch einen Augenblick an seiner Seite. »Was macht denn deine Tjalk?«, fragte er. »Kommst du voran mit dem Ausbau?«

»Kein Stück.« Iwwerks seufzte. »Liegt ja immer noch in Emden, im Jarssumer Hafen. Was soll ich da schon schaffen?« In Greetsiel besaß er eine Halle, die auch geheizt werden konnte. »Aber solange alles zugefroren ist, kann ich das Boot ja nicht holen. Kaum zu glauben, so viel Eis haben wir seit Jahrzehnten nicht mehr gehabt.«

Iwwerks hatte sich das zwölf Meter lange Holzschiff selbst zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Die Substanz war gut, der Zustand zwar nicht original, aber die entstellenden Umbauten hielten sich in Grenzen. Mit etwas Zeit und Geld ließ sich bestimmt ein Schmuckstück daraus machen. Und Zeit und Geld hatte er ja genug.

»Kannst du’s denn nicht mit dem Trailer holen?«

»Hör bloß auf! Dreizehneinhalb Tonnen Gewicht und vier Meter Breite, da brauche ich doch ’nen Schwertransporter mit Sondergenehmigung und Polizeibegleitung. Nee, nee. Außerdem« – er blieb stehen, schob beide Hände in die Jackentaschen und streckte den Bauch vor – »außerdem dauert das keine zwei Wochen mehr, dann taut es rapide. In drei Wochen ist das Eis weg, und dann fahre ich das Schiff alleine rüber. Sollst mal sehen.«

 

Kröger schaute den Wetterpropheten bewundernd an, ehe er sich verabschiedete.

Iwwerks atmete tief durch.