Ostfriesen morden anders

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Don Cemento

Stirnrunzelnd betrachtete Antonio seine neue Pizzeria in der Altstadt. Okay, noch war es nur ein verkommener alter Laden, daher hatte er das Haus ja so günstig bekommen. Bis zur Eröffnung gab es noch eine Menge zu tun. Antonio aber scheute keine Arbeit. Ohne Arbeit kein Profit.

Don Pasquale sah das anders. »Schutzgeld ist fällig«, knurrte er, als er Antonio aufsuchte, zwei Wochen vor der Eröffnung.

Antonio wischte sich den Schweiß von der Stirn, mit dem Handrücken, denn seine Finger waren krustig vom Kalk. »Und wenn ich nicht zahle?«, fragte er trotzig.

Don Pasquale lachte böse und schob sich seinen cremefarbenen Hut in den Nacken. »Dann gehst du zu den Fischen.« Er zeigte auf Antonios Mörtelkübel. »Mit Schuhen aus Beton! Alte Tradition. Praktisch, so dicht am Hafen. Man nennt mich auch Don Cemento, wusstest du das nicht?«

»Ist ja gut«, sagte Antonio. »Ich hol schon das Geld.« Aber als er sich wieder zu Don Pasquale herumdrehte, hatte er kein Geld in der Hand. Fluchend griff der Don nach seiner Pistole. Da sauste etwas auf ihn zu.

Die Eröffnung war ein voller Erfolg. Auch die Zeitung war da. »Das haben Sie alles selber gemacht?«, staunte der Reporter. »Das war bestimmt eine Menge Arbeit. Allein der große Steinofen!«

»Oh ja«, nickte Antonio. »Vor allem das Betonfundament. Aber dafür hält das auch ewig.«

Für das Pressefoto stellte er sich mit dem langen Pizzaschieber in Positur. Dessen Kante hatte er vorher sorgfältig abgewischt.

Der fremde Zwilling

Alles begann im Supermarkt, als sich plötzlich ein wildfremder älterer Mann zu ihr herüberbeugte und ihr vertraulich seinen Arm um die Schultern legte. »Mein Durchfall ist deutlich besser geworden«, raunte er ihr zu, nickte noch einmal mit hochgezogenen Augenbrauen und schob seinen Einkaufswagen in Richtung Spirituosen.

Sie war viel zu erschrocken, um zu protestieren oder um Hilfe zu schreien, wonach ihr eigentlich zumute war. So lächelte sie nur irritiert und nickte dem abschiebenden Senior reflexhaft hinterher. Gütiger Himmel, was war denn das? Hatte die Klapse heute Tag der offenen Tür? Oder hatten sie hier im Supermarkt einen Dementen-Nachmittag eingeführt?

Das Rätsel löste sich erst in Runde vier. Bis dahin hatte ihr ein sportlicher, aber völlig verschleimter junger Mann etwas vorgehustet und eine übergewichtige Matrone hatte ihr ihren Ausschlag unter die Nase gehalten. Beide Male war Evelyn Wattjes viel zu erschrocken gewesen, um sich solche Aufdringlichkeiten zu verbitten. Erst die vierte dieser unheimlichen Begegnungen verlief anders.

Die Frau mit der Nagelbettentzündung war ihr im Leeraner Evenburg-Park über den Weg gelaufen. Sie hatte sich ihr lächelnd von vorne genähert statt überfallartig von hinten oder von der Seite. So waren ihr Evelyns Stirnrunzeln und ihre abwehrende Haltung nicht entgangen. »Ach, Sie sind es ja gar nicht!«, rief sie nach kurzem Zögern aus.

»Wer soll ich nicht sein?«, schnauzte Evelyn Wattjes zurück. Wenn man ihr quer kam, kannte sie kein Pardon. Und ihre Existenz anzuzweifeln, das war mehr als quer.

»Meine Apothekerin!« Die Unbekannte lächelte entschuldigend. »Ich hab erst gedacht, Sie wären sie! Sie sehen ihr unglaublich ähnlich.« Peinlich berührt, versuchte sie ihre geröteten und geschwollenen Finger, die sie Evelyn zur Begutachtung entgegengestreckt hatte, hinter dem Rücken zu verbergen. »Aber wenn Sie sprechen, merkt man es. Tut mir leid, nichts für ungut.« Die Frau wandte sich zum Gehen.

»Welche Apotheke denn?«, rief Evelyn ihr hinterher.

»Na, da hinten, an der Hauptstraße!« Die Frau machte eine vage Handbewegung und eilte davon. Evelyn Wattjes aber hatte schon verstanden.

Gut, dass es von der Evenburg bis zur Hauptstraße ein gutes Stück zu laufen war. So hatte sie Zeit zum Nachdenken. Als sie die Apotheke erreicht hatte, stürmte sie nicht hinein, sondern trat ans Schaufenster und inspizierte das Innere über die Auslagen hinweg. Es war, als würde sie in einen Spiegel blicken. Die Frau dort hinter dem Tresen, in dem weißen Kittel, mit den halblangen, noch kaum ergrauten brünetten Haaren, den grauen Augen, den runden Wangen und dem Grübchen im Kinn – wenn das nicht sie war, wer war es dann?

Sie betrat die Apotheke auch jetzt nicht, sondern ging schnurstracks nach Hause, ihren Vater befragen.

Sie hasste ihren Vater seit frühester Jugend, weil der sich immer nur einen Sohn gewünscht hatte – ein Wunsch, den ihre Mutter ihm nicht hatte erfüllen können und unter dem sie immer gelitten hatte. Einen Sohn und Erben für die Firma, die er aufgebaut hatte und die ihm das Wichtigste auf der Welt war. Mutter war dann früh gestorben, und Evelyn Wattjes hatte gleich nach dem Abitur Ostfriesland verlassen, war in der Anonymität des Ruhrpotts untergetaucht und hatte sich so bald wie möglich auf eigene Füße gestellt. Berufliche Selbstständigkeit – das war ein Wunsch, den sie vom Vater übernommen hatte. Und was der konnte, das konnte sie doch wohl auch!

In diesem Punkt allerdings hatte sie sich getäuscht. Nach kurzem Boom und tiefem Absturz stand sie ohne Firma, aber mit einem riesigen Berg Schulden da. Privatinsolvenz, putzen gehen, im Billigmarkt an der Kasse sitzen. Ihr war nichts erspart geblieben. Obwohl sie sich das bestimmt hätte ersparen können. Aber den Gedanken, ihren reichen Vater um Hilfe zu bitten, erstickte sie im Keim. Alles lieber, als bei dem angekrochen zu kommen!

Jahre später kam dann er bei ihr angekrochen.

Vater war krank, unheilbar krank, hatte seine florierende Firma längst vorteilhaft verkauft und lag jetzt in einem eigens und perfekt eingerichteten Krankenzimmer in seiner Logaer Villa, wo er auf den Tod wartete. Der sicher noch einige Zeit auf sich warten lassen würde, denn Bertram Wattjes konnte sich jede erdenklich ärztliche Behandlung leisten. Auch in das edelste aller Pflegeheime hätte er sich locker einkaufen können. Das aber wollte er nicht. Er wollte seine letzten Jahre in seinem eigenen Haus verbringen, betreut von seiner eigenen Tochter.

Alles in Evelyn sträubte sich dagegen, dieses Angebot anzunehmen. Aber es war einfach zu verlockend. Nicht nur freie Unterkunft und Verpflegung, auch ein regelmäßiges Gehalt stellte Vater ihr in Aussicht, außerdem Unterstützung durch professionelle Pflegekräfte, die ihr zuarbeiteten und ihr freie Nächte und Wochenenden verschafften. Trotzdem hätte sie sicherlich nein gesagt, nach all der Ablehnung, die sich als Kind und Jugendliche empfunden und all dem Hass, der sich bei ihr angestaut hatte. Aber Vater wäre nicht Vater gewesen, wenn er das nicht einkalkuliert hätte. Er verband das Angebot mit einer Daumenschraube: Entweder Evelyn kam, dann blieb ihr Name in seinem Testament stehen – oder sie kam nicht, dann würde er sie aus seinem letzten Willen streichen.

Nur das nicht! Die Hoffnung auf ein reiches Erbe war das Einzige gewesen, was Evelyn in langen Jahren wirtschaftlicher Not bei der Stange gehalten hatte. Natürlich wusste sie, dass sie einen Pflichtteil erhalten würde; angesichts der Höhe ihrer Schulden aber würde der vermutlich nicht reichen, um ihr eine sorgenfreie Zukunft zu gewährleisten.

Vater hatte ihr ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnte. Zähneknirschend nahm sie es an.

Die ersten Monate verliefen gar nicht so schlecht. Die meiste Arbeit erledigten die polnischen Pflegerinnen; ihre eigene Funktion war mehr die einer gehobenen Gesellschaftsdame. Nur, wenn sie mit ihm allein war, kommandierte er sie herum wie in alten, bösen Zeiten. Also hielt sie diese Phasen so knapp wie möglich. Sie war kurz davor, sich mit ihrer neuen Lebenssituation anzufreunden, als die merkwürdigen Begegnungen begannen.

»Vater, wer ist diese Frau? Und versuch gar nicht erst zu leugnen. Solch eine Ähnlichkeit kann kein Zufall sein.«

Bertram Wattjes seufzte. »Was soll ich lange drum herum reden«, sagte er mit heiserer, aber fester Stimme. »Ja, Eva ist meine Tochter. Ebenso wie du. Sie ist ein Jahr jünger.« Er seufzte. »Weißt du, deine Geburt war mit Komplikationen verbunden, und danach teilten die Ärzte deiner Mutter mit, dass sie nie wieder ein Kind bekommen konnte. Was glaubst du, wie verzweifelt wir waren! Ich hatte mir doch so sehr einen Erben für meine Firma gewünscht. Aber die Hoffnung konnte ich mir aus dem Kopf schlagen. Da habe ich es dann anderweitig versucht. Bei einer Jugendfreundin, die deiner Mutter übrigens sehr ähnlich sah. Was sollte ich denn machen!«

Evelyn blieb ganz ruhig; darüber staunte sie selber. Was ihr Vater hätte machen sollen? Eine unglaubliche Frage! Treu bleiben, gefälligst. Sich seiner erstgeborenen Tochter zuwenden. Ihr das Vertrauen schenken, das sie verdiente, und sie zu seiner Nachfolgerin aufbauen, statt in der Gegend herumzuvögeln und darauf zu hoffen, einen männlichen Nachfolger zu zeugen, der genauso klotzköpfig war wie er. Aber auf den Gedanken, dass ein Mädchen in der Lage sein könnte, eine Firma zu leiten, war er natürlich nie gekommen!

»Natürlich bin ich auch auf den Gedanken gekommen, dir die Leitung meiner Firma anzuvertrauen«, krächzte der alte Mann. »Warum sollte ein Mädchen dazu nicht in der Lage sein? Aber dann hast du ja fluchtartig das Nest verlassen. Tja, und nachdem du deinen eigenen Laden in den Sand gesetzt hattest, war mir klar, dass es wohl besser so war. Auch mit Eva habe ich es dann gar nicht erst nicht versucht. Sie weiß ja bis heute nicht, wer ihr Vater ist und wer ihr das Studium bezahlt hat.«

Immer noch blieb Evelyn ganz ruhig; das konnte sie quasi sehen, weil sie inzwischen neben sich stand, innerlich schäumend vor Wut. Wie sie diesen verfluchten Kerl hasste! Aber was hätte es für einen Sinn, jetzt noch die ungekämpften Kämpfe vergangener Zeiten auszufechten? Das brachte ja doch nichts mehr. Wichtig war jetzt nur noch eins.

 

»Diese … Eva«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Die hast du doch wohl nicht in deinem Testament bedacht, oder?«

»Aber natürlich«, sagte Bertram Wattjes. »Sie ist doch meine leibliche Tochter, genau wie du. Jede von euch bekommt die Hälfte, wenn ich mal nicht mehr bin. Mach dir keine Sorgen, es ist genug da, das reicht für euch beide.«

Evelyn nickte, und sie brachte sogar ein Lächeln zustande, ehe sie das Zimmer verließ. Ein gequältes Lächeln. In ihrem Kopf schrillten Alarmglocken. Natürlich hatte sie jede Gelegenheit genutzt, sich einen Überblick über die Finanzen ihres Vaters zu verschaffen. Die Gesamtsumme war beachtlich, aber auch nicht astronomisch. Sie würde durchaus reichen, um all ihre Schulden zu tilgen und ihr außerdem noch ein angenehmes Leben zu gewährleisten. Wohlgemerkt, die volle Summe. Mit der Hälfte konnte sie gerade eben ihre Verbindlichkeiten begleichen, dann müsste sie wieder arbeiten gehen. So aber hatte sie sich das nicht vorgestellt.

Außerdem kosteten Villa und Pflegedienst eine Menge Geld, was von den geringen Zinserträgen nicht aufgefangen wurde. Mit jedem Monat, der verging, schmolz Vaters Vermögen ein wenig zusammen. Und auf das, was blieb, wartete nicht nur sie, Evelyn. Sondern auch Eva, ihr Ebenbild. Mit der sie schwesterlich würde teilen müssen.

Nein, verdammt! Das durfte nicht geschehen.

Das würde auch nicht geschehen. Die demütigenden Jahre auf den Knien hinterm Putzeimer und an der ewig piepsenden Scanner-Kasse hatten sie hart gemacht. Sie wusste genau, was sie wollte, und war bereit, alles dafür zu tun.

Sie begann damit, mehr über diese Eva herauszubekommen. Nach Feierabend folgte sie ihr mit Vaters Mercedes. Ihre Halbschwester wohnte in einem schmucken Häuschen unweit des Flusses Leda, und zwar nicht allein. Anders als Evelyn schien sie Glück bei der Partnersuche gehabt zu haben. Auf dem Türschild standen die Namen Eva Blohm und Dr. Michael Blohm. Aha, der Mann war Doktor! Evelyns Neid nahm zu und fachte ihre Wut weiter an.

Kinder hatten die beiden nicht. Ihre Arbeitstage planten sie sehr eigenständig; jeder hatte sein eigenes Auto, bei gutem Wetter fuhren sie Fahrrad. In Sachen Freizeitsport gingen sie getrennte Wege; während er – ganz das Klischee – Tennis spielte und ins Fitnessstudio ging, bevorzugte sie Wassersport, was Aufkleber von Ruder- und Segelklub an ihrem Auto und ein Paddelboot neben der Garage bekundeten.

Ausgezeichnet, dachte Evelyn und begann Pläne zu schmieden.

Zuerst wandte sie sich Evas Auto zu. Während deren Ehemann einen großen Geländewagen besaß, fuhr sie einen filigranen englischen Sportwagen-Klassiker. Ihre Stiefschwester, stellte Evelyn fest, fuhr einen heißen Reifen; oft genug bremste sie erst im letzten Augenblick. Was, wenn die Bremsen einmal überraschend versagten? Airbags hatte der kleine Klassiker keine – er besaß noch nicht einmal eine Knautschzone, als Fahrerin saß man direkt hinter dünnem Türblech und mit dem Hintern fast auf der Straße.

Die Bremsleitungen zu kappen, erschien Evelyn ein Leichtes; schließlich hatte sie viele Jahre lang mit den ältesten gebrauchten Gurken Vorlieb nehmen müssen und die ständig notwendigen Reparaturen meist selbst vorgenommen. Bei Dunkelheit und ohne Taschenlampe unter einem fremden Wagen sah das allerdings etwas anders aus. Evelyn musste wohl statt der Brems- die Kühlwasserleitung erwischt haben, jedenfalls bekam sie am nächsten Tag mit, wie Evas Wagen abgeschleppt wurde – mit heiß gelaufenem Motor, aber ansonsten unversehrt.

Mist, dachte Evelyn. Sie hatte sich schon gewundert, dass Bremsflüssigkeit so dünnflüssig war.

Die nächste Attacke startete sie auf Evas Kajak. Mit einem Handbohrer perforierte sie den Bootsboden gleich an mehreren schwer zugänglichen Stellen und verschloss die Löcher mit wasserlöslichem Kleber, wie Kindergärten ihn verwendeten. Es klappte wie geplant; die Bohrungen blieben unentdeckt, der Kleber löste sich bei der nächsten Leda-Tour, und Evas Boot lief voll Wasser. Nicht einkalkuliert freilich hatte Evelyn, dass das Kajak über Auftriebskörper verfügte und Eva über eine Schwimmweste. So rettete sie sich nass, aber ansonsten unbeschadet ans Ufer. Evelyn konnte von Glück reden, dass das lecke Paddelboot anschließend von der starken Strömung bis in die Ems getrieben wurde, wo es ins Saugrohr eines Baggerschiffs geriet und geschreddert wurde. Bei einer Untersuchung des Vorfalls wäre sonst womöglich etwas aufgefallen.

Evelyn ließ sich nicht entmutigen. Als Nächstes sabotierte sie den Elektro-Rasenmäher ihrer Halbschwester; das Einzige, was sie damit erreichte, war jedoch, dass die Wicklung des Motors durchschmorte und Eva Ärger mit der Versicherung bekam, die den Schaden nicht ersetzen wollte.

Auch der Versuch, Evas kleine Segelyacht im Leeraner Hafen mit Hilfe bordeigenenen Propangasflasche und eines Reibezünders an der Tür zur Kajüte in eine Bombe zu verwandeln, schlug fehl. Evelyn übersah, dass die Bootskajüte über eine Zwangsentlüftung verfügte, und als sich die Stegnachbarn über den bedenklichen Geruch beschwerten und Eva nachschauen kam, lag die Gas-Konzentration längst unterhalb der kritischen Schwelle.

Evelyn wurde immer ärgerlicher, vor allem, weil ihr mittlerweile die Ideen ausgingen. Was sollte sie denn noch alles anstellen, um diese unerwünschte Person von dieser Welt in die nächste zu befördern? Einen Killer engagieren? Oder sich selbst eine Waffe besorgen?

Eine Sekunde lang blieb ihr der Mund offen stehen, dann schlug sie sich mit der flachen Hand an die Stirn. Was hieß hier besorgen! Hatte ihr Vater nicht einen ganzen Schrank voller Waffen im kleinen Salon stehen? Er war immer schon ein passionierter Jäger gewesen, und mit zunehmendem Reichtum hatte er seine Sammlung erweitert. Evelyn verstand zwar nicht allzu viel von Schusswaffen, aber sie wusste, wo Vater seine Schrankschlüssel aufbewahrte. Der Rest würde sich finden.

Unter dem Vorwand, Vater zu fragen, ob er einen Tee wünschte, betrat sie sein Krankenzimmer. Ihr Vater schlief; so zog sie nur die Vorhänge zu, öffnete leise die oberste Schublade der Kommode gleich neben dem Fenster und nahm das Schlüsselbund an sich. Schon war sie wieder auf den Flur hinaus gehuscht.

Der Waffenschrank enthielt mehrere Jagdgewehre, die viel schwerer waren, als Evelyn erwartet hatte. Bestimmt waren sie auch entsprechend laut, überlegte sie; wie sollte sie denn damit ihrer Stiefschwester das Lebenslicht auspusten, ohne halb Leer auf sich aufmerksam zu machen? Zum Glück waren auch zwei Pistolen da und ein kurzläufiger Revolver. Zu dem fasste sie sogleich Vertrauen. Seine stupsnasige Öffnung war ausreichend groß, und mochte er auch ebenfalls recht laut sein, so konnte man ihn doch in geschlossenen Räumen verwenden. Genau das hatte sie vor.

Vorher aber war es notwendig, sich ein wenig mit der Funktionsweise dieser Waffe vertraut zu machen. Und das sollte sie vielleicht nicht tun, ohne gewisse Vorkehrungen zu treffen. Zum Beispiel auch im Salon die Vorhänge zuzuziehen. Sie erhob sich und trat ans Fenster.

Sie erstarrte, eine Hand in den Vorhangstoff gekrallt. Dieses Auto dort draußen, gleich neben dem Rollcontainer, hatte sie vorhin schon gesehen, aus Vaters Fenster. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, war ganz auf Schublade und Schlüssel fixiert gewesen. Jetzt aber hatte sie das deutliche Gefühl, den Wagen zu kennen. Wer fuhr denn solch einen großen Geländewagen?

Ein riesiger orangefarbener Müllwagen schob sich in ihr Blickfeld. Zwei Müllwerker zerrten den Rollcontainer vor die Ladeluke des Ungetüms und betätigten die Hebevorrichtung. Evelyn achtete nicht darauf, wie der Behälter angehoben und entleert wurde. Ihr Blick hing an dem, was hinter dem Container zum Vorschein gekommen war. Es war die Frontpartie eines englischen Sportwagen-Klassikers.

Hinter sich hörte sie ein Klicken. Als sie herumfuhr, blickte sie in ihr eigenes Gesicht. Und in die stupsnasige Mündung eines Revolvers.

Der Schuss traf sie wie ein harter Schlag. Sie hat genau meine Frisur, dachte sie noch, und sie trägt die gleiche Kleidung wie ich.

Wie sie auf den Boden aufschlug, spürte sie schon nicht mehr.

»Sehr schön«, sagte Michael Blohm. »Jetzt leg ihr die Waffe locker in die rechte Hand. Sie hat das Ding ja dankenswerterweise ausgiebig angegrabscht. Dann zieh dir die Latexhandschuhe aus und bring dem alten Herrn seinen Tee. Der Schuss dürfte ihn geweckt haben.«

»Was heißt hier Schuss! Das war doch nur eine Fehlzündung auf der Straße.« Eva ahmte Evelyns barschen Tonfall gekonnt nach, lachte und verließ den kleinen Salon.

Wenige Minuten später war sie zurück. »Er hat nichts gemerkt«, sagte sie stolz. »Hat mich glatt für Evelyn gehalten! Und die Sache mit der Fehlzündung hat er auch geschluckt, ebenso wie den Tee.« Sie strich sich über ihre ungewohnte Frisur. »Außer uns ist niemand im Haus; die Pflegerin kommt erst in einer Stunde.«

»Sehr schön«, erwiderte Dr. Michael Blohm. »Wenn der alte Herr den Tee getrunken hat, wird er bald den ganz tiefen, langen Schlaf schlafen. Und? Tut es dir leid?«

Eva schnaubte verächtlich. »Warum sollte es? Wenn es nach ihm gegangen wäre, wüsste ich doch bis heute nicht, wer mein Vater ist! Ihm scheint das all die vielen Jahre nichts ausgemacht zu haben. Solch einen Vater brauche ich nicht.« Sie zeigte auf den Fußboden vor dem Fenster: »So ein Biest von Halbschwester auch nicht, und wenn sie mir noch so ähnlich sieht.«

»Hartnäckig war sie ja.« Michael Blohm lachte. »Dein Auto, dann das Paddelboot, der Rasenmäher … erst bei der Sache mit der Gasflasche sind wir ihr auf die Schliche gekommen.«

Eva schlang ihre Arme um Michaels Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Jetzt musst du nur noch dafür sorgen, dass die Totenscheine auch richtig ausgestellt werden! Ihr Todeszeitpunkt muss unbedingt vor seinem liegen. Nicht, dass ihr noch das halbe Erbe zugesprochen wird und dadurch womöglich an den Staat fällt. Die andere Hälfte ist zwar auch ein Batzen Geld, aber erst mit der ganzen Summe kann man sich ein richtig schönes Leben machen. Warum also teilen?«

Er lachte. »Das sehe ich auch so! Mach dir keine Sorgen, darum kümmere ich mich persönlich. Der diensthabende Notarzt ist ein Tennis-Kumpel von mir und keine große Leuchte. Da ich diese Woche den Hausarzt deines Vaters vertrete, kann ich dem Notarzt unauffällig zur Hand gehen.« Er schaute auf seine Armbanduhr: »Inzwischen dürfte es so weit sein. Ruhe sanft, reicher alter Mann!«

»Jetzt sollten wir aber zusehen, dass wir wegkommen«, drängelte Eva. »Wer weiß, vielleicht kommt die Pflegerin heute früher! Du darfst unbedingt erst nach ihr hier erscheinen.«

Seite an Seite gingen sie die Treppe hinunter. »Übrigens hast du vorhin einiges vergessen«, sagte Eva, als sie auf ihre Autos zusteuerten. »Bei deiner Aufzählung. Da war doch noch der ausgehängte Blumenkasten, der mich fast erwischt hätte. Und dann die gelösten Radmuttern an meinem Fahrrad! Damit hätte sie mich beinahe erwischt, wenn ich an dem Tag nicht zufällig meinen Helm getragen hätte. Teufel, war das knapp! Ich frage mich immer noch, wie die Frau eigentlich in unsere Garage gekommen ist.«

»Oh ja, sie war ein findiges Biest«, sagte Dr. Michael Blohm versonnen. »Jetzt kann sie uns das leider nicht mehr sagen.«

Eva schaute zur Uhr. »Was machen wir denn in der nächsten halben Stunde? Hier stehen bleiben können wir ja schlecht. Fahren wir noch eben nach Hause?«

»Ja«, sagte Michael Blohm, »fahren wir noch eben nach Hause. Ich mach dir auch einen Tee. Der wird dich beruhigen.«