Ostfriesen morden anders

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Nachtragend

Uke Müller war nachtragend. Wenn es sich einer mit ihm verdarb, dann vergaß er es ihm nie. Da war er wie ein Elefant.

Uke war auch sonst einem Elefanten nicht unähnlich. Nur nicht so geschickt. Das Geschäft, das er in der Leeraner Altstadt eröffnet hatte, wäre vielleicht ganz gut gelaufen, wenn Uke nicht so ein Paddel gewesen wäre. Er bestellte nur Ware, die seinem Geschmack entsprach – meistens nur seinem. Auf Kundenwünsche ging er grundsätzlich nicht ein. Wagte jemand ein kritisches Wort, dann fuhr er ihm frech über den Mund. Als ein Lieferant von Kundenbindung sprach, lachte er nur.

Es dauerte keine fünf Monate, dann drehte man Uke den Geldhahn zu. Kreditlinie zweimal erhöht, Zahlen konstant rot – die Bank zog die Reißleine. Da nutzte auch kein Bitten und kein Betteln, kein Klagen und kein Motzen. Uke musste dichtmachen.

Das vergaß Uke der Bank nicht. Uke schwor Rache. Denn er war nachtragend.

Die Bank baute ein neues Geschäftshaus, ein großes, teures Ding, mitten in der Fußgängerzone. Es war so gut wie fertig, bald würden die ersten Angestellten ihre Büros beziehen. Töten wollte Uke ja keinen, aber der Bank sollte es richtig wehtun. Also war der Zeitpunkt günstig.

Uke baute eine Bombe. Das konnte er, denn er saß oft nächtelang am Internet. Der lachende Typ mit dem Islamisten-Bart machte genau vor, wie das ging. War gar nicht so schwer.

Als Uke den Tatort ausbaldowerte, stellte er fest, dass schon sauber gemacht wurde. Höchste Zeit! Heute Abend würde er zuschlagen.

Er kam, als die Putzkolonne gerade Feierabend machte. In seinem blauen Kittel fiel er nicht weiter auf. Er platzierte die Bombe, getarnt als Postpäckchen, in einer Ecke der brandneuen Schalterhalle. Auf all die Scherben und den Schutt freute er sich schon.

Als die letzten Reinigungskräfte das Haus verließen, aktivierte er den Zeitzünder. Fünf Minuten mussten reichen. Eilig schlüpfte er mit durch die Seitentür. Der Mann mit dem Schlüssel guckte irritiert, sagte aber nichts.

Als Uke ein paar Hauseingänge weiter Deckung nehmen wollte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Es war eine der Putzfrauen. »Hier, das haben Sie vergessen«, sagte sie und drückte ihm das Päckchen in die Hand, das sie ihm nachgetragen hatte. »Keine Ursache! So, ich muss schnell weiter, die anderen warten schon. Tschüß!« Und weg war sie.

Uke starrte fassungslos auf die Bombe in seinen Händen. Wie kann man nur so nachtragend sein, war das Letzte, was er dachte.

Helgoländer Wurzeln

Sie hatte gehofft, dass er sie am Kai erwartete. Und sie war gespannt gewesen, was für ein Gesicht er machen würde. Eine deutliche Reaktion hatte sie sich gewünscht, eine Gefühlseruption, die die sonst so glatte Oberfläche seiner männlich-herben Coolness durchbrach und zertrümmerte. Wann, wenn nicht jetzt, hatte sie gedacht.

Das hier aber übertraf alle Erwartungen.

Immo Hamkens war ein Friesenkerl wie aus dem Bilderbuch, einsfünfundneunzig groß, schmalhüftig, breitschultrig, flachsblond, die blauen Augen von borstigen Brauen halb verborgen, die Nase kräftig, der Mund breit, der Unterkiefer stark. Alles in allem ein stattlicher Mann von siebenundzwanzig Jahren, dessen Umarmungen ihr den Atem geraubt und dessen Küsse sie süchtig gemacht hatten.

Aber wie er da so stand, mit baumelnden Armen, hängenden Schultern und offenem Mund, sah er nicht mehr so aus wie der Mann, auf dessen Klopfen hin sie gar nicht schnell genug ihre Zimmertür hatte öffnen können. Der schönste Mann des gesamten Lehrgangs, und sie hatte ihn in ihrem Bett! Ein höchst befriedigendes Gefühl.

Der Rest war … na ja, auch nicht schlecht. Aber wirkungsvoll. Was die Folgen anging.

Betont langsam schritt sie die kurze Gangway hinab. Sehr betont wiegte sie sich in den Hüften. Und ganz besonders betont reckte sie ihren Babybauch vor. Eine runde Sechs prangte auf dem rosa Sticker an ihrem Shirt; trotzdem wurde sie immer wieder gefragt, in welchem Monat sie denn sei. Manche Leute kapierten auch gar nichts.

Immo schien einer von denen zu sein. Jedenfalls stand sein Mund immer noch offen.

Tomke blieb direkt vor ihm stehen, die Arme in die Seiten gestemmt, und strahlte ihn an. Die übrigen Passagiere mussten sich hinter ihr vorbeizwängen. Ein breiter Klotz mit weißblonder Stoppelfrisur glotzte sie vorwurfsvoll an. Seine Begleiterin mit dem kecken Pferdeschwanz lachte nur.

Immo lachte nicht. »Was soll das denn?«, stieß er hervor, kaum dass er seinen Unterkiefer wieder in der Gewalt hatte.

»Wie, was das soll?« Tomke, die ihre Hände just zur Begrüßungsumarmung erheben wollte, ließ sie wieder sinken.

»Na das! Das da!« Immos Zeigefinger zielte anklagend auf Tomkes pralle kleine Halbkugel. »Ist das … war das …« Sein Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck des Ekels: »Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass ich …«

Tomke war wie vor den Kopf geschlagen. Mit vielem hatte sie gerechnet, auf manches gehofft. Dies aber hatte nicht auf ihrer Liste gestanden.

Na ja, vielleicht hatte sie ein bisschen zu lang gezögert. Das war ja überhaupt ihre Art, das Zögerliche, in vielerlei Hinsicht. Den Besuch beim Gynäkologen hatte sie hinausgezögert, obwohl sie natürlich ahnte, warum ihre Regel ausgeblieben war. Den Termin bei der Beratungsstelle hatte sie zweimal verstreichen lassen. Und als es dann für eine Abtreibung endgültig zu spät gewesen war, da war sie richtig erleichtert gewesen.

Ja, verdammt, sie wollte das Kind. Dieses Kind, das von Immo. Sie wollte es bekommen und haben und großziehen. Mit Immo.

Nachdem ihr das klar geworden war, hätte sie es Immo wohl gleich sagen sollen. Aber es war nicht so einfach gewesen, sich dazu aufzuraffen, zumal sie schon länger nichts von ihm gehört hatte. Genau genommen seit dem Ende dieses gastronomischen Fortbildungslehrgangs in Cuxhaven nicht. Ein paar flotte Nächte, ein paar schnelle Schwüre – rückwirkend betrachtet, nahm sich die Sache mit Immo wie ein flüchtiges Abenteuer aus. Das war es natürlich nicht. Nicht mehr, denn ein Kind änderte ja alles.

Am besten, hatte sie sich irgendwann gedacht, fahre ich einfach zu ihm hin. Nach Helgoland, wo er lebt und arbeitet und seine Wurzeln hat. Dann wird er ja sehen, dann wird er sich freuen, hoffentlich, dann wird alles gut werden.

Tja, und da stand sie nun.

»Natürlich will ich das!« Tomke konnte nicht verhindern, dass sie laut wurde. »Was denkst du denn, von wem sonst! Wofür hältst du mich?«

Jetzt endlich begann Immo zu lächeln. Aber was sein markantes Gesicht da in die Breite zog, war nicht das glückliche Lächeln eines werdenden Vaters. Vielmehr war es eine gehässige Antwort auf ihre Frage. Ja, wofür hielt er sie wohl? Für ein neunzehnjähriges Hotelflittchen, dessen Tür leicht zu öffnen und deren Bett leicht zu entern war. Und das wohl Spaß machen durfte, so für ein Weilchen, aber mit Sicherheit keine Probleme, oh nein.

Helgoland, dachte sie, ein harter Felsen im kalten Meer. Was hab ich mir bloß gedacht? Ihr fiel wieder ein, was sie in der Schule über die Engländer gehört hatte, die diese Insel nach dem Zweiten Weltkrieg hatten auslöschen wollen. Sie nannten sie »Hell-go-land«, das Land, das zur Hölle geht.

Plötzlich waren Immos Hände doch auf ihren Schultern, ihren Armen, sein Gesicht war ganz nah, das gehässige Lächeln wie weggewischt. »Mensch, Mädchen, was denkst du dir denn«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Das ist jetzt alles anders bei mir! Ich bin jetzt Hotelier, weißt du, nicht mehr bloß Angestellter, ich leite das Haus Hallund, das mir mein Onkel vererbt hat! Ich bin jetzt zweiter Vorsitzender vom Museumsverein, und die Börteboot-Touren rüber zur Düne, die mache ich auch. Verstehst du?«

Sie schaute hoch, ihm ins Gesicht, erkannte ihn kaum, vielleicht wegen des Tränenschleiers. Was wollte er ihr sagen? Wohl, dass er jetzt jemand war. Und sie und ihr Kind, waren sie denn niemand?

»Und außerdem«, flüsterte er weiter, noch leiser und intensiver und drängender, »bin ich ja nicht mehr ungebunden. Ich bin verheiratet, verstehst du? Mit Annegret. Und da kann ich doch nicht einfach ankommen mit … mit … du weißt schon.«

Sie spürte seinen vorwurfsvollen Zeigefinger an ihrem Bauch. Das Ungeborene bewegte sich zuckend. Auch Tomke zuckte zusammen. »Verheiratet?«, fragte sich heiser. »Was denn, so plötzlich? Davon hast du doch gar nichts … Wann war das denn?«

Er wand sich, sein Blick schweifte hin und her, seine kräftigen Hände kneteten ihre Oberarme, dass es schmerzte. »Letzten Februar«, erwiderte er dann. »Solche Sachen machen wir hier immer außerhalb der Saison.«

»Im Februar?« Jetzt war sie froh über den derben Griff seiner Hände, denn für einen Moment schien sich alles um sie zu drehen. »Im Februar? Der Lehrgang war doch im März! Dann warst du also schon verheiratet, als wir …«

Jetzt war Oktober.

Er zuckte die Achseln. »Ach, du weißt doch, wie das ist. So ein Lehrgang, das ist doch nichts, das ist doch off limits! Zählt nicht, quasi.« Er fixierte sie mit seinen blauen Augen. »Das war doch klar, oder? Dachte ich.«

Wie kalt sein Blick auf einmal ist, dachte sie. Fröstelnd schüttelte sie seine Hände ab. »Zählt nichts, ja?«, erwiderte sie scharf. »Dachtest du, ja? Und was ist hiermit? Zählt das auch nichts?« Sie streckte ihren Babybauch noch weiter vor.

Wieder dieses Achselzucken. »Dein Problem. Ich dachte, du nimmst die Pille. Ist doch normal.« Er kratzte sich hinterm Ohr. »Kann man das nicht noch wegmachen lassen?«

Ihr war, als hätte sie diese Frage bereits Sekundenbruchteile früher gehört, als er sie ausgesprochen hatte. So klar war ihr auf einmal, wie dieser Typ tickte. Und dass sie niemals auf ihn würde bauen können. Aus, dachte sie, bloß weg. Fort mit Schaden. Oder vielmehr: Den Schaden, den wird er haben. Denn das wird ihn etwas kosten.

 

Wortlos drehte sie sich weg, ganz ruhig ging sie davon. Aber nicht zurück aufs Schiff, auf die Funny Girl, die sie hergebracht hatte. Sondern Richtung Unterland, dorthin, wo es Hotels gab. So schnell wollte sie das Feld hier nicht räumen.

Die Frau mit der rotblonden Mähne, die im Schatten einer der bunten Hummerbuden stand, Füße auf Schulterbreite, Fäuste in die Hüften gestemmt, die Augen weit aufgerissen, und zu ihnen herüberstarrte, bemerkte sie nicht.

*

»Da runter?« Stahnke wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Diese steile Stiege? Nur, damit wir an diesen Steinbrockenstrand kommen? Nachdem wir vorhin erst mühsam die tausend Stufen vom Unter- zum Oberland hochgekraxelt sind?«

Sina lachte spöttisch. »184 Stufen waren es bloß! Und ich fand’s überhaupt nicht mühsam.« Leichtfüßig begann sie die schmalen Stufen am Steilufer hinunterzuhüpfen. Ihr rötlichbrauner Pferdeschwanz hüpfte keck mit.

Hauptkommissar Stahnke stöhnte und rieb sich die Handflächen an seinen weißblonden Stoppelhaaren trocken. Für hochgebirgsartige Kletteraktionen war er eindeutig zu schwer gebaut, fand er. Auch wenn dieses Gebirge aus Buntsandstein nur gut einundsechzig Meter hoch war und sich auf hoher See, also in Stahnkes angestammten Revier, befand.

»Vorsicht, Sina, nicht so schnell«, rief er. »Sonst brichst du dir noch den Hals!«

Sie lachte nur, sprang weiter von Stufe zu Stufe und winkte ihm dabei zu. Es sah aus, als halte sie sich für eine Möwe und wollte jeden Moment abheben. Stahnke keuchte und klammerte sich mit doppelter Kraft ans Geländer.

Über Nacht hatte der Wind deutlich aufgefrischt; das hatten sie beim Spaziergang übers menschenleere Oberland zu spüren bekommen. Eine besonders starke Böe hatte Sina tatsächlich von den Füßen gerissen. Stahnke hatte noch mit ihr gesprochen und erst mit Verspätung bemerkt, dass sie schon über die Wiese kugelte. Statt über sich selbst lachte Sina dann über ihn.

Tja, auch eine Form von partnerschaftlicher Unterstützung.

Stahnke war erst am vorletzten Treppenabsatz, als Sina schon den Strand erreicht hatte. Übermütig sprang sie zwischen Sandsteintrümmern herum, schlug dabei die Richtung ein, aus der sie gekommen waren, statt sich wenigstens dem Unterland zuzuwenden, wo sich das Hotel Hallund befand. Nach dem Aufstehen hatte sie darauf bestanden, gleich zum Spaziergang aufzubrechen. »Ehe alle anderen unterwegs sind. Danach schmeckt das Frühstück doppelt so gut.« Seinen Einwand, dass es in der Nachsaison doch nur wenige Übernachtungsgäste auf Helgoland gab, hatte sie vom Tisch gewischt. Nur eine schnelle Tasse Kaffee hatte er durchsetzen können.

»Die andere Richtung! Die andere! Rechts herum!« Stahnkes Stimme wurde vom Wind ebenso gründlich verweht wie Sinas ehedem straff gezurrte Frisur, und sein Gefuchtel beantwortete Sina mit erneutem Winken. Dann lief sie weiter in die falsche Richtung. Stahnke sah seine Hoffnung auf ein baldiges Frühstück entschwinden und stöhnte.

Dann blieb Sina plötzlich wie angewurzelt stehen. Die Arme hielt sie einen Moment lang unnatürlich abgespreizt, ehe sie sich beide Hände vors Gesicht schlug.

Eine böse Ahnung ergriff den Hauptkommissar. Fast wäre er die letzten Stufen hinab gesprungen. Den Slalom zwischen den Steinen am Strand absolvierte er mit einer Trittsicherheit, die ihm nur unter Adrenalin zu Gebote stand. Als Sina ihn kommen hörte, trat sie einen Schritt beiseite.

Zwischen den Sandsteinblöcken lag jemand. Ein Mann, ein großer Mann, ein Kerl mit schmalen Hüften, breiten Schultern und flachsblondem Haar auf der linken Seite seines Kopfes. Die rechte Seite allerdings war mehr rot, und die Haare dort hatten sich mit anderen Substanzen vermengt, die zuvor vermutlich Haut, Knochen und Hirn gewesen waren. Auch der Hals des Mannes war links voller Blut. Seine Augen standen offen und seine Gliedmaßen waren unnatürlich verrenkt.

Trotz allem tastete Stahnke nach einem Puls. Erwartungsgemäß gab es keinen. Dafür war noch ein Rest Körperwärme zu spüren. »Lange liegt der hier noch nicht«, sagte er.

»Erkennst du ihn denn gar nicht?«, fragte Sina. Sie war bleich, hatte sich jedoch im Griff. Die Jahre mit Stahnke hatten sie ziemlich abgehärtet.

»Erkennen?« Der Kriminalbeamte beugte sich erneut über die Leiche, während er in seiner Hosentasche nach dem Handy kramte. »Richtig, das ist doch der Typ, der sich gestern am Kai mit der kleinen Schwangeren rumgestritten hat. Und später haben wir ihn auch noch in unserem Hotel gesehen.«

»Das ist der Manager vom Hotel Hallund«, präzisierte Sina. »Offenbar auch der Besitzer. Seine Frau, die mit der rotblonden Walle-Mähne, leitet den Service, er machte den Hotelchef. Obwohl diese Rolle irgendwie nicht zu ihm gepasst hat. Er wirkte deplatziert, fandest du nicht?«

Stahnke zuckte die Achseln. »Tja, etwas unbeholfen war er schon. Aber dabei hab ich mir nun wirklich nichts gedacht. Typischer Nordfriese eben.« Er drückte den Notruf. »Außerdem wirkt er hier noch viel deplatzierter.«

Sina schüttelte den Kopf. So ein Spruch konnte wohl nur von einem Ostfriesen kommen.

*

»Entschuldigung – Frau Gersema? Herr Hauptkommissar? Dürfte ich Sie beide kurz stören?«

Aha, die Inselkollegen hatten ihre Arbeit aufgenommen. Zeit wurde es ja. Noch kauend, nickte Stahnke bestätigend, ehe er hochblickte – und konnte nur mit Mühe verhindern, den Inhalt seiner Mundhöhle quer über den Tisch zu prusten. Denn der schmalbrüstige Typ in dunkelblauer Uniform, der sich da in Habachtstellung aufgebaut hatte, sah mit seinen Hasenzähnen und seiner goldumrandeten Brille einfach zum Schießen aus. Die Krönung aber war sein Fahrradhelm, den abzunehmen er wohl vergessen hatte. Der Farbe nach gehörte das Ding sogar zur Uniform. Sowas bekämpfte auf Helgoland also Verbrecher! Die sollten sich wohl totlachen.

»Sie gestatten?« Das Männlein griff nach einer Stuhllehne. »Oberkommissar Battermann. Sie beide haben also den Toten entdeckt?«

Ein unauffälliger, grauhaariger und grau gekleideter Mann mit dunkelbraun gegerbtem Gesicht erschien an der Schmalseite des Tisches wie aus dem Boden gewachsen. »Moin, Helmut«, grüßte er den Polizisten und nickte dann in die Runde. »Darf es noch etwas sein? Frischer Kaffee vielleicht?«

»Das wäre nett«, erwiderte Stahnke, der seinen Brötchenbissen inzwischen hinuntergeschluckt hatte. Unauffällig schaute er auf seine Uhr – fast zwölf. »Überhaupt sehr nett von Ihnen, dass wir um diese Zeit noch frühstücken dürfen.«

»Ich bitte Sie.« Der Grauhaarige hob abwehrend die Hände. »Das sind doch außergewöhnliche Umstände heute. Nach dieser schlimmen Sache mit Immo …« Er nickte noch einmal verbindlich und entfernte sich Richtung Küche.

»Nette Bedienung«, sagte Sina. »Sehr verständnisvoll.«

»Das ist Nummel Hamkens«, erklärte Battermann. »Immos Onkel. Ist freundlicherweise für Carla eingesprungen. Carla, das ist Immos Frau. Vielmehr Witwe. Sie kann derzeit nicht hier sein.«

Stahnke wiegte den Kopf. »Vollauf verständlich. Nach solch einem Schock wäre ich wohl auch nicht dazu in der Lage, meinen Dienst ganz normal …« Er brach ab. Etwas in Battermanns Miene sagte ihm, dass er auf dem Holzweg war. »Oder hat sie etwa gar keinen Zusammenbruch erlitten? Was hält sie denn dann von ihrer Arbeit fern?«

»Wetten, die Dame sitzt bei Ihren Kollegen auf der Polizeistation?«, warf Sina wie beiläufig ein. »Zur Vernehmung? Als Tatverdächtige?«

»Also das … dazu kann ich gar nichts …« Battermann schien sich endlich seines Fahrradhelms zu entsinnen und zog ihn sich umständlich vom Kopf. Nach vorn, wie um sich dahinter zu verstecken.

»Fangen Sie bloß nie das Pokern an, Herr Kollege. Bluffen liegt Ihnen nicht.« Auch bei Stahnke war jetzt der Groschen gefallen. »Hab mir gleich gedacht, dass das kein Unfall gewesen ist. Obwohl es natürlich auf den ersten Blick so ausgesehen hat. Absturz vom Oberland, die Steilküste runter und hinein in die dicken Felsbrocken und so. Aber was ein echter Insulaner ist, der kennt seine Insel, dem passiert das nicht. Da hat einer nachgeholfen. Stimmt’s?«

Battermann wand sich auf seinem Stuhl. »Sie werden verstehen, dass ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar keine Auskünfte geben kann. Die Ermittlungen laufen erst an. Unser Doktor ist ja gerade erst mit der Inaugenscheinnahme des Toten fertig.«

»Das Blut am Hals«, warf Sina ein. »Alles andere – der zerschmetterte Schädel, die Knochenbrüche, die Verrenkungen – sind potentielle Sturzverletzungen, die auch Folgen eines unfallbedingten Absturzes gewesen sein könnten. Woher aber sollte das Blut am Hals gekommen sein? Vom Kopf her nicht, da war die andere Seite blutig, und so wie der Tote lag, ist nichts rübergetropft. Und aus der Nase kann es auch nicht gekommen sein.«

»Vermutlich also eine Stichverletzung«, nahm Stahnke den Faden auf. »Linksseitig, das passt auf einen Rechtshänder. Oder?«

Battermann seufzte. »Ach, wenn Sie sowieso schon alles wissen …« Er räusperte sich. »Jedenfalls fast.«

»Wieso fast?«, fragte Sina.

»Es war nicht eine Stichverletzung«, sagte Battermann.

»Kein Stich?«, fragte Stahnke erstaunt.

»Doch«, erwiderte Battermann.

»Was denn nun?«

»Nicht einer, sondern vier.«

»Vier Stiche.« Stahnke pfiff durch die Zähne. »Das ist heftig.«

»Wo ist es denn überhaupt passiert?«, fragte Sina.

»Oben, in den Kleingärten«, antwortete der Inselpolizist.

»Kleingärten? Sowas gibt es hier?« Stahnke staunte.

»Oh ja!« Battermann lächelte. »Die Kleingartenanlage mit dem schönsten Ausblick Deutschlands! 75 Gärten gibt es da. Das sind begehrte Fleckchen Erde. Hier, wo es fast nur Sand und Felsen gibt, sind diese Parzellen natürlich etwas ganz Besonderes. Die Leute ziehen sich ihr Gemüse, ihre Kartoffeln und Mohrrüben selbst. Frisches Grünzeug ist hier sehr begehrt.«

»Ist ja auch sehr gesund«, sagte Stahnke, ohne nachzudenken.

»In diesem Fall aber tödlich«, murmelte Sina. »Vitamine am Abgrund …«

Zwei weitere Männer betraten den Frühstücksraum, der eine ebenso uniformiert wie Battermann, der andere in legerer Sportkleidung. »Dr. Hinrichs, der Inselarzt«, stellte er sich vor, als er sich zu den anderen setzte. Der zweite Polizist beugte sich zu Battermann und flüsterte ihm ein paar Sätze ins Ohr, ehe er sich wieder entfernte.

Battermann legte die Stirn in Falten. »Frau Hamkens leugnet nicht nur die Tat, sie bestreitet auch, heute früh überhaupt auf dem Oberland gewesen zu sein«, berichtete er. »Seit dem Aufstehen hätte sie durchgehend hier im Hotel zu tun gehabt. Und wie es aussieht, gibt es auch Zeugen, die das bestätigen können. Wir überprüfen das gerade.«

»Was wäre denn überhaupt ihr Motiv gewesen?«, erkundigte sich Sina.

Battermann lächelte fein. »Gestern soll ein junges Mädchen mit der Funny Girl hier eingetroffen sein. Ziemlich schwanger, wie es heißt. Von Immo Hamkens. Der wollte das Mädchen umgehend wieder loswerden. Frau Hamkens hat das Ganze mitbekommen und ihrem Gatten direkt am Kai eine Szene gemacht.«

»Woher wissen Sie das alles?«, fragte Stahnke.

Battermanns Lächeln verstärkte sich. »Wir haben hier nur etwa 1250 Einwohner. Aber Sie glauben ja gar nicht, wie viele Augen und Ohren die haben!«

»Loswerden wollte er das Mädchen?«, schaltete Sina sich wieder ein. »Aber zurück an Bord gegangen ist sie nicht, daran kann ich mich noch erinnern; wir sind ja zur selben Zeit angekommen. Und wenn die Frau Hamkens es nun nicht gewesen sein kann …«

Battermann nickte. »Dann haben wir eine neue Hauptverdächtige, ganz recht! Meine Kollegen klappern auch schon die Hotels nach ihr ab. Ich muss auch gleich zurück ins Büro. Eigentlich warte ich nur noch auf den versprochenen Kaffee.«

Wie aufs Stichwort näherte sich der Grauhaarige, in jeder Hand eine Thermoskanne.

Der Inselarzt hatte inzwischen ein paar Computerausdrucke vor sich auf dem Tischtuch ausgebreitet. Stahnke äugte hinüber. Der oberste Ausdruck war ein Foto vom inzwischen gesäuberten Hals des Toten. Die vier Einstiche waren deutlich zu erkennen. Sie waren rund, mit leicht ausgefransten Wundrändern, und bildeten zusammen ein fast exaktes Rechteck. Merkwürdig, dachte der Hauptkommissar. Ein Messer war das nicht.

Versonnen schaute er auf Nummel Hamkens Hände, während der die Kaffeetassen füllte. Plötzlich hatte er eine Idee.

»Immo Hamkens hatte dieses Hotel noch nicht lange, stimmt’s?«, fragte er Battermann.

 

»Nee«, erwiderte der und rührte in seiner Tasse. »Letztes Jahr geerbt.«

»Von seinem Vater?«

»Nein, von seinem Onkel, dem älteren Bruder des Vaters. Sein Vater ist schon vor Jahren auf See geblieben. Der Onkel war kinderlos.«

Stahnke fixierte Nummel Hamkens. »Sie sind der jüngere Bruder der beiden Verstorbenen?«

Hamkens nickte stumm.

»Und Sie sind bei der Verteilung des Erbes leer ausgegangen?«

Achselzucken.

»Obwohl Sie das Hotel sicher auch gerne gehabt hätten.«

»Nein«, sagte Nummel Hamkens ganz ruhig. »Chef sein, das ist nichts für mich. Ich bin lieber Angestellter, festes Geld, feste Arbeitszeiten. Immo hat das genauso gesehen. Wollte das Erbe eigentlich gar nicht antreten. Aber seine Frau, die rote Clara, hat ihm fix die Hölle heiß gemacht, von wegen einmalige Chance und so. Tja, so ist er denn doch Chef geworden. Viel Glück hat’s ihm ja nicht gebracht.«

Im Raum herrschte solche Stille, dass man eine Seifenblase hätte platzen hören können. Verdammt, dachte Stahnke, ich war mir doch so sicher! Welches Motiv bliebe denn dann noch?

Wieder starrte er auf Nummel Hamkens Hände.

Und dann wusste er es.

»Das Hotel haben Sie Ihrem Neffen wohl gegönnt«, sagte er langsam. »Aber nicht den Kleingarten. Diese Gärten sind begehrt, die kann man nicht so einfach kaufen, die gehen von Hand zu Hand. Immo hat den Kleingarten der Familie Hamkens geerbt, zusammen mit dem Hotel. Er machte mir nicht den Eindruck, als hätte er viel damit anfangen können. Aber Ihnen überlassen wollte er das Fleckchen Erde auch nicht.«

Er starrte Nummel Hamkens ins dunkel gegerbte Gesicht, das sich zusehends dunkler färbte. Hamkens Hände dagegen waren bleich. Sie zitterten. Er setzte die Kannen ab.

»Dabei arbeiten Sie doch so gerne dort oben, richtig? Am liebsten in jeder freien Minute. Immer Sonne und Wind und den schönsten Ausblick der Welt.«

In Nummel Hamkens Augen sammelten sich Tränen.

»Sie können gut mit einer Gartenkralle umgehen, nicht wahr? Sie wissen schon, dieses Ding mit den vier Zinken? Zum Auflockern der Erde zwischen den Kartoffeln und Wurzeln?«

Nummel Hamkens wischte sich die Tränen weg. Mit seinen kräftigen Fingern, deren Nägel peinlich sauber waren, in deren bleichen Hautrillen sich aber die Reste dunkler Gartenerde deutlich abzeichneten.

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