Der Jahrhundertroman

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Schöne neue Welt. Kalt in mir. Warum nur, warum?

Keine Macht für niemand! Keine Angst! Refugees welcome!

Zuckererbsen für alle. Du bist schön. Liebe dich wie dich selbst,

Scheissmieten. Leckts mich doch alle am Arsch! Sinn-Sucht.

Sie hatte das Gefühl, jetzt gut unterwegs zu sein. So gut wie die ganze Zeit noch nicht, seit sie in Wien war. Durch Gedanken an ihre finanzielle Situation wollte sie sich nicht aus der Stimmung bringen lassen. Die schob sie beiseite – und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie dort bleiben können.

Doch Anfang Dezember rückten sie wieder ins Zentrum. Zwar kam noch ein Kuvert von ihrem Vater (worauf sie insgeheim gehofft hatte). Aber statt den beiden 500-Euro-Scheinen enthielt es diesmal nur zwei 200er. Womöglich wurde seine ehemalige Ordinationshilfe, die im südlichen Klima aufblühte, immer anspruchsvoller, da blieb logischerweise weniger Geld für die Tochter.

Ronnie bot ihr an, ihr etwas zu leihen, aber das lehnte sie ab. Er vergnügte sich ja schon wieder mit Tina. Lieber bat sie die Chefin um einen Vorschuss, den sie auch bekam. Doch zur Gewohnheit, sagte Frau Resch und seufzte, zur Gewohnheit dürfe das nicht werden.

Und da war immer noch Roch und sein Angebot. Im Café hatte er sie seit dem Tag, an dem er sie zur Straßenbahn begleitet hatte, nicht mehr auf das Romanprojekt angesprochen. Wenn er etwas bestellte und von ihr serviert bekam, war er freundlich zu ihr wie immer, und sie war freundlich zu ihm. Aber es war etwas Unerledigtes zwischen ihnen.

Deswegen wäre es ihr manchmal lieber gewesen, er wäre nicht mehr erschienen. Oder nein, wahrscheinlich wäre ihr das nicht lieber gewesen. Dann hätte sie echt ein schlechtes Gewissen gehabt. Das Manuskript, aus dem er ihr diktieren wollte, lag noch immer auf der Ablage in ihrem WG-Zimmer, manchmal hatte sie versehentlich (oder absichtlich?) etwas daraufgelegt, Zeitungen etwa und Bücher, aber es war nicht ganz darunter verschwunden.

Sie hatte den Zettel, auf den er ihr die Adresse seines Depots geschrieben hatte, in eine Innentasche ihres Rucksacks gesteckt. Manchmal, wenn sie dort etwas gesucht hatte, war er ihr unversehens in die Finger geraten. Einmal hatte sie ihn zusammengerollt, als ob sie eine kleine Zigarette drehen wollte, ein anderes Mal hatte sie ihn ganz winzig zusammengefaltet. Er sah also schon einigermaßen strapaziert aus, aber was darauf stand, war immer noch zu lesen.

Und dann kam ein Tag, an dem sie in ihrem WG-Zimmer saß und sich wieder einmal über einem der Skripten zur Einführung in die deutschsprachige Literaturwissenschaft langweilte. Schon dieser Titel ödete sie an, das wurde nicht besser. Und dann ging einem der Marker, mit dem sie Stellen aus dem knochentrockenen Text markierte, der Saft aus. Und als sie einen anderen suchte, eben in jener Innentasche ihres Rucksacks, hatte sie auf einmal wieder diesen Zettel in der Hand.

8. BEZIRK, FLORIANIGASSE 4A. Sie lebte jetzt schon einige Monate in Wien, konnte sich aber noch nicht ohne Weiteres orientieren. Sie fragte also ihr Smartphone nach dem Weg dorthin. Und war überrascht, wie schnell sie dort sein konnte.

Von der Straßenbahnstation, die sie zu Fuß in fünf Minuten erreichen würde, musste sie nur eine einzige Station bis zum Schottentor fahren. Und dann mit der U-Bahn ebenfalls eine Station bis zur Haltestelle Rathaus. Wenn sie dort ausstieg, waren es bis zur Florianigasse nur ein paar Schritte. Und Nummer 4A mußte im zweiten Häuserblock links sein.

So einfach war das. Gegebenenfalls. Aber war dieser Fall nicht gerade jetzt gegeben? Sie brauchte nur ihren Laptop und das Manuskript in den Rucksack zu packen, in die Strickweste und den Mantel zu schlüpfen, denn es war kalt draußen, und die Mütze aufzusetzen, die sie sich unlängst auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Die rote Wollmütze, mit der sie, so Ronnie, aussah wie ein Schlumpf. Doch was ging das Ronnie an? Ihr Aussehen konnte ihm egal sein.

Blöderweise begegnete sie ihm noch im Flur:

Wo gehst du hin? fragte er.

Das geht dich nichts an, sagte sie.

Okay, sagte er. Und was machst du heut Abend?

Weiß ich noch nicht, sagte sie.

Siehst du, sagte er. Ich auch nicht.

2

Es dauerte eine Weile, bis Roch zur Tür kam. Seine Schritte hörten sich an, als käme er von weit her. Er blinzelte. Haben Sie es sich doch noch überlegt? Das freut mich. Kommen Sie weiter. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen?

Und schon hatte er einen ihrer Ärmel ergriffen. Und dann den anderen. Eher eine Behinderung als eine Hilfe. Aber sie ließ es über sich ergehen. Roch hängte ihren Mantel an einen schon etwas invaliden Thonet-Kleiderständer.

Dann stand er da und wusste ein paar Sekunden lang nicht weiter. Nehmen Sie Platz, sagte er schließlich. Vielleicht setzen Sie sich am besten in den Schaukelstuhl. Draußen regnet es. Sie sind ein bisschen nass geworden, nicht wahr? Warten Sie, ich werde uns ein Kännchen Tee machen.

Und war schon verschwunden im dunklen Hintergrund. Der Raum war erstaunlich tief und gleichzeitig hoch. Keine flache Decke, sondern ein Gewölbe. Als sie vor der Tür gestanden war, hatte sie diese Dimensionen nicht erwartet.

Und überall Bücher, Bücher und wieder Bücher … Bücher, die nicht nur in den Regalen standen, die an so gut wie jedem verfügbaren Stück Wand montiert waren, sondern auch in unglaublich hoch getürmten Stößen aus dem Boden wuchsen. Manche dieser Stöße sahen aus, als hätten sie schon längst umfallen müssen. Doch da und dort schien es, als hätte das eine oder andere Buch, das vielleicht gerade noch rechtzeitig hinzugefügt worden war, ein vages Gleichgewicht wiederhergestellt.

Bei den Zeitungsstapeln dazwischen war die Statik offenbar noch labiler. Etliche hatten das Gleichgewicht verloren und lagen nun breit gefächert im Weg. Wie das raschelte unter Lisas Füßen! Doch es raschelte auch, wenn sie stehen blieb.

Ob es hier Mäuse gab? – Bestimmt gab es hier Mäuse! Nicht, dass sie prinzipiell etwas gegen Mäuse hatte. Nicht einmal gegen Ratten. Sie fand diese kleinen Nagetiere sogar lieb und war jederzeit dafür, sie vor Laborversuchen zu retten. Aber so frei herumlaufend und so unsichtbar raschelnd, so unberechenbar, das heißt womöglich auch in großer Zahl – also das war doch etwas recht anderes.

Allmählich wurde ihr etwas unbehaglich. Roch war verschwunden, um Tee zu machen – wo blieb er? Gab es dort hinten, wo er verschwunden war, überhaupt eine Küche? In diesem Moment konnte sie sich da keine Küche vorstellen. Allenfalls einen grindigen Elektrokocher. Einen Kocher, vor dem Roch auf dem Boden saß. Im Schneidersitz stellte sie ihn sich vor, wie einen Gnom aus einem Märchenfilm. Wie er dort saß und K.o.-Tropfen in den Tee mischte.

Aber sie ließ diese Fantasien nicht ausufern. Jetzt nimm dich zusammen, Lisa! Das ist doch Blödsinn! Du wirst doch Ronnie mit seinen Horrorvisionen nicht recht geben! Und tatsächlich war schon dieser Gedanke ein Grund, nicht doch noch, bevor Roch wieder auftauchte, die paar Schritte zur Tür zu tun und sich auf böhmisch (so hätte das ihr Großvater genannt und so würde es wahrscheinlich auch Roch nennen) zu empfehlen.

Stattdessen trat sie an eins der hohen Fenster. Obwohl sie ja erst vor kurzem hereingekommen war, hatte sie das Gefühl, ein bisschen frische Luft brauchen zu können. Frische Luft, um etwas freier zu atmen. Sauerstoff zur Ernüchterung der Gehirnzellen.

Das Fenster zu öffnen war allerdings nicht so einfach. Die Riegel aus Messing waren zwar schön, ließen sich aber nur schwer bewegen. Doch schließlich schaffte sie es: Das Fenster, dessen Rahmen offenbar ein wenig verzogen war, sprang auf. Draußen regnete es nun etwas stärker.

Auf einmal stand Roch neben ihr. Sie hatte ihn nicht kommen gehört.

Ja, genau, sagte er. Das Haus da drüben. … Sehen Sie das zweite Fenster von links im ersten Stock? … Akkurat an diesem Fenster habe ich mir Musil vorgestellt.

Nun hatte sie keins der Häuser auf der anderen Straßenseite besonders beachtet. Sie hatte ganz einfach hinaus in den Regen geschaut. Roch jedoch schien davon auszugehen, dass sich ihr Blick auf ein bestimmtes Haus konzentriert hätte. Irgendetwas hatte sie da nicht mitgekriegt.

Dort oben, an diesem Fenster, sagte er: Musil! … Robert Musil, in einem gestreiften Pyjama.

Aber wieso Musil? fragte sie. Und warum im Pyjama?

Das schien ihn zu überraschen. Er sah sie durch seine dicke Brille groß an.

Aber Fräulein Lisa! sagte er. Haben Sie denn das nicht gelesen?

Sie schüttelte den Kopf. Wo sollte sie das gelesen haben?

Na, in meinem Roman, sagte er. In meinem Manuskript!

Ich habe Ihnen doch gesagt, sagte sie, dass ich mit dem Lesen Ihres Manuskripts gewisse Probleme habe.

Er stand neben ihr, als müsste er sich auf etwas schon fast Vergessenes besinnen.

Ja, ja, sagte er. Dass Sie gewisse Probleme mit meiner Klaue haben, das habe ich schon verstanden … Gewisse Probleme mit gewissen Passagen … Aber doch hoffentlich nicht gleich mit dieser!

Tut mir leid, sagte sie, aber es sieht so aus.

Aber ich bitte Sie! sagte er. Das ist doch der Anfang! Geschrieben im Jänner des Jahres 2000. Damals hab ich doch noch ganz leserlich geschrieben!

Dann sagte er lange nichts. Versank in irgendwelchen Gedanken. Als hätte er einen Faden verloren, an dem er sich zuvor noch festgehalten hatte. Und als wäre er sich, ohne diesen Halt, beinah selbst abhandengekommen. Und womöglich, ja wahrscheinlich, war sie ihm auch abhandengekommen.

Doch dann, als sie fast schon sicher war, dass er ihre Anwesenheit einfach vergessen hatte, als sie nur noch das Manuskript aus dem Rucksack nehmen wollte, um es ihm auf den Schreibtisch zu legen, bevor sie ging, drehte er sich plötzlich nach ihr um. Ja, Fräulein Lisa. Sie haben völlig recht. Wir sollten endlich mit unserer Arbeit beginnen. Setzen Sie sich hin und packen Sie Ihren Laptop aus – den Tee können wir auch nebenbei trinken.

 

Und schon hat ihr Roch den Schreibtischsessel zurechtgerückt. Und schon ist er dabei, einen zweiten Sessel für sich heranzurollen. (Hinkend, aber dabei erstaunlich behände.) Und schon sitzt er startbereit an ihrer rechten Seite.

Und sie schafft es gerade noch, ihr Smartphone, das sie für gewöhnlich links trägt, in die rechte Tasche ihrer Wollweste zu stecken. Und hoffentlich unauffällig auf Record zu drücken. Für alle Fälle, denkt sie, für den Fall, dass er mir doch etwas zu nah kommt. Zwar ist sie sich nicht sicher, ob Aufnahmen dieser Art im Fall des Falles als Beweismittel akzeptiert werden (und was hätte sie dann davon, im Nachhinein, im Fall von Übergriffen, von Untergriffen, vor denen sie Ronnie, zynisch wie er ist, gewarnt hat?), und doch fühlt sie sich etwas sicherer bei dem Gedanken, dass von nun an alles dokumentiert wird.

Ob Roch etwas bemerkt hat? Nein, er macht nicht diesen Eindruck. Eifrig hat er die alte Schreibmaschine, ein Museumsstück, das er vielleicht doch manchmal benutzt oder, wer weiß, aus nostalgischen Gründen hier stehen hat, beiseitegeschoben, damit sie Platz hat für den Laptop. Und das Manuskript, das sie ihm zurückgegeben hat, liegt vor ihm auf dem Schreibtisch. Er beugt sich darüber und rückt sich die Lampe mit dem grünen Schirm zurecht.

Und dann beugt er sich noch etwas tiefer über das Manuskript und räuspert sich.

Und schüttelt den Kopf und nimmt die Brille ab.

Und putzt sie und setzt sie wieder auf und beugt sich erneut über das Manuskript. Blättert um, beugt sich über die zweite Seite, blättert einige Seiten weiter.

Und nimmt die Brille wieder ab. Und räuspert sich wieder.

Und schaut sie an mit seinen halb blinden Augen.

Wieso Musil? haben Sie mich gefragt. Ja, wieso gerade Musil? Vielleicht sollte ich Ihnen das vorerst erklären.

Wahrscheinlich sollte ich – und mit diesen Worten schiebt er das Manuskript ein Stück von sich weg – überhaupt noch einiges vorausschicken.

Hab ich Ihnen eigentlich schon erzählt, warum ich dieses Depot gemietet habe?

Das war damals, als die Büchereifiliale aufgelassen wurde, in der ich gearbeitet habe. Aber was geschieht mit den Büchern? habe ich gefragt – sehen Sie, ich habe ja mein halbes Leben zwischen den Büchern dieser Bücherei verbracht.

Zuerst bin ich davon ausgegangen, dass die Bände in eine andere Filiale der Städtischen Büchereien transferiert werden sollten. Aber wie sich herausgestellt hat, war das nicht so geplant. Die anderen Filialen hatten selbst genug Bücher. Die brauchten diese alten Schmöker gar nicht.

So ungefähr dachten die neuen Leute, die sich jetzt allenthalben wichtigmachten. Denen ging es um Ökonomie und Effizienz. Bücher waren für die – wie heißt das Wort, das sie fortwährend verwendeten? – obsolet. Früher oder später würde man das alles digitalisieren.

Mir tat das Herz weh. Wer weiß, in was für Hände die Bücher unter diesen Umständen gerieten! Wenn sie nicht einfach zum Müll geworfen wurden. Zwar waren allfällige Pressemeldungen über Bücherverbrennungen wahrscheinlich unerwünscht. Aber wenn man es unauffällig machte, konnte man die Bücher, die doch nur Lagerkosten verursachten, wahrscheinlich zur Müllverbrennungsanlage transportieren, ohne dass es überhaupt auffiel.

War ich paranoid? Vielleicht war ich paranoid. Aber seien wir uns doch ehrlich: Es geschehen viele Ungeheuerlichkeiten im Verborgenen. Viel ärgere, doch, das ist mir bewusst, als die Entsorgung – was für ein Wort! –, als die Entsorgung einer Anzahl alter Bücher. Aber ich fühlte mich diesen Büchern verbunden und wollte sie retten.

Gewiss, es wäre wichtiger, Menschen zu retten. Doch dazu hatte ich leider nicht die Mittel. Die Bücher zu retten hingegen war relativ einfach. Sie waren nicht teuer, man verschleuderte sie im Grunde, man war ja froh, dass man sie loswurde.

Also ließ ich die Bücher hierher transportieren. Und kaufte Regale und versuchte, die Bände in eine gewisse Ordnung zu bringen. Es war nicht ganz die Ordnung, die in der Bücherei bestanden hatte, dazu waren die Räumlichkeiten zu verschieden. Aber schließlich war ich mit dem Ergebnis ganz zufrieden.

Und dann ging ich zwischen den Bücherwänden hin und her. Und dachte darüber nach, wie ich den Jahrhundertroman beginnen könnte. Denn die Idee hatte ich ja schon seit langem. Aber jetzt, da man mich wegen einer dummen Anschuldigung in Frühpension geschickt hatte, hatte sich eine Situation ergeben, wo mich eigentlich nichts mehr an ihrer Verwirklichung hindern konnte.

Solang ich noch in der Bücherei tätig war, habe ich viel darüber nachgedacht, aber nie wirklich damit angefangen. Aller Anfang ist schwer, heißt es, aber einen Roman anzufangen, ist vielleicht besonders schwer. Nämlich nicht irgendeinen Roman anzufangen, sondern einen Jahrhundertroman. Der seinem Wesen nach das Wesen des Jahrhunderts widerspiegeln sollte. Ich war allerdings zu einem vorläufigen Ergebnis gekommen. Der Jahrhundertroman sollte ein Autorenroman werden. Ein Roman, in dem die Autoren eine tragende Rolle spielten. Die Autorinnen und Autoren meines Jahrhunderts.

Eine tragende Rolle würden sie spielen … Und zwar nicht nur, weil ich vielleicht da und dort auf ihre Bücher zu sprechen kommen, ja möglicherweise sogar aus diesen Büchern zitieren würde … Nicht nur so, also durch ihre Bücher vermittelt … Sondern auch unmittelbar, als Personen der Handlung.

Können Sie mir folgen, Fräulein Lisa, verstehen Sie, was ich im Sinn hatte? … Genau! Den Jahrhundertroman als Autorenroman! … Schriftstellerinnen und Schriftsteller, habe ich gedacht, sind doch Leute, die etwas vom Leben in ihrer Zeit festhalten. Unabhängig davon, ob sie das bewusst wollen, ob sie es darauf angelegt haben oder nicht. In ihren Romanen, Theaterstücken, Gedichten, in was auch immer sie schreiben, spiegelt sich etwas von ihrer Zeit wider. Und natürlich auch etwas von ihrem Leben. Obwohl man bei manchen von ihnen den Eindruck hat, dass ihr Leben vor allem oder im Wesentlichen aus Schreiben besteht. Aber selbst wenn sie der Ansicht sind, dass die außerliterarische Wirklichkeit, wie das einer von ihnen genannt hat, als er noch recht jung war, dass diese Wirklichkeit draußen, außerhalb des Elfenbeinturms, nur beim Schreiben stört – so gut kann man die Türen und Fenster des Turms gar nicht dichten, dass die Wirklichkeit nicht herein- und durchzieht.

Eine Zeitlang, sagt er, habe ich mir den Jahrhundertroman etwa so vorgestellt wie einen Staffellauf. Genauer: Wie diesen Lauf mit dem olympischen Feuer. Einer oder eine reicht die Fackel oder eigentlich die Flamme an den Nächsten oder die Nächste weiter. Und der oder die läuft seine Strecke und gibt sie wieder weiter und so weiter und so weiter und so fort.

Das ist mir vorerst als ganz brauchbares Modell erschienen. Eine Verfahrensweise, nach der ich vorgehen könnte. Aber als ich lang genug darüber nachgedacht hatte, bin ich wieder davon abgekommen. Denn natürlich leben und schreiben die Schriftstellerinnen und Schriftsteller eines Jahrhunderts nicht hintereinander, sondern nebeneinander, durcheinander, manchmal sogar gegeneinander, ihre Lebens- und Schreibzeiten überschneiden und überlappen sich.

Das heißt, sie denken gar nicht daran, alle in eine Richtung zu laufen. Warum sollten sie auch? Sie haben ja gar kein gemeinsames Ziel. Auch wenn es sie letzten Endes alle in eine Richtung treibt. Ans Ende der Zeit, die ihnen gegeben ist, und das ist ihnen meistens bewusster als anderen Leuten, die nicht schreiben.

Ich habe ja viele persönlich gekannt, sagt er, sehen Sie, als Buchhändler …

Ich habe gedacht, sagt Lisa, Sie waren in einer Bücherei tätig.

Natürlich, sagt er. Ich war stellvertretender Büchereileiter. Aber das eine schließt doch das andere nicht aus!

Das war also vor Ihrer Tätigkeit in der Bücherei?

Nein, sagt Roch.

Also nachher.

Ach was, nachher! sagt er.

Das klingt schon ein bisschen gereizt. Er steht auf und beginnt hin und her zu hinken. Das war zwischendurch. Das war in der Zwischenzeit.

Ja, sagt er, damals haben wir es eben mit einer eigenen Buchhandlung versucht. Meine Frau und ich. Wir waren noch relativ jung und risikofreudig. Das war vielleicht die schönste Zeit meines Lebens. Damals war meine Frau noch meine Freundin.

Eine kleine, feine Buchhandlung haben wir aufgemacht. Das war auf der Wieden, also im vierten Bezirk, in einer Seitengasse. Beinahe versteckt, aber dennoch auffindbar. Unsere Buchhandlung war sozusagen ein Geheimtipp.

Das Lokal, das wir gemietet haben, war eine ehemalige Bäckerei. Da hat es noch immer ein bisschen nach Brot gerochen. Und dann hat es eben nach Büchern gerochen, sagt Roch. Brot und Bücher. Für mich die besten Gerüche.

Vielleicht war das auch der Grund, warum er dann immer ein bisschen Brot im Laden gehabt hat. Für die Kunden, die ihm sympathisch waren. Ein bisschen Brot und ein bisschen Aufstrich und ein bisschen Wein. Und ein bisschen Apfelsaft für diejenigen, die lieber keinen Alkohol trinken wollten, und für die Kinder.

Da war eine Ecke, in der man sitzen und schmökern konnte. Ein kleiner, runder Tisch, ein paar Sessel und eine Stehlampe. Und eine eigene Lese- und Spielecke für Kinder. Ja, das war nett. Und das hat sich herumgesprochen.

Meine Frau, sagt Roch, hat zwar gefunden, dass wir die Gastfreundschaft nicht übertreiben sollten. Und so viel ist wahr: Es gab Leute, die nur Fettflecken in die Bücher machten und nichts kauften. Und ein paar Stammalkoholiker haben wir uns zugezogen. Aber wir haben auch gute Stammkunden gehabt, richtige Leserinnen und Leser.

Und dann eben die Autoren. Ja, liebes Fräulein Lisa, die Autoren und die Autorinnen. Es gab ein paar, die haben sich öfter bei uns anschauen lassen. H. C. Artmann und seine Entourage, Wolfgang Bauer und seine Fans – die waren manchmal ein bisschen laut. Aber da saß zuweilen auch der meist verschmitzt schweigende Gert Jonke.

Und Barbara Frischmuth und Elfriede Gerstl, einmal sogar Marlen Haushofer. Aber die war sehr scheu und verschwand bald wieder. Trude Marzik kam öfter vorbei, die plauderte gern und lachte viel. Manchmal beehrte uns auch die große Ilse Aichinger.

Roch sieht Lisa an, als müsste sie jetzt beeindruckt sein. Und sie versucht ja auch, so dreinzusehen. Doch es gelingt ihr, so scheint es, nicht ganz überzeugend.

Sagen Sie nicht, diese Namen sind den jungen Leuten von heute kein Begriff mehr!

Nun beugt er sich wieder über das Manuskript und beginnt darin zu blättern. Die kommen ja alle in meinem Jahrhundertroman vor! Allerdings nicht am Anfang. Da steht eine andere Generation. Obwohl ich im Lauf der Arbeit von der Idee abgekommen bin, streng chronologisch vorzugehen.

Am Anfang … sagt er und blättert wieder zurück im Manuskript. Am Anfang steht doch diese Szene mit Musil … Und dann sieht er Lisa auf einmal scharf an, erstaunlich mit seinen vielen Dioptrien. Könnte es sein, dass Sie die Seiten durcheinandergebracht haben?

Nein! Diesen Verdacht will sie gar nicht an sich heranlassen. Sie sei sorgfältig mit dem Manuskript umgegangen.

Doch kaum hat sie das gesagt, kommt ihr ein Gedanke an Ronnie in die Quere … Sein Umgang mit den unleserlichen Seiten war ja etwas weniger respektvoll.

Aber das wird sie Roch natürlich nicht sagen.

Sie hätten die Seiten halt nummerieren sollen, sagt sie.

Er nimmt einen Schluck Tee. Sie sieht, wie sich sein Adamsapfel bewegt. Dass alte Männer so dürre Hälse bekommen!

Nein, bei Roch ist es noch nicht so schlimm wie bei ihrem Großvater. Dieser alte Mann ist ja um einige Jahre jünger. Aber nun erinnnert sie sich an die Schildkröte, die sie zum siebenten Geburtstag bekommen hat, sie hat sie Max genannt. So eine Schildkröte kann hundert Jahre alt werden, hat ihr Vater gesagt, aber im Herbst haben sie sie für den Winterschlaf verpackt und im Frühling ist sie nicht mehr aufgewacht.

Roch aber redet weiter. Wieso Musil? sagt er. Ja, sehen Sie, Fräulein Lisa, einerseits war das ja naheliegend. Der Autor eines Romans, den viele als Jahrhundertroman bezeichnen. Auch wenn ihn nur wenige gelesen haben.

Andererseits war es vielleicht auch zu naheliegend. Ich meine: Das hätte bald jemandem einfallen können. Musil: ein heißer Tipp für so ein Vorhaben. Jedenfalls, wenn der Roman in Wien beginnen sollte.

 

Und das sollte er. Diese Entscheidung hatte ich getroffen. Sonst hätte ich natürlich noch ganz andere Kandidaten zur Auswahl gehabt. Proust in Paris oder Joyce in Triest oder Kafka in Prag. Und und und. Aber da wäre ich ins Uferlose geraten.

Also Wien. Auch das war naheliegend. Nicht nur, weil es die Stadt ist, in der ich nun einmal geboren und aus der ich, obwohl ich im Lauf meines Lebens manchmal weit weg wollte, nie richtig herausgekommen bin. Wien war ja damals, in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, ein wahres Biotop. Ein Biotop für die Musik und die Malerei und die Psychoanalyse, die ja in ihren Anfängen vielleicht auch eine Art Kunst war. Und ja, ganz gewiss, ein fruchtbarer Froschteich für Schriftsteller.

Schnitzler, Hofmannsthal, Altenberg, Kraus und so fort. Mit jedem von denen hätte ich anfangen können. Nicht nur mit Musil, der sich ja vorerst gar nicht so lang in Wien aufgehalten hatte. Ich habe schon überlegt, ob ich diese Namen und noch ein paar andere auf kleine Zettel schreiben und dann einen dieser Zettel mit geschlossenen Augen aus einem Hut ziehen sollte.

Aber mir sind dann immer noch ein paar eingefallen. Und so ganz wollte ich die Entscheidung dann doch nicht dem Zufall überlassen. Obwohl … letzten Endes hat doch ein Zufall entschieden. Und was für ein Zufall! Sie werden sehen, Fräulein Lisa.

Eine Zeitlang, sagt Roch, habe er auch einen Romananfang mit Bertha von Suttner erwogen. Diese Idee hat ihm gerade deshalb gefallen, weil sie nicht jeder haben würde.

Bertha von Suttner, sagt er, die Autorin des Buchs Die Waffen nieder!. Wie sie, nach einer Veranstaltung in den Wiener Sophiensälen, den greisen Karl May umarmt.

Karl May? wundert sich Lisa. Was hat denn der hier zu suchen?

Karl May, sagt er, der soeben einen pazifistischen Vortrag gehalten hat.

Das war im März 1912, knappe zweieinhalb Jahre vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Mehr als 2000 Menschen sollen den Vortrag gehört haben.

Allerdings dürften manche enttäuscht gewesen sein, weil sie sich von Karl May etwas anderes erwarteten. Angeblich war auch der junge Adolf Hitler im Publikum. Und da kam nichts von Old Shatterhand – in dieser Rolle trat May längst nicht mehr auf. Er war ein filigraner, alter Mann und verkühlte sich bei diesem Wienbesuch – eine Woche später ist er an Lungenentzündung gestorben.

Und natürlich, sagt Roch, habe ich auch an Joseph Roth gedacht. Ich hätte vielleicht mit der Szene in den Jahrhundertroman einsteigen können, in der Roth, gerade neunzehn Jahre alt, von Lemberg, wo er zu studieren begonnen hat, nach Wien fährt. Es gibt eine sehr frühe Geschichte von ihm, die mit so einer Eisenbahnfahrt anfängt. Ich war arm, so beginnt diese Geschichte, und hätte eigentlich dritter Klasse fahren müssen. Aber ich stieg in die zweite.

Und Roch erzählt, wie der junge Mann dann im Zug eine schon etwas reifere Frau kennenlernt. Wie sie ins Gespräch kommen und wie es ihr gefällt oder wie es sie amüsiert, dass so ein halber Bub, der er noch ist, so gescheit daherredet. Und wie die Fahrt damals lang dauert (man fährt durch Tag und Nacht). Und als sie in Wien angekommen sind, wird er der Hauslehrer ihres Sohns.

Aber vielleicht hat das der Ich-Erzähler nur fantasiert und ist die ganze Zeit über in der dritten Klasse gesessen. Ein Ich-Erzähler, der zweifellos eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Herrn Roth hat. Doch man soll Autoren, auch wenn Sie ICH schreiben, nicht mit ihren Protagonisten verwechseln. Auch wenn sie selbst, sagt Roch, zu solchen Verwechslungen neigen.

So viel aber ist nachweisbar, dass der junge Herr Roth im Sommer 1913 in Wien ankommt. Er wird in der Leopoldstadt wohnen, dem traditionellen Quartier der Zuwanderer aus Galizien. Er wird sein in Lemberg begonnenes Studium an der Wiener Uni fortsetzen und den Antisemitismus der hiesigen Kollegen kennenlernen. Er wird Nachhilfestunden geben, wird Zeitungsredaktionen anschreiben, die seine ersten Lyrik- und Prosatexte veröffentlichen sollen, und wird sich 1916 zum Einjährigen-Freiwilligendienst in der bereits recht dezimierten k. u. k. Armee melden.

So war das, sagt Roch. Es hätte viel für sich gehabt, den Roman mit Roth zu beginnen.

Er war mir auch, ehrlich gesagt, sympathischer als Musil. Und ich war auch schon drauf und dran, mich hinzusetzen und das längere Gedankenspiel, das ich da im Sinn hatte, mit Joseph Roth zu eröffnen. Aber da gerät mir, sozusagen im vorletzten Moment, eine Musil-Monografie in die Hände.

Auf den ersten Blick überhaupt nichts Besonderes. So eine Monografie mit alten Fotos, warten Sie, Fräulein Lisa, ich hole sie! Sie sollen sich vorstellen können, wie es mir damit ergangen ist.

Bei diesen Worten ist er schon unterwegs zu einem der Bücherregale. Und, trotz seiner Behinderung sehr flott, auch schon wieder auf dem Rückweg. Das Buch in der Hand.

Und dann legt er das Buch vor Lisa auf den Schreibtisch. Auf dem schon ziemlich abgegriffenen Cover ist ein älterer Mann zu sehen, offenbar Musil, den sie ja, ehrlich gesagt, sonst nicht vor sich gesehen hätte, keiner, den man auf den ersten Blick erkennt, keine Ikone wie Kafka oder Hesse oder Einstein oder Che Guevara oder Gandhi.

Und jetzt werde ich Ihnen was zeigen, sagt Roch. Die Lage des Magazins hier hat für mich ursprünglich keinerlei Bedeutung gehabt. Florianigasse 4 – ich habe das Angebot im Annoncenteil einer Zeitung gefunden. Die Lage, obwohl sie ganz schön ist, in dieser alten, auf ihre Art ehrwürdigen Gasse, nicht weit vom Zentrum, war für mich nur von sekundärer Bedeutung. Es ging mir in erster Linie darum, die Bücher unterzubringen. Und die Räumlichkeiten hier schienen mir dazu recht geeignet. Und die Miete war erstaunlich erschwinglich. Hab ich aus dem Fenster geschaut, so hab ich die Häuser auf der anderen Straßenseite gesehen, aber ich habe nichts mit ihnen verbunden.

Doch dann … Ja, dann habe ich in dieser Biografie geblättert. Und da finde ich – sehen Sie, Fräulein Lisa – diese Abbildung! Und mit diesen Worten schlägt er das Buch auf. Auf einer Seite, die er offenbar schon oft aufgeschlagen hat, denn dort öffnet sich das Buch geradezu bereitwillig.

Na, sagt er. Was sagen Sie?

Sie begreift nicht so rasch, was er meint.

Das etwas unterbelichtete Foto auf dieser Seite zeigt ganz einfach ein Haus. Ein älteres Haus, ein relativ niedriges Haus. Das Haus links daneben, auf dem Foto noch angeschnitten, ist um ein paar Stockwerke höher.

Ja, und?

Tja, sagt Roch, Eidetikerin sind Sie offenbar keine. Aber kommen Sie, sagt er, und nimmt sie an der Hand. Nimmt sie an der Hand, was ihr nicht angenehm ist, aber dem ersten Impuls, ihm diese Hand einfach zu entziehen, folgt sie dann doch nicht. Nimmt sie an der Hand und führt sie (wie ein kleines Mädchen, denkt sie schon etwas verärgert) ans Fenster.

Und öffnet das Fenster. Draußen regnet es nach wie vor. Aber inzwischen ist es noch dazu fast dunkel. Draußen die Florianigasse, unter der es plätschert, denn unter dem Kanalgitter in der Mitte der Fahrbahn fließt wahrscheinlich ein Bach. Die Fassade des Hauses gegenüber ist vielleicht gelb gestrichen, aber an einem verregneten Novemberabend wie heute sieht sie tatsächlich beinah so aus wie auf dem Schwarz-Weiß-Foto im Buch.

Na, sagt Roch, ist der Groschen endlich gefallen? Und führt sie (erst recht wieder an der Hand) zurück an den Schreibtisch. Und jetzt werden Sie mich vielleicht fragen, wieso dieses Haus da draußen in diesem Buch abgebildet ist. Sehen Sie, genau das habe ich mich damals, als ich zum ersten Mal in dieser Monografie geblättert habe, auch gefragt.

Und ich habe gelesen, was unter dem Foto steht. Jetzt kann ich das nicht mehr lesen, weil es so klein gedruckt ist. Aber ich weiß, was da steht, lesen Sie selbst, Fräulein Lisa. Da steht, dass Musil mit seiner Frau Martha just in diesem Haus gewohnt hat, nicht wahr, nur ein paar Monate zwar, im Jahr 1918, aber das waren sehr entscheidende Monate.

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