Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren

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2 Die Zeit vor dem staatlichen Gewaltmonopol
2.1 Hinführung zum Thema

Am Anfang war kein Recht. Und Gerichte waren nicht da. Und es herrschten Gewalt und Aussöhnung, kam es zum Streit. Und es gab keine verbindlichen Verfahren noch Entscheidungen, die jemand hätte durchsetzen können.

In einem scharfsinnigen Aufsatz über die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft erklärt Wolfgang Ernst gleich zu Beginn: „Alle Gesellschaften haben Recht (…). Beim Recht handelt es sich insofern um eine anthropologische Konstante.“ Ich glaube das nicht. In der Tat geht es hierbei um Glaubenssätze und vor allem um die Definition, was wir überhaupt unter Recht verstehen. Über die ältesten menschlichen Kulturen und ihre Vorstellungswelt wissen wir nämlich nichts. Geschichtsschreibung und damit auch die Rechtsgeschichte beruht auf Quellen. Nach einer eingebürgerten Zweiteilung lassen sich unmittelbare von mittelbaren Rechtsquellen unterscheiden. Unmittelbare Rechtsquellen sind selber Recht, also etwa Gesetze, Verträge oder je nach Sichtweise auch Gerichtsurteile. Mittelbare Rechtsquellen sagen etwas über das Recht aus und geben eher indirekte Hinweise. Unmittelbare Rechtsquellen liegen regelmäßig in schriftlicher Form vor. Für die Zeit vor Beginn der schriftlichen Überlieferung lassen sich also keine gesicherten Aussagen treffen. Es gibt aber das unstillbare Verlangen, die ältesten Vorformen von Recht wenigstens in groben Umrissen zu erfassen. Dafür hat die Rechtsgeschichte drei Möglichkeiten entwickelt: Die Rückprojektion, den Vergleich mit ethnologischen Erkenntnissen über Naturvölker sowie die Auswertung archäologischer Funde.

2.1.1 Rückprojektion

Die Rückprojektion ist eine Methode, die vor allem in der älteren Deutschen Rechtsgeschichte weit verbreitet war. Die Überlegung klingt plausibel. Die ältesten bekannten Rechtsquellen verschiedener germanischer Völkerschaften zeigen nämlich bestimmte Gemeinsamkeiten. Wenn diese ähnlichen Rechtsregeln nicht auf Eigenentwicklungen beruhen und ihrerseits nicht aus einer dritten Quelle stammen, können sie auf einen [<<29] gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Dieser Ansatz gleicht der Vorgehensweise der Sprachwissenschaft. Aus der Verwandtschaft verschiedener einzelner Sprachen hat sie eine germanische Sprachfamilie bis hin zu einer indogermanischen Ursprache rekonstruiert. Friedrich Carl von Savigny, der große Rechtsgelehrte des 19. Jahrhunderts, war überzeugt, dass Recht sich genauso entwickele wie Sprache. Trifft dies zu, ist die Rückblende bis in die schriftlose Zeit geradezu geboten. Doch gilt es hier, zahlreiche Fallstricke zu umgehen. Wie will man ausschließen, dass ein Rechtsinstitut nicht doch auf zufälligen, gleichzeitigen Sonderentwicklungen beruht? Und wie soll man sicher sein, ob eine Regel nicht von anderswo übernommen wurde? Die ältere Forschung scherte beherzt mittelalterliche nordische Quellen, Stammesrechte aus der fränkischen Zeit und anderes über einen Kamm. Für die Prozessrechtsgeschichte mag ein Beispiel genügen. Angeblich, so behauptete eine verbreitete Lehrmeinung, gab es eine gemeingermanische Friedensordnung, geprägt von einer Mannheiligkeit jedes einzelnen freien Mannes. Verstöße gegen den rechtlich gebotenen Frieden stellten den Täter unmittelbar und ohne Weiteres außerhalb der Rechtsordnung. Ohne Gerichtsverfahren, ohne Verurteilung verfiel er der gemeingermanischen Friedlosigkeit, wurde gleichsam zu einem Werwolf, der sich auf der Flucht vor Rache in Wäldern versteckte. Die eigenmächtige Tötung des Friedlosen war daher Recht, denn der Täter hatte sein Recht schon zuvor verspielt. Fehde, Selbsthilfe und Blutrache ließen sich auf diese Weise in eine umfassende Friedensordnung einfügen und erschienen als rechtlich anerkannte, feste außergerichtliche Verfahrensformen. Das Ergebnis lag auf der Hand. Nicht blanke, nackte Gewalt beherrschte solche Auseinandersetzungen. Vielmehr hatte man es mit einer vollständigen Rechtsordnung zu tun, die verschiedene Formen der Rechtsdurchsetzung bereitstellte. Der Rächer wuchs auf diese Weise in die Rolle des staatlichen Vollstreckers hinein. Seine Familie, romantisch Sippe genannt, übernahm als Keimzelle des germanischen Staates quasi öffentlich-rechtliche Funktionen, um den Frieden zu wahren und wiederherzustellen. Doch dann entdeckte man seit etwa 1960, wie brüchig derartige Ergebnisse waren. Die nordischen Quellen entpuppten sich als deutlich christlich geprägt und stellten kaum Beispiele für ein reines, von „welschem Tand“ unbeeinflusstes germanisches Rechtsgefühl dar. Und die zentraleuropäischen Rechtsaufzeichnungen seit der Völkerwanderung, allesamt auf Latein überliefert, zeigen durchaus Spuren der Begegnung mit dem Römischen Reich und seinem Recht. Die Lehre eines gemeingermanischen Rechts vermag damit nicht zu überzeugen. Die gemeingermanische Friedlosigkeit hat es nie gegeben. Nicht die theoretische Konzeption ist falsch, sondern die Durchführung steht vor unüberwindbaren Schwierigkeiten. Vermutlich herrscht hier inzwischen indes zu viel Skepsis. Das hohe Ansehen der modernen Rechtsvergleichung und der europäische Blick auf die Rechtsgeschichte [<<30] scheuen vor diesen ältesten Schichten zurück. Vielleicht hat die neuere Forschung mehr zerstört, als nötig gewesen wäre. Wir wissen es nicht.

2.1.2 Rechtsethnologie

Die zweite Möglichkeit, sich den Frühformen des Rechts zu nähern, besteht darin, an die Erkenntnisse der Ethnologie anzuknüpfen. Europäische und amerikanische Ethnologen besuchten seit dem frühen 20. Jahrhundert Eingeborenenstämme und Naturvölker in Afrika und Asien. In früherer Zeit waren es Entdecker und Abenteurer, die ganz ähnliche Erscheinungen beobachteten. Sie sahen, wie Streitigkeiten, die man im modernen Recht als rechtliche Auseinandersetzungen ansieht, dort bewältigt wurden. So brauste oftmals nach einer Tat, die unter den Stammesangehörigen als Unrecht oder Schande angesehen war, Gewalt auf, entlud sich nicht nur gegen den Täter, sondern auch gegen seine Verwandten und Freunde. Nach kurzer Zeit setzten Gespräche und Verhandlungen zwischen der Familie des Täters und des Opfers ein. Häufig gelang eine Aussöhnung. Der Täter, falls er nicht zuvor getötet worden war, konnte in die Gemeinschaft zurückkehren, aus der man ihn zunächst vertrieben hatte. Solche Konfliktlösungen sind aus sog. akephalen Kulturen überliefert, kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern ohne festes Oberhaupt. In segmentären Gesellschaften, zumeist bei Ackerbauern und Viehzüchtern, stießen die Ethnologen regelmäßig auf Älteste und auf Sprecher einzelner Familien. Gab es Streit, trafen sich die Sprecher mit den Ältesten zu Verhandlungen. Häufig gelangten sie zu Kompromissvorschlägen, die für alle Seiten hinnehmbar waren. Der gestörte Frieden war so wiederhergestellt.

Hat man es hier mit Gerichtsverhandlungen und Urteilen zu tun? Gab es Regeln, welche Sprecher und Älteste an derartigen Verhandlungen teilnehmen mussten und wie solche Sitzungen abliefen? Wie kam man zu dem Entscheidungsvorschlag? Die Befunde der Rechtsethnologie ermöglichen in der Tat faszinierende Einblicke in vorstaatliche menschliche Gesellschaften. Die Tücken liegen anderswo. Gerade die älteren Ethnologen kannten die zeitgenössischen Lehren der Rechtsgeschichte in- und auswendig. Mit ihrem Rüstzeug stießen sie auf genau das, was sie suchten. Hier sind Verzerrungen möglich, wenn auch schwer beweisbar. Die neuere Rechtsethnologie hat sich aus dieser Vorprägung weitgehend gelöst. Doch sie trifft nicht mehr auf die von westlicher Kultur unbeeinflussten angeblichen Wilden. Vielmehr geht es stets um das Nebeneinander einheimischer (indigener) Überlieferung und moderner westlicher Überformung. Dann aber sagen die Ergebnisse solcher Feldforschungen über ein angebliches Urrecht nicht mehr viel aus. Dennoch bieten die ethnologischen Befunde reiches Anschauungsmaterial. Bei unbefangener Sicht zeigen sie Streit und Konfliktlösungen ohne [<<31] feste Institutionen und ohne schriftlich niedergelegte Regeln. Ob das, was wir Recht nennen, auch in Mitteleuropa in vorschriftlicher Zeit so ablief, kann man nicht wissen. Aber dass es derartige Mechanismen anderswo gab oder noch gibt, erweitert die Sicht, wenn es darum geht, Besonderes und Allgemeines zu erkennen. Doch die Umrisse eines allgemein-menschlichen ursprünglichen Rechts bleiben auf jeden Fall verschwommen. Mehr als wenige, sehr allgemeine Lehren lassen sich wohl kaum formulieren.

2.1.3 Rechtsarchäologie

Der dritte Ansatz, einen Blick in die Zeit vor der Schrift zu werfen, geht ganz handfest vor und baut auf archäologischen Forschungen auf. Die zahlreichen Funde der Ur- und Frühgeschichte passen vielfach sehr stimmig zur spärlichen und oftmals späteren schriftlichen Überlieferung. Im Idealfall lassen sich auf diese Weise Bodendenkmäler und andere Ausgrabungsgegenstände interpretieren und gleichzeitig der Wahrheitsgehalt schriftlicher Überlieferung bestätigen. Schlagendes Beispiel ist etwa der berühmte Suebenknoten. Der römische Historiker Tacitus berichtete von Stämmen im Norden Germaniens, in denen die Männer ihre Haare als geflochtenen Seitenknoten trugen. Findet man in Norddeutschland nun Moorleichen mit genau dieser Frisur, fällt die Einordnung leicht. Doch Vorsicht ist geboten, wie gerade die berühmteste deutsche Moorleiche zeigt. 1952 stieß man im Windebyer Moor bei Eckernförde auf die komplett erhaltene Leiche eines jugendlich verstorbenen Menschen. Das Mädchen von Windeby, wie sie bald darauf hieß, war am Kopf kahlgeschoren, eine Binde lag über ihren Augen. Die Finger der rechten Hand bildeten eine obszöne Geste, der Daumen war zwischen Mittelfinger und Ringfinger hindurchgesteckt – eine Anspielung auf Geschlechtsverkehr? Über der Moorleiche befand sich ein zerbrochener Stab. Die Deutung lag schnell auf der Hand. Vermutlich hatte man es mit einer Ehebrecherin zu tun. Die Handhaltung zeigte ihre Verbrechen noch über die Jahrtausende an. Die germanische Gerichtsgemeinde hatte sie zum Tode verurteilt, der Vollstrecker ihr vor der Versenkung im Moor die Augen verbunden. Ganz symbolisch hatte der Richter oder ein Priester seinen Stab über ihr zerbrochen. Nur wenige Meter neben dem Mädchen war man auf eine männliche Moorleiche gestoßen, offenbar auf den Liebhaber, der ebenfalls die Todesstrafe erlitten hatte. Diese Sichtweise, von Herbert Jankuhn und anderen verbreitet, erwies sich jedoch als unrichtig. Die männliche Moorleiche neben dem Mädchen von Windeby ruhte schon mehrere hundert Jahre im Moor, bevor die angebliche Ehebrecherin dort versenkt wurde. Dann entdeckte man, dass die Menschen in der Eisenzeit mit 15 Jahren zumeist noch gar nicht geschlechtsreif waren. Sexuelle Ausschweifungen als todeswürdiges Verbrechen schieden damit aus. Vielmehr [<<32] deuteten Wachstumsstörungen in den Kniegelenken auf Mangelernährung und Hunger hin. Vermutlich war das Kind verhungert. Die lederne Augenbinde mag nichts als ein Haarband gewesen sein, das durch Bewegungen des Moores verruscht war. Und die Haare könnten sich schlicht im Moorwasser aufgelöst haben. Schließlich stellte die kanadische Anthropologin Heather Gill-Robinson eine kleine Sensation fest: Die Moorleiche von Windeby war ein Junge. Damit brach die rechtsarchäologische Deutung des Moorfundes sang- und klanglos in sich zusammen. Über Recht, Gericht und Urteilsvollstreckung in diesem Fall wissen wir gar nichts. Vorsicht ist also angebracht, auch wenn es Moorleichen wie den berühmten Mann von Tollund aus dem dänischen Museum Silkeborg gibt, die eindeutige Hinrichtungsspuren zeigen. Aber ob es sich um Opferungen oder Bestrafungen handelt, lässt sich nicht klären. Mit der Überinterpretation ur- und frühgeschichtlicher Fundstücke begibt man sich auf schwieriges Gelände. Im Umkehrschluss unterstreichen solche Beispiele, in welch außerordentlichem Maße auch die Rechtsgeschichte der Frühzeit auf schriftliche Quellen angewiesen bleibt.

 

2.1.4 Der Rechtsbegriff als Problem der Rechtsgeschichte

In gebotener Kürze ist auf ein weiteres Problem hinzuweisen. Der Begriff des Rechts ist gerade für die älteste Zeit bis weit ins Mittelalter hinein unsicher und streitig. Die altbekannte Diskussion, ob Geschichtsschreibung mit zeitgenössischen Wörtern oder mit modernen Forschungsbegriffen arbeiten sollte, um die Vergangenheit angemessen zu erfassen, spitzt sich hier in besonderer Weise zu. Ganze Bücher und Vortragsreihen gibt es inzwischen zum Rechtsbegriff des Mittelalters. Dieser Streit verliert bei einem problemgeschichtlichen Ansatz erheblich an Bedeutung. Es geht nicht darum, wie die Zeitgenossen etwas genannt haben, mögen in den Texten auch Begriffe wie Recht, ius oder lex auftauchen. Vielmehr kommt es darauf an, ob die Quellen eine Ordnung des menschlichen Zusammenlebens mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit zeigen. Nach soziologischer Sichtweise lässt sich nur dann von Recht im modernen Sinne sprechen. Bei dieser engen Definition mag es lange Zeit kein Recht gegeben haben. In einer auf Konsens aufbauenden Gemeinschaft fehlt es aber schlechthin an der Erzwingbarkeit normativer Vorstellungen. Damit muss die Rechtsgeschichte leben. Dennoch bewahren die Quellen Berichte über Streitlösungsverfahren, die möglicherweise dasjenige ersetzten, was wir heute Recht nennen. Das genügt. Die in der Rechtsgeschichte verbreiteten Abwehrreflexe, die eine wie auch immer geartete Rechtsordnung ins Frühmittelalter hinein zurückverlängern, ebnen leichthin die erheblichen kulturellen Fortschritte ein, die mit der Herausbildung eines eigenen ausdifferenzierten Rechts- und Gerichtswesens verbunden waren. [<<33]

2.2 Selbsthilfe und Streitschlichtung bei den germanischen Stämmen

Die ältesten schriftlichen Quellen über das einheimische Recht stammen von Römern und sind in lateinischer Sprache überliefert. Es handelt sich um mittelbare Rechtsquellen, um kurze Einsprengsel in der antiken Literatur. Besonders bekannt und umstritten ist die „Germania“ des römischen Historikers Tacitus (98 n. Chr.). Auf knapp 30 Seiten schildert der Römer, der selbst nie nördlich der Alpen war, Sitten und Gebräuche der Stammesvölker, die dort leben sollten. Dabei hielt das Beispiel eines angeblich unverbrauchten Naturvolkes den verlotterten Weichlingen des römischen Imperiums den Spiegel ihrer eigenen dekadenten Verkommenheit vor. Tacitus war also alles andere als ein unvoreingenommener Beobachter. Dennoch erlangte seine kleine Schrift, nachdem sie erst im 15. Jahrhundert wiederentdeckt worden war, schlagartige Berühmtheit. Die Diskussion um eine germanische Rechtsgeschichte kreist seitdem um wenige Sätze. Für die Fragen von Rechtsdurchsetzung, Gericht und Verfahren sind es vor allem zwei Stellen, die immer wieder hin- und hergewendet werden.

Fehde und Sühne bei den Germanen

Kap. 21. Suscipere tam inimicitias seu patris seu propinqui quam amicitias necesse est; nec implacabiles durant; luitur enim etiam homicidium certo armentorum ac pecorum numero recipitque satisfactionem universa domus, utiliter in publicum, quia periculosiores sunt inimicitiae iuxta libertatem.

Aufzunehmen auch die Feindschaften des Vaters oder der Verwandten sowie Freundschaften ist notwendig; sie dauern aber nicht unversöhnlich an: gesühnt wird nämlich sogar ein Totschlag mit einer bestimmten Anzahl von Rindern oder Kleinvieh; und das ganze Haus nimmt die Genugtuung an, zum Nutzen für die Öffentlichkeit, weil Feindschaften in Verbindung mit Freiheit gefährlicher sind.

Vorlage: Tacitus, Germania, Kap. 21,1, in: Erich Köstermann (Hrsg.), P. Cornelii Taciti libri qui supersunt, tom. II fasc. 2: Germania, Agricola, Dialogus de oratoribus, Leipzig 1964, S. 17; ebenfalls in: Joachim Herrmann/Gerhard Perl (Hrsg.), Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z. – Zweiter Teil: Tacitus, Germania (Schriften und Quellen der Alten Welt 37/2), Berlin 1990, S. 100–101 (dort auch abweichende Übersetzung); die vorliegende Übersetzung nach Sellert/Rüping (Lit. zu 1.), Bd. 1, S. 53. Leicht zugänglich ist die zweisprachige Ausgabe von Hans-Werner Goetz/Karl-Wilhelm Welwei (Hrsg.), Altes Germanien (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Ia), Darmstadt 1995, S. 126–167.

Tacitus schildert in dieser Stelle inimicitiae, also Feindschaften. Warum es derartige Feindschaften gab, bleibt offen, ein Hinweis auf Rechtsstreitigkeiten fehlt. Aber eingebunden sind nicht nur zwei verfeindete Personen, sondern auch die Verwandten [<<34] und Freunde. Für sie soll die Beteiligung an solchen Feindschaften notwendig gewesen sein. Die Feindschaft zweier oder mehrerer Familienverbände bezeichnet die rechtshistorische Tradition als Fehde. Fehde ist damit ein Zustand, ausgelöst durch eine Tat wie den von Tacitus beispielhaft genannten Totschlag. Doch schwankt die Terminologie. Vielfach bezeichnet Fehde auch die einzelnen Selbsthilfe- und Rachehandlungen, zu denen es im Verlaufe einer solchen Feindschaft kommen mochte. Den Totschlag konnte man freilich durch die Zahlung von Vieh sühnen und auf diese Weise die Feindschaft beilegen. Das Vieh steht für eine materielle Ersatzleistung, denn Geld kannten die germanischen Stämme kaum. Selbst das römische Wort pecunia stammt von pecus (Vieh) ab und zeigt, wie die Geldzahlung aus der Viehzahlung entstand. Die Sühneleistung beendete damit die Fehde. Tacitus kommentiert dieses Verfahren und lobt es ausdrücklich. Solche friedlichen Einigungen böten allgemeinen und öffentlichen Vorteil, denn die fortdauernden Feindschaften seien noch gefährlicher iuxta libertatem, wenn sie mit Freiheit verbunden seien. Vermutlich spielt Tacitus damit auf die fehlende obrigkeitliche Gewalt an. Es gab niemanden, der Fehdehandlungen hätte verbieten oder eindämmen können. Deswegen bestand die Gefahr, dass einzelne Selbsthilfe- und Rachezüge sich gegenseitig aufschaukelten und immer größere Ausmaße annahmen. Die friedliche Beilegung des Streites im Konsens erschien demgegenüber zweckmäßiger, weil sie den Frieden wiederherstellte und die Gewalt zurückdrängte. Das gütliche Ende der Fehde gegen Zahlung einer Entschädigung heißt üblicherweise Urfehde. Ob die beiden Seiten hierfür einen Urfehdeeid leisteten, ihre Feindschaft also feierlich beilegten, sagt Tacitus nicht.

Bei allen Einwänden gegen Ungenauigkeiten und Einseitigkeiten der „Germania“ scheint der Mechanismus, den Tacitus beschreibt, unzweifelhaft zu sein. Eine Auseinandersetzung, die aus moderner Sicht auf einer Rechtsverletzung beruht, erschien in der germanischen Zeit als Privatangelegenheit. Nicht die Gemeinschaft oder irgendeine Obrigkeit kümmerte sich darum, sondern die betroffenen Familien waren selbst berufen, ihren Streit auszufechten oder beizulegen. Entweder gab es Gewalt oder Konsens. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die gesamte älteste Geschichte der Rechtsdurchsetzung. Ob die Zeitgenossen ihr Verhalten in rechtliche Vorstellungen einordneten, ist unklar, aber nicht entscheidend. Diejenigen Streitigkeiten, die heute Rechtssachen sind, führten damals zu Fehdehandlungen oder zur Aussöhnung.

Zur Klarstellung sollte man dieses Modell von einem altbekannten Prinzip unterscheiden: Am Anfang der Überlieferung steht nicht der Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Eine derartige Talion, also der Anspruch, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, blieb der frühen einheimischen Rechtsgeschichte fremd. Der Talionsgedanke setzt einen Herrscher voraus, der die Möglichkeit besitzt, Rachehandlungen zu [<<35] verbieten oder auf das Gleichmaß der Verletzungen zu beschränken. Auge um Auge, Zahn um Zahn – dieses alte Prinzip ist in sumerischen, babylonischen und altisraelischen Quellen überliefert. Es stammt aus Kulturen, die über ein vergleichsweise hohes Maß an staatlicher Organisation verfügten. Angebunden an einen göttlichen oder königlichen Gesetzgeber und eingebettet in eine ausgeprägte Schriftkultur ging es im orientalischen Recht darum, allgemeine Regeln für das Zusammenleben der Bevölkerung zu formulieren. Davon kann bei den von Tacitus geschilderten Zuständen keine Rede sein. Eine Zentralgewalt war nicht vorhanden, schriftliche Gebote gab es nicht, Rachehandlungen ließen sich nicht lenken. In einer Gesellschaftsordnung ohne jeden Staat prägen Gewalt und Konsens die Auseinandersetzungen, unabhängig davon, ob sie aus moderner Sicht rechtlich eingebunden oder anderswie erscheinen. Gerichte brauchte es nicht zu geben, Prozessrecht war unnötig.

Ob und inwieweit es ein ausdrückliches Fehderecht gegeben hat, ist unklar. Einheimische Quellen berichten darüber nichts. Weder bei Tacitus noch in der frühmittelalterlichen fränkischen Zeit lassen sich zweifelsfreie Hinweise finden, wonach Rachehandlungen eindeutig rechtlich erlaubt waren. Nordische Quellen weisen durchaus darauf hin. Die isländische Grágás (Graugans), eine hochmittelalterliche Aufzeichnung mit freilich älteren Schichten, spricht deutlich von einem Totschlagsrecht, das den Verwandten des Gewaltopfers zustehen soll. Doch sieht man zugleich Begrenzungen. Die ausdrückliche Ermächtigung greift nur bis zu einem vorgegebenen Verwandtschaftsgrad und nur innerhalb einer bestimmten Zeitspanne. Ähnlich sieht es mit dem norwegischen Frostathingsrecht aus. Danach war es durchaus erlaubt, in einer Fehde den Missetäter umzubringen. Doch stellte es einen Missbrauch dar, gezielt gerade die stärksten Angehörigen der gegnerischen Familie auszuschalten. Solche ausdrücklichen rechtlichen Erlaubnisse von Fehde und Rache gehören der mittelalterlichen Zeit an und bilden den Rahmen, um Selbsthilfe herrscherlich einzuschränken. Für die frühere Zeit fehlen solche Quellen. Ob sich überhaupt jemand mit der Frage beschäftigte, welche Fehdehandlungen erlaubt oder verboten waren, oder ob man eigenmächtige Rache einfach hinnahm, lässt sich nicht feststellen.

Das von Tacitus geschilderte Fehde-Sühne-Verfahren mag durchaus effektiv gewesen sein. Wenn die Sühneleistung hoch genug war, damit die geschädigte Seite die Fehde beilegte, gleichzeitig die Zahlungskraft des Schädigers aber nicht überforderte, sprach viel dafür, sich gütlich zu einigen. Hierfür mag es von Vorteil gewesen sein, wenn auf beiden Seiten mehrere Familienmitglieder beteiligt waren. Angesichts der unabsehbaren Gefahren, die ausufernde Fehdezüge nach sich zogen, mag die Bereitschaft hoch gewesen sein, auf Rachehandlungen zu verzichten und die Mitglieder der eigenen Seite zur Zahlung bzw. Annahme des Viehs zu bewegen. Vielleicht legten [<<36] auch mehrere Mitglieder der Täterseite ihr Vieh zusammen und erhöhten auf diese Weise das Sühneangebot. Das bleibt bei Tacitus unklar, wenn auch jüngere Quellen genau dies verboten haben. Die Unterscheidung zivilrechtlicher oder strafrechtlicher Sühneleistungen spielt ersichtlich keine Rolle. Solange Recht oder, allgemein gesprochen, Konfliktlösung eine private Angelegenheit bleibt, kann es auf diese Zweiteilung nicht ankommen. Strafe setzt eine Strafgewalt voraus, die es bei solchen Auseinandersetzungen nicht gab.