Der Agentenjäger

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3

Goldstein erinnerte mit seinen Baumwollshorts und unbehaarten rosigen Beinen, denen die starken UV-Strahlen anscheinend nichts anhaben konnten, eher an einen großen Jungen als an jenen so emsigen Gründer einer linksextremistischen westdeutschen Gruppe, der Anschluss an die internationale Bewegung der Antiimperialisten suchte …

Wenn er Kontakt zu marxistischen Guerillagruppen knüpfen wollte, wie Reuben behauptet hatte, dann verstand er es glänzend, sich hinter der Maske des idealistischen Träumers zu verbergen.

Er arbeitete seit fünf Monaten an einem Entwicklungshilfeplan, der sich Das vierte Brunnenprojekt nannte und fünf oder sechs wegen Trockenheit unfruchtbare Felder mit einem Viereck aus Röhren verband, von deren Ecken sternförmig Zuleitungen zu den Wasserspeichern liefen.

Die Ingenieursleistung, wenn man es so nennen wollte, bestand hauptsächlich darin, den Höhenunterschied so auszunutzen, dass kaum Pumpen benötigt wurden.

Je länger Faber sich mit Goldstein unterhielt, desto sicherer war er: Reuben mußte einer dummen Täuschung aufgesessen sein.

Sie standen im Schatten eines Wellblechdachs, das auf vier krummen Ästen ruhte. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus konnte man den Verlauf der Wasserröhren sehen. Goldstein war groß und hager, er ging etwas vorgebeugt, die knochigen Schultern nach innen geschoben, als drohe er jeden Moment wie ein Taschenmesser zusammenzuklappen.

Er sagte: «Wir brauchen eine lange Zeit des Friedens – und viel Eingebung von oben, um das Projekt zu Ende zu führen.»

Sein Gesicht war leicht gerötet. Faber konnte nicht unterscheiden, ob vor Eifer oder von der Sonne.

«Von oben?»

«Von Gott.»

«Sie als Marxist glauben an Gott?» Er hatte sich Goldstein gegenüber als westdeutscher Journalist ausgegeben, der Entwicklungshilfeprojekte besuchte, um in den heimischen Zeitungen über ihre Effektivität zu berichten.

«Als Marxist? Wie kommen Sie darauf, ich sei Marxist?»

Faber zog ein zerknittertes Stück Papier mit Notizen aus der Innentasche seiner karierten Jacke. «Das hat man mir in der Redaktion zur Vorbereitung meines Artikels gegeben ... hier steht‘s: Harald Goldstein, Gründer der ‚Stuttgarter Initiative zur Überwindung imperialistischer Ausbeutung’. 1983 stiegen Sie aktiv in die Friedensbewegung ein …»

«Ah – jetzt verstehe ich», sagte Goldstein, und sein Gesicht verklärte sich auf so nachsichtig lächelnde Weise, dass es Faber an einen vergeistigten Engel erinnerte.

«Verstehen? Was meinen Sie?»

«Diese leidige Namensverwechslung. Es gibt in Stuttgart einen zweiten Harald Goldstein. Besser gesagt: es gab ihn. Er kam bei einem Autounfall ums Leben. Eine Zeit lang schickte man mir immer seine Strafmandate. Ehrlich gesagt, habe ich sogar den Verdacht, dass er mich dafür missbrauchte. Er war nicht gemeldet und wohnte bei einer Freundin.»

«Darauf sollten wir uns erst mal einen genehmigen. Das ist ja eine Neuigkeit für meine Zeitung, alle Achtung. Sie haben doch was zu trinken da?», fragte Faber und zog eine der Blechtonnen an den provisorischen Tisch.

«Maisbier, wenn es Ihnen nicht zu warm ist.»

«Und Ihre Aufgabe hier?»

«Die Organisation, meinen Sie? Es ist kein staatliches Projekt, sondern ein christliches. Ingenieure, die von der Evangelischen Kirche beauftragt wurden, haben das Röhrensystem entworfen. Im Prinzip arbeitet es wie ein Ansaugrohr. Sie erinnern sich? Wenn man Benzin mit einem gebogenen Schlauch aus dem Tank holen will? Ist das Wasser erst einmal zum Fließen gebracht, dann überwindet es Höhenunterschiede von allein – natürlich in Grenzen», fügte er hinzu. «Und zum Ansaugen braucht man elektrische Pumpen.»

«Natürlich.» Faber musterte ihn wie ein Wesen aus einer fremden Welt.

«Der Energieverbrauch ist verschwindend gering.»

«Sie arbeiten also für die Evangelische Kirche? »

«Genaugenommen arbeiten wir für uns – indem wir für den anderen arbeiten.»

Faber spürte förmlich, dass er das Wort Seelenheil herunterschluckte, weil es in den Ohren eines Zeitungsreporters fragwürdig klingen mußte.

«Da ist noch etwas, das mich interessieren würde …»

«Ja?»

«Haben Sie in den vergangenen Wochen irgendwann den Besuch eines Deutschen namens Reuben erhalten?»

«Reuben?» Er dachte nach. «Ich glaube nicht – nein, da bin ich ganz sicher.»

«Oder von anderen Deutschen?»

«Hierher verirren sich nur selten Ausländer.»

«Hat sich jemand auffallend für Sie interessiert?»

«Auffallend – nein, wieso? Einheimische?»

«Wer auch immer.»

«Könnte ich nicht sagen.» Er schüttelte den Kopf.

Faber nickte und strich sich durch das hellblonde Haar. Ein Insekt mit durchscheinenden Flügeln taumelte betäubt vom Rand seines Bierglases auf. Aus der Ferne erklang der Ton eines hochtourigen Motors. Als Faber sich erhob, sah er eine Staubwolke über den in

Serpentinen angelegten Sandweg des Hangs heraufkommen.

Es war ein Moped; Corinna saß auf seinem Rücksitz und schlang ihre Arme um den Bauch des Fahrers. Trotz der Hitze trug er schwarze Lederkleidung mit roten Absetzungen, die in dieser Umgebung wie die schlechte Kopie aus einem amerikanischen Film über Motorradbanden wirkte. Corinna küsste ihn nachdrücklich auf die Wange, als sie abstieg.

Der Junge legte verlegen grüßend seine Hand an den Helm, wendete und knatterte folgsam über den Hügelkamm zurück.

«Verdammter Lügner …», sagte sie und stellte sich mit in die Hüften gestützten Fäusten vor Faber hin. «Sie haben gesagt, wir würden um neun zusammen frühstücken. Und dann haben Sie sich schon um acht klammheimlich davongemacht.»

«Wenn wir verlobt wären», meinte Faber, «dann wär‘s jetzt wohl ein Grund, die Beziehung zu lösen?»

«Sie lassen mich allein mit dem Wirt zurück, diesem Möchtegern-Playboy! Während des Frühstücks hat er mich dreimal in sein Hinterzimmer eingeladen …»

«Seine Hängematten sind gar nicht so übel.»

«Machen Sie sich nur über mich lustig!»

«Dafür, dass es so früh am Morgen war, ist Baredo noch ganz gut in Form.»

«Er ließ mich beim Essen keine Sekunde aus den Augen – wie ein hungriger Wolf.»

«Betrachten Sie‘s einfach als Kompliment.»

Goldstein war mit seinen Konstruktionszeichnungen zu den Indios hinuntergegangen, In den tief ausgehobenen Rinnen bewegten sich ihre Strohhüte, als schwebten sie über dem Boden. Zwei andere waren im Schatten eines Abzweigrohrs aus Beton damit beschäftigt, in schwarzen Gusspfannen enchilladas, Maistaschen mit Käse und Fleisch, für das Mittagessen anzurichten.

«Wenn wir den Weg über die Hügel nehmen, sind wir gegen Mittag wieder im Hotel», schlug Faber vor. «Es gibt da oben irgendwo eine Ceiba, einen heiligen Wollbaum mit über fünfundzwanzig Metern Umfang. Ein Naturdenkmal, das wir uns nicht entgehen lassen sollten.»

«Ihre Frechheit ist wirklich nicht zu schlagen ... jetzt, wo ich gerade angekommen bin.»

«Sind Sie etwa auf das Zeug da in den Pfannen scharf?» Er zeigte zu den Indios am Holzfeuer hinunter. «Sehen Sie sich bloß ihre schwarzen Finger an.»

«Sagen Sie mir wenigstens, was Sie von Goldstein erfahren haben.»

«Später …»

Er ging ein Stück voraus und blieb stehen, als sie sich nicht aus dem Schatten des Wellblechdachs rührte.

«Nun, kommen Sie schon … oder finden Sie allein zurück?»

Der Gedanke, den Weg durch das Hügelland bis zum Ort völlig auf sich allein gestellt zu sein, brachte sie augenblicklich zur Vernunft. Er ahnte, was in ihr vorging. Schließlich konnte sich jeder dahergelaufene Landarbeiter leicht als Mitglied der Zivilpatrouille ausgeben, um sich ein wenig mit ihr zu amüsieren. Fabers Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln.

«Was wissen Sie über Reubens Auftrag in Guatemala?», fragte er.

«Nichts. Man hat mich nur darüber unterrichtet, dass er für einen westdeutschen Geheimdienst arbeitete.»

«Und Goldstein?»

«Ich hörte den Namen vor einer Woche zum ersten Mal.»

«Aber man muss Ihnen doch irgend etwas gesagt haben?»

«Die Botschaft ist schließlich kein Nachrichtenbüro. Ich sollte Sie nur betreuen, mehr nicht.»

«Immerhin wussten Sie, dass Reuben in Baredos Hotel ein Zimmer genommen hatte?»

«Als Sie ein Busticket nach Baril lösten, rief ich in der Hauptstadt an. Man sagte mir, Reuben habe hier gewohnt. Das Zimmer sei von der Polizei versiegelt.»

«Hm, merkwürdig.»

«Merkwürdig, wieso?»

«Ich meine diesen Goldstein … Er arbeitet als Entwicklungshelfer für die Evangelische Kirche. Es soll hier draußen seine einzige Aufgabe sein – und ich glaube ihm ... Reuben wollte angeblich einen ganz anderen Mann gleichen Namens beobachten, der in Deutschland wegen verfassungsfeindlicher Aktivitäten aufgefallen war und in Guatemala Kontakte zu linksstehenden Guerillagruppen knüpfen sollte.

Reuben muss gewusst haben, dass es sich nicht um denselben Goldstein handelte. Trotzdem blieb er weiter in Baril. Er hatte sein Zimmer für sechs Wochen gemietet.»

«Warum sollte er so etwas Widersinniges tun?»

«Genau das ist es, was ich herauszufinden versuche.»

«Vielleicht schreckte er nur davor zurück, seinen Irrtum einzugestehen?»

«Das wäre nicht Reubens Art.» Faber schüttelte den Kopf. «Ich kannte ihn gut genug. Er hatte zwar persönliche Schwierigkeiten in letzter Zeit, aber dabei ging es nicht um seine Qualifikation. Wir haben viele Jahre lang in der Spionageabwehr zusammengearbeitet.

Angeblich bestätigte sich der Verdacht gegen Goldstein. So lauteten jedenfalls seine Berichte nach Köln. Es war das letzte, was wir von ihm hörten.»

 

«Meines Wissens gibt es hier überhaupt keine Guerillas. Die Gegend ist fest in der Hand der Militärs.»

«Und der Todesschwadronen?» Faber blickte sie an, seine Stimme hatte einen herausfordernden Klang.

«Wenn Sie darauf anspielen, dass unsere Botschaft zu wenig Protest gegen diese Art der Unterdrückung einlegt …»

«Ich bin noch nicht lange genug hier, um mir darüber ein Urteil bilden zu können. Und ehrlich gesagt: Um Politik mache ich lieber einen Bogen. Sie nervt mich, weil sie wie ein Billardspiel ist. Nichts bewegt sich ohne Stoßen und Schieben.»

«Aber Sie beziehen doch Partei, wenn Sie für einen der westdeutschen Dienste arbeiten!»

«Ich betrachte mich mehr als Handwerker. Als eine Art Behördenhandwerker, der Fremdkörper aus nicht schließenden Türschlössern entfernt. Und in meinem Fall kommen sie zufällig von der anderen Seite.»

«Sie haben ja eine merkwürdige Art, den Ost-West-Konflikt zu verharmlosen.»

«Werden Sie das auch Ihren Vorgesetzten melden?»

«Ich melde niemandem etwas.»

«Sie sind doch als meine Aufpasserin abgestellt. An wen geben Sie Ihre Berichte? Das würde mich interessieren.»

«Reden wir lieber von etwas anderem. Was für Schwierigkeiten waren das, in denen Reuben steckte?»

«Korruptionsvorwürfe. Anonyme Briefe. Angeblich soll er für Geld die Fahndung gegen einige Linksextremisten eingestellt haben. Er war immer in Geldschwierigkeiten. Sozusagen der Normalzustand. Wie viele übrigens in den Diensten. Neigen alle dazu, etwas exzentrisch mit ihrem Einkommen umzugehen – vielleicht die Nerven! Hypotheken auf dem Haus, Erbschaftssteuer und so weiter. Aber ich glaube nicht, dass diese Geschichten für Ihre Ohren bestimmt sind.»

«Schließlich ist er tot.»

«Das entbindet mich nicht von meiner Schweigepflicht.»

«Und wenn es eine Verbindung zwischen Reubens Schwierigkeiten und dieser mysteriösen Namensverwechslung gibt?», fragte sie. «Oder seiner Ermordung?»

«Sieht ganz so aus, als ob er Goldsteins Arbeit in Guatemala nur als Vorwand für etwas anderes benutzt hatte.»

«Als Vorwand …» Sie blieb stehen und wandte sich fragend nach ihm um. «Woran denken Sie da?»

«Nichts Bestimmtes», sagte er. «Noch denke ich an gar nichts. Nein, ich habe wirklich keine Ahnung.»

4

Ross schloss bedächtig die Fahrstuhltür. Jemand aus der Abteilung «Experimentelle Dechiffrierung», ein kleiner Mann mit dem Gesicht eines Buchhalters und hochgeschobener Brille auf der Stirn, der einen Packen verschiedenfarbiger Blätter in den Händen hielt, trat bereitwillig zurück, als er Ross im Fahrstuhl erblickte.

Das Gefährt setzte sich ohne ihn in Bewegung. Ross gehörte nicht zu jenen, die auf den ersten Blick Sympathie hervorrufen, obwohl er sich selbst jederzeit Charme und einen ausgeprägten Hang zur Herzlichkeit bescheinigt hätte. Seine Gestalt war klein, übergewichtig. Der spärliche Haarkranz stach schwarz von der fast weißen Kopfhaut ab.

Was seine Gegenüber irritierte – bis sie entdeckten, dass er diesen Eindruck durch Verbindlichkeit und einen wachen Verstand wettzumachen wusste –‚ waren seine beinahe wimpernlosen Augen, die auf manche Betrachter so wirkten, als schielten sie leicht. Sein Augenarzt hatte ihm versichert, es sei nichts weiter als «eine Art Ungleichgewicht der Farbpigmente in der Iris».

Wenn ihn wie jetzt der Präsident des Amtes zu sich rief, pflegten sich seine Züge auf übertrieben scheinende Weise anzuspannen. Ein Gespräch außerhalb der routinemäßigen Berichterstattung bedeutete immer Ärger.

Das fast lautlose Aufwärtsgleiten des Fahrstuhls ließ die Stille überdeutlich werden. Hier oben waren die Korridore mit Teppichboden ausgelegt. Auch das Geräusch seiner eigenen Schritte lenkte ihn nicht ab.

Einzig der verchromte und an seinem Oberteil von perlendem Wasserdampf überzogene Kaffeeautomat in der Wandnische brachte seinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde dazu, hoffnungsfroh innezuhalten, weil er Erleichterung versprach …

Aber die ungespülten Tassen auf dem Rost versetzten ihn sofort in die schmutzige Wirklichkeit zurück. Ross ging grußlos durch das Vorzimmer und drückte die Klinke, ohne der Sekretärin hinter dem Schreibtisch irgendeine Beachtung zu schenken.

Der Mann am Ende des langgestreckten Raumes wandte ihm seinen grauen Anzugrücken zu.

Er polierte mit einem Wolllappen den Silberrahmen einer Fotografie, die zwischen anderen in einem offenen Aufsatzschrank aus Mahagoni stand.

«Glauben Sie, es war eine gute Idee, Faber nach Guatemala zu schicken?», fragte er, wobei er weder mit dem Polieren innehielt noch Ross‘ Gruß abwartete. «Ausgerechnet jetzt, wo das mit seiner Freundin passiert ist?»

«Wir dachten, auf diese Weise sei er besser vom Eisernen Vorhang fernzuhalten – solange es keine Direktflüge von Guatemala City nach Ost-Berlin gibt.»

Der letzte Teil seiner Bemerkung hatte sarkastisch klingen sollen; aber der ungerührten Stimme des anderen nach zu urteilen, war es kein Erfolg.

«Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, dass Tiedges Flucht meinen Vorgänger das Amt gekostet hat?», fragte er und wandte sich nach ihm um.

Ross hätte nicht behaupten können, seine Miene wirke übermäßig besorgt. Im Gegensatz zu ihm selbst hatte er seine Gesichtszüge unter Kontrolle. Sie wirkten eher wächsern. Wie gut modelliert, aber mit zu wenig Farbe ausgestattet. Und vielleicht rechtfertigte genau diese Fähigkeit es, dass es zwischen ihnen unterschiedliche Kompetenzen gab.

«Er hat selbst den Wunsch geäußert. Nach dem heimlichen Treffen mit einem Anwalt aus Vogels Ostberliner Kanzlei hielt ich es für besser …»

«Weiß Faber, dass die Tochter seiner Freundin nach drüben gegangen ist?»

«Ich nehme an, noch nicht.»

«Da er versuchen wird, sie aus Guatemala anzurufen, kann es nur noch eine Frage von Stunden sein.»

«Man sagte mir, es sei zwei Tage nach Fabers Abflug passiert?», erkundigte sich Ross vorsichtig. «Dann bleibt uns noch etwas Zeit.»

«Sie ging mit Bekannten vom Bahnhof Friedrichstraße zu einem Tagesausflug hinüber. Von dort ist sie abends nicht mit ihnen zurückgekehrt. Wie ich hörte, ‘hängt Faber sehr an der Kleinen. Ich glaube, er hat sie an Tochter Statt angenommen … das alles gefällt mir überhaupt nicht, Ross.»

«Wir nehmen an, dass sie während der Untersuchungshaft in der Nähe ihrer Mutter sein wollte.»

«Das ist ein Punkt, der Faber wahrscheinlich mehr zu schaffen machen wird als alles andere – dass sie sich in der DDR versteckt hält, meine ich. Finden Sie heraus, bei wem sie wohnt. Sie ist doch erst dreizehn, verdammt noch mal …»

«Wir haben uns um Amtshilfe an die Kollegen der anderen Dienste gewandt. Ohne Ergebnis. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie von den ostdeutschen Behörden aufgegriffen wurde.»

«Überprüfen Sie ihre Freunde und Verwandten in Ost-Berlin.»

«Das wird nicht ganz einfach sein.»

«Nicht einfach.., sicher nicht.» Die Hände des anderen drehten den Putzlappen zum Strick und ließen sein Ende unvermittelt springen. «Wann ist es das schon?»

Ross hütete sich davor, etwas zu erwidern. Er betrachtete das gedankenverlorene Spiel seiner Finger und wartete voller Unbehagen die nächste Frage ab.

Und sie kam ... sie kam so kalt und unausweichlich wie der nächste Winter:

«Welche Kompetenzen hat Faber im Fall Reuben?»

«Fast keine. Er sorgt für die Formalitäten und nimmt den Bericht des zuständigen Kommissariats entgegen. Natürlich wird er sich ein Bild von Reubens Todesumständen machen wollen. Ich habe angedeutet, dass er dabei nicht zu weit gehen soll. Aus Rücksicht auf die örtlichen Behörden.»

«Aber Sie haben Faber doch instruiert, den Fall der Presse gegenüber geheim zu halten?»

«Sicher. Ja, natürlich.»

«Stoßen Sie ihn trotzdem nicht mit der Nase darauf, was Reuben dort unten in Guatemala wirklich wollte. Halten Sie ihn von den Indizien fern.» Er strich sich mit einem Anflug von Ekel über die wächserne Nasenfalte. «Es würde schwierig für mich sein, dem Innenminister begreiflich zu machen, dass wir in unserem eigenen Müll graben, völlig unnötigerweise, Ross …»

«Ja, ich verstehe.»

«Sehr schwierig. Erst recht, wenn irgendeiner dieser journalistischen Spürhunde Blut geleckt hat und die Einsetzung der parlamentarischen Kontrollkommission ins Spiel bringt. Schon ihre Erwähnung ist gefährlich. Dann wird man jeden Widerspruch sofort als Schuldeingeständnis auslegen. Wir haben in der Angelegenheit doch keinen Dreck am Stecken, Ross?»

«Ich kann Sie beruhigen. Das wird nicht geschehen. Unsere Abschottung ist wasserdicht. Außer Marten, Ihnen und mir wurde niemand eingeweiht. Wir haben Faber völlig unter Kontrolle

wir haben Vorkehrungen getroffen, will ich sagen. Verschiedenartige Vorkehrungen …»

«Und Reubens Verwandte? Könnten sie Schwierigkeiten wegen der Überführung machen?»

«Es gibt nur noch eine ältere Schwester. Sie hat sich nie sehr für ihren Bruder interessiert. Ich glaube, sie wusste nicht einmal, für wen er arbeitete.»

«Gut. Halten Sie den Kreis der Informierten so klein wie möglich.» Als Ross wieder im Fahrstuhl stand, war er überzeugt, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein. Er dachte an Hauptmann Alvarez, und seine Erinnerung an den schnauzbärtigen guatemaltekischen Haudegen vermischte sich auf eigentümliche Weise mit den flauen Gefühlen, die der absackende Fahrstuhl in seiner Magengrube verursachte.

5

Faber saß im Halbdunkel des Restaurants, das vier ausgetretene Stufen und ein Holzgeländer von der übrigen cantina trennten. Er hatte sich eine halbe Flasche Whisky bringen lassen; sie war zur Hälfte geleert …

Seit mehr als einer Stunde versuchte er nach Deutschland durchzukommen. Das Telefon hing an der gegenüberliegenden Wand – nur ein schemenhafter Umriss auf der braunfleckigen Tapete –, und bei jedem lauten Geräusch der Gäste unten an der Theke hob er den Kopf, als sei es der erwartete Rückruf.

Durch die geöffnete Tür konnte er das Mädchen in der Küche sehen. Es rührte in den Töpfen und walzte Maisfladen aus.

Baredo kam wegen der Hitze alle halbe Stunde, um in einer Schale frisches Eis für seinen Whisky nachzureichen. Manchmal drang die verhalten krähende Stimme eines Kindes aus der Türöffnung.

Das Indiomädchen nahm es dann mit gleichmütigen Lächeln auf und stillte es vor Fabers Augen. Sie schob sich dabei so in den Türausschnitt, dass Faber das Gefühl hatte, sie versuche ihm zu beweisen, was für eine gute Mutter sie trotz der harten Arbeit in der Küche sei.

Immerhin waren ihre Finger sauberer als die der Männer an den Eisenpfannen draußen im Camp, stellte Faber fest.

Doch nach einer Weile wurde ihm ihr Anblick unerträglich. Er dachte an Lea. Ihr Bild in der Haft – das so schemenhaft undeutlich war, weil er nur verschwommene Vorstellungen über ihre Haftbedingungen besaß, aber doch eindringlich genug – zwängte sich ihm auf, und das Indiomädchen dort drüben am Herd wurde immer undeutlicher und nahm nach und nach Leas Gestalt an.

Das Kind an ihrer Brust war Leas Kind – Leas Kind vor vielen Jahren. Er sah sie in einem verwaschenen blauen Gefängnisanzug dort stehen, das rötliche Haar hochgebunden, so dass man die sich teilenden feinen Haare an ihrem gestreckten Nacken sehen konnte.

Ja, so war sie, er erinnerte sich wieder. Er erinnerte sich ihrer immer ein wenig distanziert wirkenden Augen. Andere hielten es für einen Ausdruck von Resolutheit, und das war es auch. Aber nicht allein … genauso viel verzweifelte Haltung war darin zu erkennen – falls man nur lange genug mit ihr zusammengelebt hatte –‚ den Widrigkeiten des Lebens selbst dann noch zu trotzen, wenn man tödlich verwundet war.

Eine Kontaktperson, jemand im ostdeutschen Pressezentrum, hatte ihm anvertraut, sie habe einem ihrer Bewacher in die Hoden getreten, als er zudringlich werden wollte.

Faber erinnerte sich noch genau seiner Worte: «In die Eier, Thomas. Ein Tritt wie ein spanischer Kampfstier. Sie war kaum noch zu bändigen! Man mußte den Mann in eine Magdeburger Spezialklinik schaffen. Er wird die Hälfte seiner Manneskraft einbüßen.»

Bleibt ihm immer noch die andere Hälfte, dachte er ohne Mitleid. Wenn sie zusammen waren, hatte er oft bedauert, dass sie seine Grobheiten nicht sonderlich schätzte. Er war nie ein besonders zärtlicher Liebhaber gewesen, und er hätte es vorgezogen, dass sie war wie er. Nicht voll von jener so irreführenden Resolutheit, die leicht wie eine morsche Fassade zusammenbrach und erst als ein allerletztes Aufbäumen wiedererstand, wenn man ihr Gewalt antat. Dabei konnte sie beim Arbeiten eine unausstehliche Emanze sein – stark und unnachsichtig: ohne jedes Mitleid mit irgendeinem jungen Ding im Volontariat, das die Regeln der Grammatik nicht beherrschte. Er fragte sich immer noch, ob ihr die Arbeit als Fluchthelferin wirklich zuzutrauen war. Oh sie dafür überhaupt die Nerven besaß.

 

Faber wurde durch das schrille Klingeln des Telefons aus seinen Gedanken gerissen.

Ehe er am Apparat war, hatte das Mädchen mit dem Kind auf dem Arm abgehoben. «Für Sie, Señor Faber. Aus Deutschland…»

«Faber? – Ah, Sie, Ross. Ja, zum Teufel, was ist los bei Ihnen? Ich versuche seit einer geschlagenen Stunde durchzukommen ... Was sagen Sie? Besprechung heim Chef?»

Er konnte nur undeutlich verstehen, wovon der andere redete; dann wurde die Leitung besser, und Ross sagte:

«Hat mich eben zu sich gebeten, der alte Knabe. Wegen Ihres Auftrags. Ist sehr besorgt.»

«Besorgt, wieso?»

«Weil wir keine Nachricht von Ihnen hatten.»

«Nun, deswegen rufe ich an. Ich möchte Sie bitten, mich mit weiteren Nachforschungen zu beauftragen.»

«Soweit ich mich erinnere, sollten Sie nur die Formalitäten erledigen und den Bericht des zuständigen Kommissariats entgegennehmen?»

«Man hat die Leiche noch nicht freigegeben, wegen der Todesursache. In der Zwischenzeit habe ich eigene Nachforschungen angestellt und bin dabei auf einen interessanten Hinweis gestoßen. Dieser Goldstein hier ist ein anderer als der, den Reuben observieren wollte.» Er machte eine Pause. «Und Reuben muss das gewusst haben.

«So? Wie kommen Sie darauf?»

«Ich denke, er kannte ihn, Schließlich war er nicht zum ersten Mal mit dem Fall beschäftigt. Und es gibt sicher Archivfotos von ihm. Goldstein arbeitet für eine kirchliche Organisation. Das ist kaum der Platz von jemandem, der sich um die Verbrüderung seiner linksextremistischen Gruppe mit den hiesigen Guerillas bemüht.

Ross schwieg.

«Sind Sie noch dran?», fragte Faber.

«Hm … ja, sicher. Klingt in der Tat bemerkenswert. Sie sollten die Sache bis zur Freigabe von Reubens Leiche im Auge behalten. Den Rest überlassen Sie besser der Polizei.»

«Glauben Sie wirklich, dass es klug wäre, Urbico einzuweihen? Ich habe nicht allzu viel Vertrauen zu ihm.»

«Ohne Zusammenarbeit mit dem Kommissariat werden wir wenig erreichen. Und – Faber, wo auch immer der echte Goldstein steckt: Es ändert doch wohl nichts daran, dass die kommunistische PGT Reuben auf dem Gewissen hat?»

«Sie machen es sich da etwas zu leicht. Wer es war, ist noch immer ungeklärt. Würde mich nicht mal wundern, wenn man ihn für einen sowjetischen Agenten hielt.»

«Etwa die Militärs? Wollen Sie das damit andeuten? Um Gottes willen, Faber, setzen Sie nur ja keine Gerüchte in die Welt, die uns in Schwierigkeiten bringen könnten.»

«Die Kommunistenangst soll hier sehr ausgeprägt sein.»

«Nicht ausgeprägter als bei uns.»

«Ein nahezu pathologischer Antikommunismus, sagte man mir.»

«Wie denkt Urbico darüber?», erkundigte sich Ross.

«Er glaubt, es sei die PGT. Oder eine der anderen linksorientierten Gruppen.»

«Na also.»

«Das beweist gar nichts.»

«Ehrlich gesagt, kann ich mir schlecht vorstellen, dass es dieser evangelische Knabe war», seufzte Ross. «Warum auch? Und wer hätte sonst ein Interesse daran haben sollen, ihn über die Klinge springen zu lassen? Ein paar arme Bauern vielleicht, die auf seine Dollars scharf waren? Nun gut, das wäre immerhin möglich. Dann werden wir es nie erfahren. Und für seine trauernde Witwe wird es keinen Unterschied machen ….»

«Reuben war unverheiratet.

«Wie …? O ja, pardon. Ziemlich pietätlos von mir. Aber er war schließlich nur einer von vielen im Stall. Man muss eine Menge im Kopf behalten, wenn man über das Privatleben aller Mitarbeiter informiert sein will.»

«Einer von vier leitenden Beamten der Abteilung.»

«Es ist gut, dass Sie Ihren Beamtenstatus ansprechen, Faber. Ich flehe Sie an, auf keinen Fall noch mehr Porzellan zu zerschlagen. Dass ich Ihrer Bitte entsprochen habe, ins Ausland zu gehen, war sowieso schon ungewöhnlich genug.

In den Augen der guatemaltekischen Regierung stehen wir nicht allzu gut da mit unserer Arbeit auf ihrem Territorium! Auch wenn wir ausgezeichnete Beziehungen zu ihrem Geheimdienst unterhalten. Es hinterlässt immer einen schlechten Eindruck, verdeckt operiert zu haben.

Und in diesem Fall waren wir nicht sehr offen zu ihnen. Schließlich handelte es sich darum, den Mitarbeiter eines Entwicklungshilfeprojektes zu observieren. Man könnte das als Kritik an der Sache selbst auslegen – als einen Vorwand, um sich lästiger Pflichten zu entledigen.

Lassen Sie die Finger von Nachforschungen auf eigene Faust. Fühlen Sie diesem Goldstein noch ein wenig auf den Zahn, wenn Sie sich langweilen, Faber – und sobald Reuben unter die Erde gebracht ist, steigen Sie ins nächste Flugzeug und kommen nach Deutschland zurück.»

Bei seinen letzten Worten gab es ein kratzendes Geräusch in der Leitung, dann war die Verbindung unterbrochen.

Der alte billige Trick, argwöhnte Faber sofort, um Widerspruch zu unterbinden, aber immer noch wirksam. Man strich – am besten mitten im Satz – mit einem zerknüllten Blatt Papier über die Löcher der Hörmuschel und legte auf. Es klang, als habe ein Hai das Tiefseekabel durchgebissen ... oder der Sturm sämtliche Telefonmasten umgelegt. Eigentlich hatte Faber sich nach Lea erkundigen wollen. Er kehrte an den Tisch zurück und nahm einen Schluck Whisky.

Als er am Boden der Flasche angelangt war, bestellte er die zweite. Das Indiomädchen in der Küche sprach ein fast unverständliches Spanisch, versetzt mit Brocken, die nach Kakchikel, einem Mayadialekt, klangen. Anfangs dachte er, sie versuche ihn vom Trinken abzuhalten. Dann begriff er, was sie ihm sagen wollte: Seine Marke war ausgegangen …

Da es nichts anderes mehr gab, nahm er Tequila. Nach einem halben Wasserglas voll fühlte er sich etwas besser.

Sie brachte ihm Zitronenscheiben und Salz, und der Biss in die Zitronenscheibe gaukelte ihm vor, er sei noch nüchtern genug, um etwas Neues zu versuchen.

Ein Blick in den Spiegel über der Bartheke hätte ihn davon überzeugen können, dass sein Gesicht wie von fiebriger Hitze überzogen wirkte und seine Pupillen längst jene Schwerfälligkeit angenommen hatten, die bedenklich auf das Stadium der Volltrunkenheit hindeutete. Sein Gang war unsicher.

Faber tastete nach dem Schlüssel der Zwischentür in seiner Hosentasche. Als er ihn nicht fand, blieb er grübelnd stehen … dann fiel ihm ein, dass er ihn sicherheitshalber in eine Schublade des Kleiderschranks gelegt hatte.

Er bewegte sich auf Zehenspitzen und versuchte in seinem Zimmer möglichst wenig Lärm zu machen. Das Schlüsselloch der Zwischentür war mit gewebeverstärktem Klebefilm abgedichtet, eine klebrige Masse, zäher noch als Isolierband, die sich nur schwer ablösen ließ. Aber erst der doppeltürige Kleiderschrank auf der anderen Seite brachte ihn wirklich ins Schwitzen. Dagegen war sein eigener Schrank ein Kinderspiel gewesen.

Man hätte glauben können, er sei am Boden festgewachsen. Seine Holzfüße knarrten und ächzten, ohne sich von der Stelle zu rühren. Nach vier oder fünf Anläufen hatte er es endlich geschafft, ihn so weit in Reubens Zimmer zu schieben, dass er seine Kante packen und ihn schräg zur Seite drehen konnte; danach ging es leichter.

Er horchte, ob jemand im Haus auf sein Rumoren reagierte …

Von einem jungen unscheinbaren Mann abgesehen, der gestern Abend eilig die Hotelhalle mit einer dunklen Ledertasche durchquert hatte, gab es momentan nur zwei Gäste außer Corinna und ihm selbst im Hotel: eine ältere, spanisch wirkende Dame aus der Hauptstadt, die ihren Sohn besuchte – er arbeitete in der Maisbierbrauerei und hatte traurigen Ruhm dadurch erlangt, dass die «Purpur-Rose», eine bekannte Todesschwadron, ihm öffentlich androhte, seine Hoden an die Kirchentür des Ortes zu nageln, wenn er weiter für Unruhe unter den Arbeitern sorgte –‚ und Hauptmann Alvarez.