Kalter Krieg im Spiegel

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Das Dachfenster drüben sah aus wie gewöhnlich. Keine Spur einer Veränderung.

Ich musterte die künstlich eingespiegelte Gardine mit dem geblümten Schirm der Wohnzimmerlampe dahinter, die anheimelndes Licht verbreitete, und mit einem Male befiel mich bleierne Müdigkeit …

Es war nicht der Alkohol: Ich fühlte mich alt und ausgelaugt; ich ahnte, dass alles nur Fassade war und dass man nie zum eigentlichen Kern der Dinge vordringen würde – Augenschein, Fassade, Theater-Kulisse wie dieses Fenster oder der Todesstreifen dort unten, der Angst und Unsicherheit maskierte, Misstrauen und Argwohn.

Der Prophet des Dritten Weges würde sterben, weil es das große Marionettentheater so verlangte – nicht etwa ein Stück, das die Herren rechts und links des Eisernen Vorhangs inszeniert hatten (man hätte es vielleicht durchschauen können), ja nicht einmal Gott oder der Teufel, sondern der blindwütige Zufall, dessen Fäden nicht weniger unentrinnbar zogen. Es gab nirgends einen überzeugenden Beweis dafür, dass die Freiheit, die einem das Bewusstsein vorgaukelte, wirklich war (aber es sprach alles für eine Illusion, und dass etwas anderes unsere Gedanken und Willensimpulse so genau bestimmte wie den Blitz, die Wolken und den Regen). Darum erschien mir der Kampf um Ideologien sinnlos.

Wenn es etwas gab, das mich gleichgültig ließ, dann war es der Glaube an Ideologien: Von dieser Seite gab es keine Hoffnung.

Gewöhnlicher Defätismus oder Fatalismus resigniert vor der Übermacht der Mächtigen; ich sah zwar diesen Einfluss auch, aber die Mächtigen selbst waren nicht weniger Sklaven einer noch gewaltigeren, blinden Naturmacht.

Mir war es immer lächerlich erschienen, zu glauben, dass, als mein Vater und meine Mutter durch einen geplatzten Vorderreifen starben, dies nur der Nachlässigkeit des Tankwarts zuzuschreiben war, der den Riss im Gummi hätte entdecken können. Sondern der beschädigte Reifen und die Gleichgültigkeit des Tankwarts hatten gute Gründe, und das Ergebnis musste wiederum zu unausweichlichen Konsequenzen führen – nämlich genau zu jenen, die mir dann tatsächlich zu schaffen machten.

Ich verstand nicht, wieso ein scharsinniger Mensch wie Kofler das übersehen haben konnte und woher er seine Zuversicht nahm.

Ich war davon überzeugt, dass ich diese Arbeit tat, weil ich sonst in der Gosse verkommen wäre. Ich hatte mich auf das Machbare verlegt. Dass ich mich darum bemühte, den jeweiligen Schuldigen zu finden, war dem gleichen elementaren Bedürfnis zuzuschreiben – weil es nämlich ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend verursachte und die Wespen und Hummeln in meinem Schädel zu summen begannen, wenn ich einen Unschuldigen ans Messer lieferte!

Kofler dagegen berief sich auf die Freiheit. Und er setzte auf Ideale – angesichts der Realitäten ein absurdes Bemühen (oder lag der wirkliche, der »bessere« Realismus etwa darin, das Unmögliche zu fordern?). Also stellte ich das Nachtglas auf den Tisch zurück und ging hinein, um seine Meinung darüber zu hören.

Er brauchte eine Weile, bis er meine Fragen ernst nahm. Wir waren beide ziemlich angesäuselt.

»Sie sind ein merkwürdiger Kerl«, lachte er. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Oder ist das wirklich Ihre Überzeugung? Glauben Sie denn, mit dem Unsinn leben zu können?«

Er machte eine Pause und fuhr dann fort:

»Selbst wenn es wahr wäre, wir dürften es nicht glauben … Wir müssten handeln, als sei es nicht wahr. Glücklicherweise sind das unlösbare Fragen und in der Praxis entscheiden wir immer so, als seien sie nicht gestellt. Wir sind frei. Was uns fehlt, ist Vertrauen und guter Wille.«

Kruschinsky brachte zwei Flaschen Wein und ein leeres Glas mit, als er hereinkam. Er setzte sich an den Tisch und hörte zu. Sein Mund war halb geöffnet; die Augen in seinem blassen Pickelgesicht rollten fragend hin und her – als versuchte er mit Blicken zu ergründen, welche unerhörte Veränderung vorgegangen war, die aus einem verdächtigen Subjekt einen harmlosen Zechkumpanen werden ließ.

»Selbst wenn es diese Unfreiheit gäbe«, fuhr Kofler fort, » – als Staatsanwalt hätten Sie schon lange vor dem Fall Pysik die Konsequenzen daraus ziehen müssen. Denn wo keine Freiheit ist, da gibt es auch keine echte Schuld. Unser Gewissen ist dann nur eine Laune der Natur. Es gilt das Verursacherprinzip. Verursacher werden wie Irrläufer aus dem Verkehr gezogen.

Die Welt ginge vor die Hunde, wenn wir das glauben wollten«, erklärte er und nahm einen tiefen Schluck. »Nein, nein, an der Freiheit des Individuums halten wir fest, hüben wie drüben, drinnen wie draußen. Ich meine die innere und die äußere Freiheit. Auch wenn Ihre Art von Defätismus – mit der einen oder anderen Begründung – unter der Jugend weit verbreitet ist und die äußere Freiheit im Osten tausendmal verraten wird. – Eine andere Frage: Wie lange wollen Sie mich noch hier festhalten?«

»In drei oder vier Tagen wird unsere Arbeit erledigt sein«, erwiderte ich. »Dann dürfte der Abwehrdienst seinen Auftrag erfüllt haben.«

»Tja, Sie haben den Kode der Fahrstuhltür ausgetauscht, nehme ich an? Was bleibt mir also anderes übrig?«, lachte er. »Übrigens werde ich mich dann in der Nähe von Köln niederlassen. Man hat mir ein Haus angeboten. Ein gutes Stück von hier entfernt – aber wenn Sie sich mal in der Gegend aufhalten …? Sie beide, meine ich.«

»Wir werden kommen«, sagte ich.

»Das Haus ist zwar schon alt und ein wenig baufällig, aber es liegt weit außerhalb der Stadt im Grünen. Die passende Einsiedelei, um einigen versponnenen Ideen nachzugehen. Ich hoffe, dass meine beiden Töchter demnächst entlassen werden und eine Ausreisegenehmigung erhalten.«

»Man wird Ihnen dort keine Ruhe lassen.«

»Das ist der Punkt, um den ich Sie noch bitten möchte! Ich will vermeiden, dass mein Name mit dieser Bewegung identifiziert wird – nicht eher, als bis man hört, was ich zu sagen habe. Ich beabsichtige weder Reden zu halten noch Interviews zu geben.«

Wir leerten die beiden Flaschen. Kruschinsky vertrug noch weniger als ich. Nach ein paar Gläsern rötete sich sein Gesicht, und seine Augen bekamen einen traurigen Glanz.

Er legte den Arm um Koflers Schultern. »Keine Interviews, keine Reden …«‚ bestätigte er mit schwerer Zunge. »Und wir besuchen Sie – Ehrenwort!«

Er fummelte in den Taschen nach einem Zettel, um sich die Adresse zu notieren.

Kofler Durchhaltevermögen dagegen war ausgezeichnet. Von einer gewissen Menge an schien der Alkohol seine Wirkung auf ihn zu verlieren. Vermutlich, weil er es wie seine Landsleute gewohnt war, den Wodka aus Wassergläsern zu trinken. Er griff in das Regal hinter sich und reichte mir einige Blätter aus seinem Manuskript.

»Ich gehe hier detaillierter auf die Theorie des guten Willens ein und zeige, wie in Behörden – sagen wir, im Rat des Kreises drüben – der tägliche gute Wille zu schnellerer Bearbeitung von Visaanträgen führt; wie der Schuss des Grenzsoldaten in die Luft geht; wie der radikale Gewerkschafter im Osten durch guten Willen die Gefährdung der Liberalisierung unterbindet; wie der Chemiefabrikant im Westen den Tod einer ganzen Flussfauna für ein neues Werk durch den Verzicht auf Dividenden verhindert; wie der Bauer den unkontrollierten Gebrauch von Hormonen und Antibiotika um einiger zusätzlicher Kilo Fleisch willen unterlässt; wie der frustrierte Arbeitslose darauf verzichtet, Parkbänke in den Teich zu werfen, der unzufriedene Jugendliche, in den Telefonzellen Hörer abzureißen; wie der Eifersüchtige seine Eifersucht, der Unduldsame seine Unduldsamkeit bezwingt; wie der marxistische Theoretiker seine Überzeugungen in Frage stellt und nicht jeden Andersgläubigen zum Irrsinnigen erklärt und ihn in Arbeitslager oder psychiatrische Kliniken steckt, wenn er seiner habhaft werden kann; wie der Präsident nicht aus kostbarem Porzellan isst, solange unter seiner Regierung Menschen verhungern; und dass die Abrüstungsgespräche schließlich gelingen – ich rede nicht von einseitiger Abrüstung –, weil eine Seite zur Vorgabe von mehr Vertrauen bereit ist.

Solche Appelle an die Freiheit sind blauäugig, ja lächerlich – kein Zweifel. Und sie sind wirkungslos. Sie sind immer lächerlich und wirkungslos, wenn nur ein Einzelner sie ausspricht. Aber lassen Sie es uns zu einem alltäglichen Gedanken, einer konkreten Forderung machen – und auch zu einem Ruf in den Schulen.

Lassen Sie uns von Kindheit an das phantastische Bild einer Welt malen, die von diesem Willen geprägt ist. Lassen Sie es uns im täglichen Gespräch erneuern, in Briefen, Büchern, im Rundfunk, in Theaterstücken und Zeitungen. Was genau hindert uns eigentlich daran? Lassen Sie uns die direkte Frage stellen, was uns jetzt und in diesem Augenblick daran hindert! Trägheit? Scham? Misstrauen? Oder Skepsis? – Welches Gewicht haben solche Bedenken gegenüber den Gefahren, die uns in der nuklearen Aufrüstung, der Konfrontation der Ideologien und Machtblöcke, der Gewissenlosigkeit des Einzelnen und der ökologischen Katastrophe drohen?«

Er war aufgestanden und beugte sich über den Tisch. Eine tiefe Falte hatte sich an seinem Nasenbein gebildet, das schüttere Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Sein magerer Körper beschrieb einen Bögen, in dessen Hohlseite sich der Schlag des Herzens abzeichnete – oder war das nur Einbildung? Die aufgestützten Arme zitterten unter seinem Körpergewicht.

Ich ahnte plötzlich, was ihn in F.s Augen – und in denen seiner mutmaßlichen Hintermänner – vielleicht unerträglicher und gefährlicher erscheinen ließ als die Annahme, er sei ein Agent des Ostens:

Nicht vor der Radikalität der Bewegung, dem Komplott und dem Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit, in dem sie stand, fürchtete man sich; sondern davor, dass eine Welle des guten Willens das überkommene und wohlgeordnete Parteien- und Machtgefüge zu unwillkommenen Änderungen nötigen würde. Schon die kleinste Veränderung in diese Richtung fürchtete man, gleich welcher Art …

 

»Es kann darauf nur eine Antwort geben«, fuhr Kofler‘ fort, noch immer stehend.

»Setzen Sie sich wieder«, meinte Kruschinsky. »Wir sind alle ein wenig betrunken. Zu betrunken, um das jetzt zu klären. Aber wahrscheinlich haben Sie recht.«

Er drehte mir das Gesicht zu und tippte sich unauffällig an die Stirn. Dabei streifte er eine der beiden Flaschen mit dem Arm, sie fiel um und rollte über die Tischplatte. »Leer«, stellte er achselzuckend fest. »Beide leer.«

»Ich werde hinunterfahren und sehen, ob ich noch etwas auftreiben kann«, sagte ich.

»Ausgezeichnete Idee«, nickte Kofler.

Ich nahm meinen Mantel aus dem Schrank und ging zum Fahrstuhl. Ich hatte das Bedürfnis nach frischer Luft.

Niemand ist in der Lage, so zu schauspielern, dachte ich, während ich hinunterfuhr. Nicht mal der beste Schauspieler der Welt. Es sei denn, er hätte begonnen, seine Rolle zu leben.

Ich schaltete das Minutenlicht in der Tiefgarage ein, ehe ich die Tür öffnete. Es gab dafür im Fahrstuhl einen Extraschalter. Obwohl ich angeschlagen war, bemühte ich mich, so vorsichtig zu sein wie immer.

Erst als ich mich davon überzeugt hatte, dass niemand in den parkenden Wagen saß, betrat ich die Halle. Auf halbem Wege verlöschte das Licht. Nur die grüne Notausgangsbeleuchtung blieb an.

Draußen war es angenehm kühl. Ich sog die frische Luft ein. Die Schatten der Ruine am Ende des Hofs erreichten kurz meine Schuhspitzen, als ein Autoscheinwerfer das Gebäude aus der Parallelstraße anstrahlte, vermutlich kam er von der schrägen Zufahrt einer anderen Tiefgarage.

Vertrauen – war das nur ein Wort? Oder doch mehr? Hatte ich mich nicht längst auf seine Seite geschlagen? Überzeugte er mich nicht insgeheim? Irgend etwas war an seinen Reden, das mich beeindruckte.

Und trotzdem blieb es das lächerliche Gerede eines alten Mannes, der scheitern würde …

Ich ging durch die Einfahrt und dann ein Stück die Straße entlang. Als ich um die Ecke bog, stoppte dicht neben mir am Bordstein ein kleiner blauer Wagen.

Die Scheibe des Beifahrersitzes wurde heruntergekurbelt. Barbara beugte den Kopf hinüber und sah mich an.

»Sie?«, fragte ich.

»Na, ich bin nicht weniger überrascht. Was treiben Sie in dieser elenden Gegend? Wohnen Sie etwa hier?«

»In der Nähe, ja.«

»Wissen Sie, ich hab‘s mir überlegt, vielleicht sollten Sie mir doch erzählen, was Sie auf dem Herzen haben. Wir könnten uns übermorgen Abend treffen – um sieben an der U-Bahn-Station Zoologischer Garten?«

»Einverstanden«, nickte ich.

»Jetzt muss ich schleunigst weiter. Ach richtig … eh ich‘s vergesse, die Papiere! Ich habe Ihnen einige Kopien mitgebracht. Natürlich wird mein Vater fuchsteufelswild werden, wenn er davon erfährt. Aber ich denke, Sie werden es ihm nicht auf die Nase binden?«

»Warum sollte ich.«

Sie griff auf den Rücksitz und reichte mir einige Blätter. »Technischer Kram. Von Ihnen abgezeichnet. Sie müßten‘s ja ohnehin kennen. Deshalb kann es wohl kein Geheimnisverrat sein?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Na, jedenfalls hab‘ ich Ihnen den Gefallen getan – wenn ich auch nicht ganz begreife, was Sie damit im Schilde führen. Sie können‘s mir übermorgen erzählen. Dann alles Gute.«

Sie winkte kurz mit der Hand, kurbelte die Scheibe hinauf und startete. Ich sah den Rückleuchten des kleinen Wagens nach. Dann steckte ich die Papiere ein und ging die Straße entlang bis zur Trinkhalle. Doch sie hatte um diese Zeit nicht mehr geöffnet, das Gitter war heruntergelassen.

Ich besorgte die beiden Flaschen Wein in einer Kneipe, die ich von früher her kannte, sie lag zwei Straßenzüge weiter. Ich ließ mir eine Tragetasche geben, um sie nicht in der Hand halten zu müssen. Es war billiger Weißwein, aber er kostete so viel wie eine gute Auslese. In der Wohnung hielt ich die Kopien unter die Lampe und warf einen Blick auf ihre Signaturen; sie waren mit einem C abgezeichnet. Es sah meinem eigenen ähnlich – doch ich hatte die Papiere nie zuvor gesehen.

Wir leerten eine der beiden Flaschen, dann entschuldigte ich mich. Ich war hundemüde, und F. würde mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett holen, um mich mit Koflers Bewegung in Frankfurt und Bochum bekannt zu machen (Kruschinsky begann gerade, sich mürrisch darüber zu verbreiten, dass die Abteilung ihn nicht nur für die Bedienung und Wartung des L.D.A. einsetzte, sondern auch zum Kochen und Reinemachen; in nüchternem Kopf hatte er noch nichts davon verlauten lassen).

Ich war schon an der Zimmertür, als er mir nachkam.

»Der Kode in Ihrem Notizbuch«, begann er achselzuckend. »Leider ist er kniffliger, als ich angenommen hätte. Was halten Sie davon, wenn … ich meine: Kofler hatte doch einen Lehrstuhl für Kriminologie, oder? Natürlich weiß ich nicht, ob er sich damit befasst hat – aber es würde mich wirklich interessieren, welches System dahintersteckt.«

Er blickte mich so arglos aus seinen wasserhellen norddeutschen Augen an, dass mir keine passende Antwort darauf einfiel. Natürlich war es leichtsinnig. »Meinetwegen«, nickte ich. »Zeigen Sie ihm nur die beiden ersten Seiten, damit er nicht gleich den ganzen Zusammenhang erfährt.

Schließlich gehört er ja jetzt so gut wie zur Familie«, sagte ich, bevor ich die Tür schloss.

»Dann gute Nacht«, murmelte er mir nach.

Nachdem ich mich aufs Bett gesetzt hatte, sah ich mir die Papiere noch einmal genauer an. Meine Gedanken schweiften öfter ab und ich dachte mehr an F.s Reaktion auf das Ergebnis meiner Untersuchung und die Fahrt, als an das Notizbuch und die Signaturen. Ich musste mich zwingen, den Text zu verstehen.

Das eine Blatt war die kleingedruckte technische Beschreibung einer Art Schusswaffe (die Buchstaben flimmerten mir vor den Augen). Rohr und Griff ähnelten einer Panzerfaust. Ebenso die Handhabung. Man legte sich das Rohr über die Schulter. Der Rohrdurchmesser war jedoch kleiner als der einer Panzer-Abwehrwaffe. Auf dem Rohr befand sich ein Zielfernrohr. Zwei Zeichnungen illustrierten, wie das Gerät getragen und in Anschlag gebracht wurde. Irgendeine Neuheit nach Maschinengewehren, Granatwerfern, Geschützen, Handgranaten usw., für die das Militär in aller Welt täglich 1,3 Milliarden Mark ausgab, glaubte ich zunächst (ich hatte kein Verhältnis zu Waffen; wenn ich an Pysiks Schwarzpulverwaffe dachte, dann höchstens ein negatives).

Denn soviel kostete den Menschen seine Aggressivität allein im Rüstungsbereich, würde Kofler bemerkt haben. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckte ich, dass es sich kaum in die bekannten Waffenkategorien einordnen ließ: Es verschoss Gummibälle … Tennisartige Gummikugeln mit »extremweicher Hülle und federnd-hartem Kern«, wie es in der Beschreibung hieß. Ich wurde plötzlich hellwach und las den Text zweimal, um herauszufinden, wozu man Gummibälle mit »extrem weicher Hülle« verschoss.

Aber der Zweck war mysteriös; darüber wurde nichts gesagt. Man versicherte lediglich, dass ein Mensch, dem man damit in den Rücken schoss, keine Verwundung davontragen würde – von einer leichten Prellung abgesehen.

Als idealer Auftreffpunkt war der Wirbelsäulenansatz über der Hüfte angegeben. Wenn das Opfer ging, wurde es etwa drei Meter fünfzig in die Richtung seiner Schritte geworfen. Stand es, so waren es nur zwei bis zweieinhalb Meter. Der Zweck schien für Eingeweihte offenbar selbstverständlich zu sein. Um eine Polizeiwaffe für Straßenschlachten oder ausartende Demonstrationen handelte es sich wohl kaum, denn in einer Menschenmenge würde der Ball nach dem Aufprall unkontrolliert durch die Gegend hüpfen; außerdem war der Schlag auch nicht schmerzhaft genug.

Das andere Blatt schilderte die technischen Finessen einer »Eisspitzen-Pistole«, die mit Druckluft arbeitete: gefrorenes Gift wurde in den Körper des Opfers geschossen (etwa so, wie sich Klein Erna die Arbeit eines Geheimdienst-Killers vorstellte) – der winzige Einstich und Schmerz war dem einer Spritze vergleichbar.

Wenn die Eisnadel auftaute, was wegen der Körperwärme innerhalb weniger Sekunden geschah, begann das Mittel zu wirken. Im Gedränge einer Menschenansammlung oder bei schneller Bewegung – etwa während eines Trimmlaufs – wurde der Einstich unter Umständen gar nicht bemerkt. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass F.s Leute damit arbeiteten,

denn Gift ließ sich schließlich bei einer Obduktion nachweisen. Das Prinzip war seit langem bekannt. Lediglich die technische Ausführung wies einige Neuerungen und Feinheiten auf. Der »freiwillige« Sprung des Bulgaren von der Mauer in den Kugelhagel der Grenzsoldaten deutete eher darauf hin, dass F. auf derart plumpe Mittel verzichtete, weil er längst über geeignetere Methoden verfügte. Die Gummiball-Waffe dagegen war eine Neuheit für mich; allerdings blieb ihr genauer Zweck mir nach wie vor unklar.

Ich verglich die Signaturen ein zweites Mal. Dass ich die Papiere nicht unterzeichnet hatte, war sicher (was immer das bedeuten mochte – denn je länger ich darüber nachdachte, desto ungewisser schien mir, dass es überhaupt etwas Sicheres gab: womöglich war das, was ich unter dem Einfluss des Amphetons erlebte, die »wahre Realität«).

Ein C besteht gewöhnlich aus nicht viel mehr als einem Bogen – die Variationsmöglichkeiten sind nicht sehr groß. Es konnte sich durchaus um das C für »Chef« und nicht für »Cordes« handeln, die Übereinstimmung war dann bloß zufällig. Solche Zufälle sind geeignet, dem Verfolgungswahn, der die beinahe zwangsläufige Form des Gewerbes ist, ständig neue Nahrung zu geben: Man reimt sich aus Ahnungen und Andeutungen etwas zusammen (wohl auch aus dem, was man gesehen haben will); der christliche Glaube, wir hätten vor der Vertreibung aus dem Paradies »vom Baume der Erkenntnis« gegessen, entpuppt sich so als lächerliche Übertreibung.

Jedenfalls war es kein Beweis – allenfalls ein Hinweis, ein weiteres Indiz dafür, dass hinter der Chef-Geschichte mehr stecken konnte als nur das Gerede der Mädchen. Meine regulären Berichte unterschrieb ich mit vollem Namen.

Nachdem ich die Blätter in den Ascher gelegt hatte, der neben dem Bett auf der Konsole stand, zündete ich sie an und beobachtete, wie die bläuliche Flamme sich züngelnd in sie hineinfraß. Chemischer Geruch alten Kopierpapiers der ersten Generation stieg auf. In dieser Beziehung war die Organisation rückständig wie eine überalterte Firma:

Man investierte lieber in »Eisspitzen-Pistolen« als in neue Kopierautomaten.

Ich zerdrückte die Aschenreste mit dem Feuerzeug; dann drehte ich das Licht aus und legte mich auf die Seite.

Eine schwere Hand ergriff meine Schulter und rüttelte mich wach (aber irgend etwas – vermutlich das vertraute Ego – hatte wenig Bedürfnis, in die Wirklichkeit zurückzukehren).

»Schlafen Sie immer in Schuhen, Cordes …?«, erkundigte sich F.s dröhnende Stimme; seine wimpernlosen Augen waren dicht über mir (und sein Kehlkopf schien mitten in meinem Gehörgang zu sitzen).

Ich sah in das teigige, merkwürdig konturlose Gesicht und kam mir plötzlich vor wie ein Säugling, der hilflos im Wägelchen liegt und vor dem Anblick eines Fremden erschrickt – wie vor jemandem, der nicht Vater oder Mutter ist und der daher »böse« sein muss. Ja, es war die Physiognomie des Bösen. In der Beziehung würde es keine Überraschung mehr geben, das war mir schon lange klar. Keine Allegorie mit Hörnern und Pferdefuß, auch kein ausgehöhlter Totenschädel, sondern die leibhaftige Gestalt der Konturlosigkeit (denn das Gute ist entschieden und hat Profil, würde Kofler gesagt haben).

»Was, zum Teufel, ist los mit Ihnen?«, fragte er. »Warum starren Sie mich so an? … Haben Sie wieder dieses verdammte Zeug geschluckt?«

»Es ist bloß der Kater«, sagte ich und richtete mich auf.

Er hielt mir einen braunen Umschlag unter die Nase. »Schauen Sie sich das an. Es wird Ihre Kopfschmerzen noch verstärken«, meinte er ironisch.

»Was ist das?«

»Es sind Fotos, die unser Kurier aus Ost-Berlin herübergebracht hat. Sie wurden mit dem Teleobjektiv vom Dach eines Hochhauses in Budapest aufgenommen – drei Personen, durch ein Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes fotografiert: Kofler in einträchtigem Gespräch mit den Spitzen des Ostberliner Ministeriums für Staatssicherheit, Wholff und Achenbach … Wir haben lange auf diese Bilder gewartet«, erklärte er genüsslich lächelnd. »Unser Mann in Budapest musste leider für eine Weile untertauchen. Die Fahrt nach Frankfurt und Bochum dürfte sich unter diesen Umständen eigentlich erübrigen – aber ich schlag vor, dass Sie sich wenigstens die Bochumer ansehen – eine besonders radikale Gruppe –‚ damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, um weiche Sorte von linken Fanatikern es sich handelt.«

 

Ich nahm die Hochglanzfotos heraus und sah sie mir an. Sie waren makellos wie Studioaufnahmen, weder grobkörnig noch verschwommen oder mit zuviel Schattenpartien, und die beiden Männer, mit denen Kofler an einem Tisch nahe beim Fenster verhandelte, waren zweifellos Wholff und Achenbach. Es gab nur wenige Fotos von Wholff, und diese hier hatten geradezu das Format von Steckbrieffotos: Sie zeigten ihn von vorn und halbschräg von der Seite. Er trug die eckige schwarze Hornbrille, die wir seit Jahren an ihm kannten. Ich erinnerte mich auch, dass F. gelegentlich einen ungarischen Agenten erwähnt hatte, der entweder untergetaucht oder ins gegnerische Lager übergewechselt war.

»Dort in Budapest – aber fragen Sie mich nicht, weshalb gerade da: vielleicht ergab es sich so, vielleicht sahen sie es auch als sicherer an; jedenfalls war Kofler mehrmals in Ungarn – scheinen sie den Plan ausgeheckt zu haben.«

Ich zuckte die Achseln und schob die Bilder in den Umschlag zurück. F. setzte sich auf den Stuhl in der Ecke und beobachtete mich beim Waschen und Rasieren. Er saß steif und aufrecht da, mit gefalteten Händen (wenn sich unsere Blicke im Spiegel begegneten, wich ich ihm aus – so, als gehe mich das Ganze nichts an. Ich war sicher, welche Frage er als nächste stellen würde).

»Wie steht‘s mit Ihren Ermittlungen?«, erkundigte er sich nach einer Weile. »Schuldig – oder nicht?«

»Mit der neuen Lage muss ich mich erst vertraut machen«, sagte ich ausweichend. »Ich möchte niemanden in den Todschicken, für dessen Schuld zwar der äußere Anschein spricht, aber kein stringenter Beweis.«

»Stringenter Beweis, stringenter Beweis …«‚ wiederholte er abfällig. »Was ist das?«

»Es reicht keinesfalls für eine Verurteilung vor Gericht. Insofern stimme ich Ihnen zu.«

»Na also.«

»Und es rechtfertigt auch keinen Mord.« »Er hat Sie eingewickelt, habe ich recht?«

»Das würde ich nicht so sehen.«

»Sie werden uns doch diesmal keinen Ärger machen?«, fragte er.

»Ich erledige meine Arbeit – wie immer.«

»Das ist gut so«, nickte er. »Die Fotos sprechen eine deutliche Sprache. Ich glaube, Menschen gleichen Briefbomben: Man weiß erst, was in ihnen steckt, wenn sie bereits explodiert sind … Und die sogenannten stringenten Beweise – mein lieber Cordes, Sie sollten es als das nehmen, was es ist: eine Erfindung der Wissenschaftler und Philosophen, die ihnen ihre Art von Existenzberechtigung verschafft, weil niemand sonst ihre ‘Wahrheiten’ entziffern kann.

In der Praxis taugen sie jedenfalls so wenig wie logistische Kalküle für das Denken.

Wie gesagt, wir haben die Fotos! Hinzu kommen mehrere gewichtige Verdachtsmomente: Koflers Aufenthalt in Ost-Berlin, die möglicherweise durch ihn verratene Dissidentenliste, ein Fernsehinterview, das menschlich gesehen unter sehr bedenklichen Umständen zustande kam, seine angeblich versehentlich in den Westen geschleusten orthodox-marxistischen ‘Jugendansichten’ – und nicht zuletzt die Ankündigung des Leipziger Rings.

Im Übrigen arbeitet man seit langem daran, das Parteiengefüge in unserem Lande durch die Einschleusung geeigneter Persönlichkeiten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wir haben Agenten wegen geringerer Indizien ums Leben gebracht … Herrgott, Cordes, Sie haben sich ja geschnitten«, stellte er fest.

Ich sah in den Spiegel: Eine feine Blutspur lief über meine Wange. Das Rasiermesser in meiner Hand zitterte (ich hatte den Schmerz nicht bemerkt). Ich wischte das Blut und den Seifenschaum ab, zog mir das Hemd an, knöpfte es sehr langsam zu, wobei ich ihm in die Augen sah, und sagte:

»Die Mädchen in der Abteilung munkeln, ich sei der Chef …«

Kein Regung veränderte sein Gesicht. Ein derartig konturloses Gesicht bringt man nicht aus der Ruhe; es verändert sich nicht unter dem Eindruck lang erwarteter Fragen – nicht, wenn es sich entsprechend darauf vorbereitet hat. »Wer?«, fragte er.

»Die Mädchen.«

»Halten Sie für den Chef?« Er zupfte an seiner Unterlippe. »Warum sollten sie das? – Eine merkwürdige Vorstellung. Ich meine – dass man Sie für den Chef halten könnte!«, sagte er und lachte plötzlich dröhnend. »Na, ich werd‘s ihnen austreiben, falls Sie das beruhigt.«

»Nennen Sie mir irgendeinen Namen«, bat ich.

Er überlegte eine Weile. »Wozu?«, fragte er dann mit hochgezogenen Brauen.

»Aus blankem Interesse.«

»Sie meinen, wer den Westberliner Laden unter sich hat?«

Ich nickte.

»Ich dachte, das wüssten Sie?« (Es klang wie eine Frage, aber es war keine.)

»Nein, ich habe mich nie um die Hierarchie der Organisation gekümmert. Als Sie mich von der Straße holten, nahm ich den Job, den Sie mir anboten. Ich stellte keine Fragen – außerdem wissen Sie so gut wie ich, dass Fragen dieser Art nicht beantwortet werden. Die Oberen fürchten eher um ihren Kopf als das Fußvolk. Jeder kennt nur seinen nächsten Vorgesetzten – ein ausgezeichneter Nährboden für Gerüchte.«

»Nun, wenn Ihnen soviel daran liegt …«‚ erklärte er mit wegwerfender Handbewegung, »der Mann heißt Holt, und er läßt unserer Abteilung freie Hand; man kann nicht sagen, dass er sich viel um den Laden kümmert. Im Grunde arbeiten wir eigenverantwortlich – und Sie wissen selbstverständlich, dass ich es bin, der hier das Sagen hat. Man gibt lediglich Direktiven. Von den Drecksarbeiten will man nichts hören. Holt ist für uns eine Randfigur. So. unbedeutend wie die übrige Führungsspitze. Er schlägt sich mit anderen Problemen herum: Rechtfertigung gegenüber der Regierung, Information, Pressearbeit, Image, allgemeine Richtlinien, Beschaffung und Zuteilung des Etats, Ernennung von Gebietsleitern …«

»Und ernennt die Chefs der Abteilungen?«

»Gelegentlich, ja. Er kann sich nicht um alles kümmern.«

»Wer dann?«

»Herrgott noch mal, Cordes – Sie wollen doch wohl nicht, dass ich Sie über Details der Verfahrensweise informiere. Demnächst verlangen Sie noch Einblick in die Personalakten von mir … Holt ist eine Randfigur«, wiederholte er. »Und das ist gut so. Auf diese Weise richtet er keinen Schaden an. Man überlässt die schwierigen Aufgaben besser den Praktikern. In der Führungsspitze weiß man, wie heikel unsere Arbeit ist. Beantwortet das Ihre Fragen?«

»Zum Teil, ja.«

»Na fein. Mir liegt daran, klare Verhältnisse zu schaffen. Vertrauensverhältnisse. Holt ist eine Null. Ich schmeiße hier den Laden. Und jetzt ziehen Sie Ihre Jacke an, damit wir losfahren können.« Er fächelte sich mit dem Umschlag Wind zu, als sei er ins Schwitzen gekommen. Ich zog mich an, und wir fuhren hinunter in die Tiefgarage. Zwischen den Pfeilern parkte ein uralter schwarzer Opel. »Wenn nicht Kofler, wer dann?«, fragte er, während er sich hinters Steuer setzte. »Etwa Amrouche?«

»Es sollte kein Kriterium für einen Schuldspruch sein, dass uns der wirklich Verdächtige fehlt.«

Wir fuhren die Ausfahrt hinauf.

»Lassen Sie das gestelzte Gerede«, erwiderte er gereizt. »Vermeiden Sie alles, was nach Staatsanwalt klingt. Sie wissen, dass wir hier mit Instinkt und Gespür zu Werke gehen.

Der Mann ist schuldig. Man schleust ihn ein, weil er uns gefährlich werden kann – weil Persönlichkeiten wie er in der Lage sind, das Parteiengefüge auf den Kopf zu stellen.

Denken Sie nur daran, welche Folgen es haben könnte, wenn seine Bewegung bei den nächsten Wahlen eine koalitionsfähige Mehrheit erreicht – das Zünglein an der Waage, sie verstehen? Mit ihm als Galionsfigur keine ganz unrealistische Annahme. Jugendliche Heißsporne, Radikale an den Universitäten, marxistische Gruppen, Jungwähler – alle vereint unter dem Banner seiner verheißungsvollen Sprüche vom ‘Dritten Weg’.