Linders Liste

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4

Nun, die Frage nach meiner Kindheit beantwortet sich schnell.

Ich war das, was man ein helles Köpfchen nennt.

Man sagte mir eine große Zukunft voraus.

Ein Onkel, der Bruder meiner Mutter und mehr den kleinen Jungen zugetan als dem weiblichen Geschlecht, zog mich auf. Dieser menschenfreundlichen Ader verdanke ich meine sorglose Kindheit.

Er unterhielt eine Pension für Kriegsveteranen nicht weit von Nürnberg, neben einem grünen Rebenhügel, den niemand mehr bewirtschaftete. Diese unbelehrbaren alten Kriegstreiber genossen es, auf den Bänken unter den beiden großen Bäumen tagaus, tagein ihren Erinnerungen nachzugehen.

Sie trugen nachgeschneiderte, feldgraue Uniformjacken, manche aus dem Ersten Weltkrieg, und zeichneten gern mit ihren Spazierstöcken die Frontlagen diverser Schlachten oder Grenzen großzügiger Okkupationen in den Sand … so erfuhr ich aus ihren Reden schon sehr früh, dass Verbrechen und Gewalt die Welt regieren.

Jemand hob belehrend seinen Spazierstock und warf leichtfertig den Satz hin:

„Darüber sollte man schreiben – und nicht über die Geburtenfolge der Adelshäuser.“

– und diese Bemerkung könnte der Keim gewesen sein, der in meiner jungen Seele Wurzeln fasste und den Wunsch entstehen ließ, mich mit größter Hingabe jener Sparte der Literatur zu widmen, die das Verbrechen und nichts als das Verbrechen behandelt.

Mein Onkel stieg derweil den Knaben nach. Sobald eine Schulklasse im Dorfe eintraf, um aus irgendeinem botanischen Exkursionsdrang die umgebenden Wald- und Wiesenhügel zu erklimmen, geriet er außer Rand und Band. Ihre Ankunft versetzte ihn auf der Stelle in Schlaflosigkeit.

Aber ich habe nie unter seinen Gelüsten zu leiden gehabt, er hielt sich mit großem pädagogischen Durchhaltevermögen zurück. Eine wirkliche Bravurleistung! Vielleicht war ich auch einfach nicht sein Typ.

Meine Eltern hatten sich irgendwann in alle Winde zerstreut, ich glaube, weil etwas Zigeunerhaftes, ein periodisch wiederkehrendes Fernweh, sie antrieb, und da wäre ein Balg wie ich, der sich lieber mit zwei Handbüchern der Kriminalistik in die Stille der Rebhügel verdrückte, nur hinderlich gewesen.

Mein Vater, in jungen Jahren Versicherungskaufmann, litt schon sehr früh an Depressionen. Er behandelte sie, indem er stundenlang in eine helle Lampe starrte, die wie eine Höhensonne vor ihm stand – was seine Seele offenbar aufzuhellen und seinen Hormonstoffwechsel wieder in normale Bahnen zu lenken vermochte. Eine Vorwegnahme jener tropischen Sonne, die er später in fernen Gefilden fand. Sein Fernweh war also therapeutisch gesehen durchaus vertretbar.

Ich sah meine Eltern noch drei- oder viermal wieder in meinem Leben. Sie betrachteten meine Arbeit mit Wohlwollen. „Gelber Flachs“ muss ihnen gut gefallen haben, vor allen Dingen die Stelle, wo der Mörder Spekulationen darüber anstellt, in welchen Teilen der Welt er seine Autorentantiemen durchbringen könnte.

Aber von den perversen Neigungen meines Erziehers oder der fehlenden Fürsorglichkeit meiner Eltern Beziehungen herstellen zu wollen zu meinem eigenen sexuellen Steckenpferd erscheint mir doch etwas gewagt …

Zugegeben, Sie sind die Expertin, gnädige Frau …

Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang etwas gestehen, über das ich nur höchst ungern rede. Zumal einer Frau gegenüber, denn es dient sicher nicht dazu, mich in der Rolle des Bewerbers besonders attraktiv erscheinen zu lassen.

Gewöhnlich schreibt man Beschäftigungen wie mein Steckenpferd ja ausnahmslos dem Streben nach Lust zu:

Triebhaft den sexuellen Gefühlen verfallen gleich einer Ratte im Labor, der man Elektroden ins Lustzentrum des Gehirns gepflanzt hat und die nun eine Million mal am Tage den Hebel zieht, um einen stimulierenden Stromstoß auszulösen.

Aber vergessen Sie nicht, was ich über die Größe meiner Prostata gesagt habe. In gesundem Zustand gleicht sie einer Kastanie. Dagegen nimmt sich ein Golfball (ihr gegenwärtiges Format) fast wie ein Kürbiskopf neben einer Erdbeere aus.

Ich übertreibe …? Ja, zugegeben – aber genauso fühlt sie sich an.

Sie drückt auf die Blase, und das führt dazu, dass man tröpfelt, wenn man dicht bleiben will, und keinen einzigen Tropfen Harn lassen kann, wenn man‘s darauf anlegt.

Ahnen Sie, verehrte gnädige Frau, welches Mittel sich als verblüffend wirksam entpuppte, um mich ein paar Stunden von diesem grässlichen Leiden zu befreien?

Ganz recht, es war jene unschuldige Berührung in U-Bahnen und Bussen, in Straßenbahnen und Zügen, auf den Jahrmärkten und in vollen Kaufhäusern.

Irgendein geheimnisvoller psychologischer Mechanismus (womöglich die Allgegenwart der Liebe) bewirkte, dass sich meine Verkrampfungen lösten und ich mich wieder wie ein ganz normaler Mensch erleichtern konnte.

Erst viele Jahre später habe ich ein noch viel wirksameres und vor allen Dingen länger anhaltendes Mittel dagegen entdeckt … aber das tut hier nichts zur Sache.

Es ist wieder einmal meine fast schon zwanghafte Ehrlichkeit, die mich zwingt, so offen zu Ihnen zu sein.

5

Ein Kapitel aus meiner Jugend sollte nicht unerwähnt bleiben, denn es könnte dazu dienen, viel tieferen Einblick in die Seele des Schriftstellers und Dichters zu geben als jeder trockene biographische Bericht, jede bloße Aufzählung von Lebensdaten.

Lassen wir die entscheidenden Augenblicke selbst zu Worte kommen!

Eines Tages fand ich meinen Onkel erhängt im Walde.

Ich war auf dem Wege, mich mit einer zweibändigen Neuausgabe von Groß / Geerds „Handbuch der Kriminalistik“ ins Unterholz zu verdrücken (geradeso wie ein verliebtes Paar sich einen ruhigen Flecken sonnenbeschienenen Nadelbodens für sein Stelldichein sucht).

Er hatte eine stämmige Eiche für sein Vorhaben ausgewählt, einen oberschenkeldicken Ast, über den zwei flachsgelbe Seile von der Stärke meines Handgelenks geworfen waren (warum gleich zwei? Nun, ganz einfach: Bei den entscheidenden Dingen ging er gerne auf Nummer Sicher).

Mein Onkel hing da, wo der Wald tief und hoch und besonders dunkel ist …

Man erkannte kaum noch, dass er seinen besten Sonntagsanzug trug. In seinem Knopfloch steckte eine rote Rose, das Symbol der Liebe und der Liebenden.

Auf dem bemoosten Boden unter seinen sanft im Winde baumelnden Füßen lag ein zugeklebter Umschlag ohne Adresse. Sein Abschiedsbrief, kein Zweifel. Darin fand ich zu meinem nicht geringen Erstaunen ein Geständnis zu Papier gebracht, wie ich es dieser liebenden Seele selbst in meinen kühnsten Träumen niemals zugetraut hätte:

Der elfjährige Sohn seiner Hauswirtschafterin hatte es ihm angetan!

Mein Onkel verzehrte sich in unerwiderter Liebe zu ihm …

Ich entsinne mich noch deutlich jenes rotznäsigen, leicht schielenden Knaben, dessen Hosentaschen immer mit Glasmurmeln, Sicherheitsnadeln, schmutzigen Taschentüchern und Bindfaden angefüllt waren.

Er trug zwei Scheitel – zwei Scheitel, hochverehrte Frau Doktor, die auf jeder Seite seines Schädels wie fettige schwarze, in die Kopfhaut geschnittene Filzbahnen auseinander klafften.

Gewöhnlich gingen wir uns aus dem Wege, denn eine unüberwindliche Abneigung hinderte uns vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft daran, mehr als zwei oder drei Worte miteinander zu wechseln. Es war, als spüre jeder sofort die tiefe Verschiedenheit unserer Existenz.

Er brachte nicht mehr als ein Gestammel heraus, wenn er bei Tisch gefragt wurde. Meine Eloquenz dagegen war schon damals im ganzen Ort gerühmt.

Die alten Militaristen in der Pension nannten ihn nur den „tumben Ziegenjäger“, denn sein Zeitvertreib bestand hauptsächlich darin, mit rostigen Sicherheitsnadeln und langen Fäden irgendwelche trickreich ersonnenen Sicherheitsleinen zu konstruieren, die das arme Vieh daran hinderten, sich frei im Gelände zu bewegen. Mein Onkel wurde trotz dieses grausamen Hangs nie müde, seine Vorzüge zu preisen.

Das alles wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, hätte seine unerwiderte Liebe sich nur damit begnügt, ein Torso zu bleiben.

Aber sein verrückter Drang brachte ihn dazu, sich selbst wie eine Ziege im Gelände zu bewegen, auf dass er sich in den ausgelegten Stricken verfange und von dem seltsamen Knaben gefunden und befreit werde. Dann wollte er die Gelegenheit nutzen und, notfalls mit Gewalt, sein Recht auf körperliche Befriedigung einfordern.

Dieser Gedanke muss sich zur wahren Obsession ausgewachsen haben, unter der er mehr litt, als ein einziger Mensch ertragen kann.

Die eine Seite seines Wesens hinderte ihn mit dem Appell an seine Klugheit daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen, die andere beschwor ihn fast täglich, es doch wenigstens zu versuchen …

Wenig später siegte seine Rechtschaffenheit: Er nahm den nächsten Bus zur Stadt, arrangierte ein Stelldichein mit einer stadtbekannten Nürnberger Prostituierten und gedachte das als Auftakt zu einem Leben in der Heterosexualität zu betrachten.

Kein Anschleichen von ganzen Schulklassen betörend schöner Knaben mehr; keine durchwachten Nächte, in denen ihn unerfüllbare Wünsche plagten. Der Hauswirtschafterin und Mutter des „tumben Ziegenjägers“ hatte er noch am selben Tage per Eilboten die Kündigung geschickt: Aus den Augen, aus dem Sinn …

Als Expertin für solche Fragen ahnen Sie natürlich, in welchem Debakel sein Versuch endete.

Er versagte kläglich. Vermutlich war er weniger bei der Sache, als sich selber seine Männlichkeit zu beweisen.

 

Der Spott des Weibsbilds, ihr Hohn und Gelächter, trieb ihn in seiner Scham und anschließenden Raserei schließlich dazu, sie mit ihrem eigenen Strumpfhalter zu erwürgen, eines jener roten Spitzendinger, die in der Vorstellung mancher Frauen die Kerle zu sexuellen Höchstleistungen treiben können – und hier finden wir nun auch die Aufklärung jenes mysteriösen Verbrechens, das Nürnberg einige Wochen lang in Atem hielt und noch heute als ungelöster Fall in den Polizeiarchiven sein verstaubtes Aktendasein führt.

Da man die Veranlagung meines Onkels kannte, war er völlig unverdächtig.

Er benutzte die Hintertreppe zu einem stillgelegten Schlachthof. Das Mädchen, das mit dem Opfer in derselben Wohnung lebte, ahnte nicht, was nebenan vorging (über Freier pflegt man in diesem Gewerbe nur selten zu reden: so wenig wie der Kaufmann über potente Kunden, die Konkurrenz ist schließlich groß).

Sie kurierte ihren Kater nach einer durchzechten Nacht aus.

Ich habe mich nie dazu durchringen können, jenen Brief an die Behörden weiterzuleiten …

Als ich meinen Onkel so baumeln sah – mit wirren Haaren, die blaurote Zunge zwischen den Zähnen – fand ich, er sei genug bestraft und müsse nicht auch noch als Mörder in die Annalen unserer Familiengeschichte eingehen.

Doch in meiner jugendlichen Seele hinterließ dieser Einblick in die gegensätzlichen Kräfte der Psyche – das Spiel der abstrusen Gelüste, Einfälle und Widerstände – so viel nachhaltigen Eindruck, dass mich fortan nichts so sehr interessierte, wie mein Wissen durch weitere Einzelbeobachtungen zu vertiefen und ihr Ergebnis in literarisch gültiger Form zu Papier zu bringen.

6

Hochverehrte Frau Doktor! Eben hat mir mein Anwalt die neuesten Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in die Zelle gereicht.

Welch ein grandioser Justizirrtum zeichnet sich hier ab!

Nach seiner Überzeugung – er spricht es nicht so aus, aber man spürt es aus jedem seiner Winkelzüge wie den kalten Atem Sibiriens – sind Autoren, und erst recht die Vertreter meines Genres, zutiefst lügenhaft.

Es sei ein notwendiger Zug ihres Charakters, den Dingen immer eine unwahre Wendung zu geben. Schon das Bedürfnis, in anderer Leute Bluttaten herumzustochern und womöglich noch neue hinzuzuerfinden, spreche für ein rauschhaftes Erlebnis, eine uneingestandene Lust an der Gewalt. Ich glaube, er denkt, wir seien allesamt verhinderte Verbrecher und Mörder.

Welche makabre Lust könnte mich sonst dazu verleitet haben, ausgerechnet den Verleger Alexander Bernstein, jene wegen seines mutigen Eintretens für die Menschenrechte international angesehene Persönlichkeit, genau in jenem Moment aus der eisernen Deckengerüstkonstruktion des Speisesaales ins kalte Büfett stürzen zu lassen, als der Bürgermeister sein Sektglas zum Toast erhob?

Und welche Indizien führt er dafür an? Nichts weiter als die getreuliche Beschreibung seines Todes in meinem letzten, noch unveröffentlichten Roman …

Fanden sich auf Bernsteins goldenen Manschettenknöpfen etwa meine Fingerabdrücke? – Höchstens die seiner Sekretärin, denn am Abend in der Hotelbar hatte sie nichts anderes im Sinn, als ihm mit ihren langen, spitzen Fingern in den Ärmelausschnitt zu fahren (während die perlmutterfarbenen Nägel der anderen Hand seine behaarte Brust bearbeiteten). Hing zum Beispiel ein Schild an seinem Hals: Dies ist Linders erbarmungslose Rache für ein ungelesenes Romanmanuskript?

Oder hauchte er, ehe seine Seele endgültig entfleuchte, mit letzter Kraft meinen Namen in die Mayonnaise?

Nichts von alledem! Was verleitet diesen gemeingefährlichen Staatsbeamten, der in wenigen Monaten unbeschwert seine Pension genießen könnte, nur dazu, so gewagte Behauptungen aufzustellen?

Ich habe eine literarische Vorlage geliefert, nicht mehr.

Das Manuskript war in genau acht Exemplaren verbreitet, jeder Verleger bekam eines. Einer von ihnen vergaß es (gleichgültig und gewissenlos, wie diese Burschen nun einmal damit umgehen) auf dem Herrenpissoir – und so gelangte ein Exemplar in die Hände des Mörders.

Das habe ich nun wahrhaftig oft genug zu Protokoll gegeben.

Kehren wir lieber an die romantischen Ufer des Ottawa River zurück, wo ich mit Slauters lange Nächte darüber diskutierte, was es den Herren Kritikern (und hier in Frankfurt offenbar auch den Herren Staatsanwälten und Richtern) so leicht macht, eine x-beliebige dichterische Äußerung gleich als autobiographisch anzusehen. Es mangelt ihnen anscheinend an Phantasie. Und so finden sie den Ursprung jeder Beschreibung zwangsläufig in der Realität. Wir sind „Abschilderer“. Aus einer einzigen Erzählung kann man mit neunundneunzigprozentiger Gewissheit auf unseren (beklagenswerten) Charakter schließen.

Ich weiß schon, was Sie darauf erwidern werden:

Man hat Sie nicht beauftragt, die Schuldfrage zu klären, das ist ganz und gar Aufgabe dieser phantasielosen Stümper, sondern einzig und allein darüber zu entscheiden, wie es nach der entsetzlichen Bluttat – gleich sieben prominente Verleger während einer einzigen Buchmesse, und dazu noch alle im selben Hotel – wann hat es das schon einmal gegeben? – um meinen Verstand bestellt sei. Heilanstalt oder Gefängnis … ja, ja, ich weiß.

Gestatten Sie mir, dass ich trotzdem kein Blatt vor den Mund nehme?

Selbst auf die Gefahr hin, dass es mich belasten könnte:

Ein großer Verlust für die Literatur sind sie nicht. Ich habe alle persönlich gekannt und – zugegeben – wegen meiner Manuskripte mit ihnen in Verhandlungen gestanden. Was man so Verhandlungen nennt!

Es war eher ein Monolog. Alle diese an und für sich so umgänglichen, immer freundlich lächelnden Wesen aus dem Druckgewerbe haben eines gemeinsam:

Sie lesen nur noch, wenn es sich nicht mehr umgehen lässt.

Sie lesen Bilanzen, Programme konkurrierender Verlage, die Tageszeitung, die Speisekarte des Hotelrestaurants, die Liebesbriefe ihrer Sekretärinnen – nur ein unvergleichliches Meisterwerk wie „Linders Liste“ (der Titel jenes Manuskripts, das der Mörder als Gebrauchsanleitung benutzte) musste ihnen notwendigerweise verborgen bleiben, denn es umfasst zweihundertachtzig Seiten – zweihundertachtzig … lassen Sie sich die Zahl nur ruhig auf der Zunge zergehen! Dann werden Sie vielleicht ermessen können, wie viel Leseschwäche in einen Topf geworfen werden musste, um auch nur ein Drittel oder die Hälfte davon mit befriedigendem Abschluss an jene Stelle im Gehirn zu transportieren, die für das Verständnis zuständig ist.

Aber diagnostizieren Sie deswegen bitte nicht gleich meinen tiefen Hass auf die Verlegergemeinde.

Nein, bewahre, sie lässt mich völlig kalt. Soll sie in Frieden ruhen, verehrte Frau Doktor. Niemand wird ihrer Totenruhe etwas anhaben wollen.

7

Im Alter von neun Jahren betrat ich eine Buchhandlung und sah zum ersten Mal eines jener neumodischen Werke, die als Literatur bezeichnet werden. Ich habe viele Wochen meines Lebens damit vergeudet, mich von dem magischen Eindruck zu befreien, mit dem sie gewisse versponnene und ihrer selbst unsichere Geister in den Bann zu schlagen pflegt.

Das seltsame Treiben, dem diese armen Menschen frönen, nennt sich „Dichtung“.

Niemand weiß so recht, was es ist, aber es fluktuiert auf irgendeine Weise zwischen den Zeilen – in etwa vergleichbar den auf- und niederschwappenden Wellen an einer öligen Kaimauer – und ungefähr genauso sinnvoll …

Wie gesagt brauchte ich lange Zeit, um das Rätsel jener hohen Bücherstapel zu lösen. Sie sind weder zum Zwecke der Unterhaltung noch aus sonst einem ernst zu nehmenden Grunde abgefasst (außer der Eitelkeit des Autors und dem Opportunismus des Verlegers natürlich, der die zufällig herrschende Wertrangordnung so sehr verinnerlicht hat, dass er seine Ehrerbietung auch einer Rolle Toilettenpapier darbringen würde, wäre sie nur als literarisch bedeutsam im Gespräch).

Alles, was sie auszeichnet, ist eine gewisse Sprachartistik – sieht man von ihren nicht enden wollenden Wehen der Seele ab, die sich offenbar geniert, mit den Dingen der Welt zu intim zu werden, und unter diesem Eindruck ein fürchterlich feinsinniges Auf und Ab der Gefühle und Stimmungen veranstaltet – amüsant zwar, aber für nie mehr als acht bis zehn Seiten gut.

Wer isst schon unentwegt die gleiche Sorte Nachtisch?

Mein schicksalhafter Eintritt in die Welt der Literatur hätte mich fast vom wahren Wege abgebracht, wäre an dieser Stelle meines Lebens – wie von einem wohlmeinenden Gott platziert – nicht ein echter Verbrecher aufgetaucht.

Ich meine: keine bloß seinen Lüsten verfallene Vogelscheuche wie mein Onkel Adalbert.

Gnädige Frau! Es ist kein krimineller Hang, wenn ich ihn in den höchsten Tönen preise! Ein wahrer Mensch! Stark im Fleische und stark im Geiste. Vielleicht weniger stark in den Zehn Geboten.

Aber wozu wären diese Regeln erfunden worden, wenn nicht wenigstens ein Exemplar der Gattung sie zum Zwecke ihrer Demonstration ein- oder zweimal in seinem Leben nachdrücklich brechen dürfte?

Es kam in der Gestalt meines Stiefvaters Alois Tüller, den ein wohlmeinendes Schicksal auf die Bildfläche zauberte wie das Kaninchen aus dem Zylinder.

Welche Art von Verbrecher, fragen Sie? Ein Politiker … natürlich, was sonst …

Meine Mutter hatte sich irgendwo zwischen den Bayrischen Alpen und Mailand von ihm scheiden lassen – die übliche Schnapsidee, denn wegen seiner Sesshaftigkeit hielt sie es nur ganze drei Wochen mit ihm aus. Das veranlasste ihn immerhin, sofort eine tiefe erzieherische Verpflichtung zu verspüren und sich meiner anzunehmen.

Eines Tages stand er im Schwesternzimmer des schäbigen vierstöckigen Waisenhauses, in das man mich mangels anderer Möglichkeiten verbracht hatte, und seine ersten Worte an mich waren:

„Junge, du brauchst eine starke Hand. Jemanden, der dir zeigt, wie es zugeht in der Welt. Das Lotterleben ist vorbei.“

Damals begann eine harte Zeit für mich. Hart, an meinen eigenen unausgegorenen Wünschen und Vorstellungen gemessen, aber genau jener Eimer Wasser, der wie eine kalte Dusche wirkte und mir die letzten Flausen nahm. Ich war erst ganze zehn Jahre alt.

Dieser Fellow aus Braunau am Inn hatte sich eben zum Reichskanzler gemausert, und mein Stiefvater Alois schloss sein kleines Parteibüro in der Münchener Friedrichstraße, weil sein politischer Instinkt ihm sagte, dass der Braune es mit Drohungen, Überredung und Terror leicht bis zum totalitären Einparteienstaat bringen würde. Vielleicht, weil zwischen den beiden eine Art Wesensverwandtschaft herrschte, die es ihm erlaubte, viel klarer vorauszusehen, was passieren würde als dem Durchschnittsbürger.

Er sagte: „Der Bursche ist ein noch durchtriebenerer Gauner als ich, Samuel.“ (Untereinander sprachen wir immer ganz offen.) „Hat man jemals einen größeren Wegelagerer in der Weltgeschichte gesehen? – was für ein ‚Hinterpfotz’, was für ein grandioser Raubritter … !

Nach dem Studium von „Mein Kampf“ war er zu der Überzeugung gelangt, der fahnenschwingende Anfang und Auftakt läute zugleich das politische Ende des tausendjährigen Reichs ein, denn eine so große Hammelherde halte nie länger als bis zum nächsten Gewitter zusammen.

Daraus zog er den bemerkenswert prophetischen Schluss, dass bald schlechte Zeiten anbrechen würden – und so begann er mit dem Hamstern schon, als man gemeinhin noch an den Endsieg glaubte.

Er betrieb in seinem ehemaligen Parteibüro ein Leihhaus, wo man Schmuck, optische Geräte, Pelze und andere Wertsachen gegen ein zu verzinsendes Darlehen hinterlegen konnte. Meist war ihr Wert weitaus höher als der ausgezahlte Betrag. Also besaß mein Stiefvater ein verständliches Interesse, die Pfänder nicht wieder herauszurücken.

Unser Verhältnis war bald zu so vortrefflicher Arbeitsteilung gediehen, dass ich im langen, graublauen Kittel hinter der Theke stand, Pfänder schätzte und Pfandzettel ausschrieb, während mein Onkel sich bemühte, diese Quittungen („Ohne Pfandzettel keine Herausgabe des Pfands!“) auf allen nur erdenklichen illegalen Wegen wieder zu beschaffen. Sie müssen sich das bildlich vorstellen, gnä‘ Frau:

Ich, ein hübscher Knirps – noch ohne jeden Bauchansatz und verlängerte Stirn–, wie ein kleiner Gott, der über das Wohl und Wehe ganzer Familien entschied, hinter der Theke aus genageltem Eisenblech … und davor schwitzende, überschminkte, mit Schmuck behängte, in Pelze gekleidete Damen jenseits des besten Alters, denen die Peinlichkeit aus beiden Augen sah, weil sie mit dem Haushaltsgeld ihrer Ehegatten wieder einmal nicht zu Rande kamen.

 

Denn es waren selten arme Leute, die uns aufsuchten. In den gehobenen Kreisen ist Sparsamkeit ein erstes Anzeichen wirtschaftlichen Verfalls. Also lebte man gern über seine Verhältnisse.

Es kam zu jammervollen Szenen (und obszönen Angeboten, auf die ich hier nicht näher eingehen will), wenn ich, wie mir mein Stiefvater aufgetragen hatte, keinen Pfennig mehr als ein Viertel des echten Wertes herausrücken wollte. Manch eine der Damen warf dann ihren kostbaren Pelz auf den Boden, trampelte wutentbrannt darauf herum. Und einmal passierte es sogar, dass eine dabei ihr Pfand vergaß, eine kostbare goldene Taschenuhr mit eingelegten Silberornamenten – und niemals wiederkam … Ich hebe sie noch heute im Schreibsekretär meines Hauses drüben am Ottawa River auf, obwohl ihre Feder längst gebrochen ist.

Mein Stiefvater ging derweil seiner eigenen Arbeit nach: Er verfolgte sein Opfer, das eben die Pfandleihanstalt verlassen hatte, bis zur Tram, zum Zug oder ins Gedränge des Marktes und wartete dort den günstigsten Moment ab, an dem er sich des Pfandscheins bemächtigen konnte.

Er entwickelte in diese Tätigkeit bemerkenswertes Fingerspitzengefühl.

Einmal demonstrierte er mir, dass es möglich sei, ein Stück Papier aus der Innentasche eines Jacketts oder Mantels zu ziehen und dabei gleichzeitig mit der anderen Hand das Portemonnaie des Opfers von der rechten Außentasche in die linke zu manövrieren.

Ein rechter Jongleur, dieser Alois Tüller. Ich denke noch heute mit großer Bewunderung an seine Kunststücke zurück, wenn sie sich auch etwas außerhalb der Legalität bewegten. Mein am häufigsten ausgesprochener Kommentar hinter der Theke war denn auch:

„Keine Rückgabe ohne Pfandzettel …!“

Und zum Beweis legte ich dann immer ein Blankoformular des Pfandscheins vor, auf dem diese Bedingung deutlich und in gesperrter Schrift hervorgehoben war.

Fasst man alles zusammen, hochverehrte Frau Doktor – die Betrugsmanöver meines Stiefvaters, den Mord und Selbstmord meines Onkels, die Kriegsverbrecher in seiner Veteranenpension –‚ so sieht man doch, dass ich schon sehr früh mit den wahren Realitäten des Lebens konfrontiert wurde – dass mein Blick geschärft wurde für das, was die Welt im Innersten zusammenhält; die Gier nach Besitz, nach Macht und Ansehen, nach Rache …

In meiner jugendlichen Seele jedenfalls sind dies die Fixpunkte, die großen Beispiele, denen sich später noch zahllose kleinere zur Bestätigung beigesellten.

Ich wurde nicht etwa selbst zum Verbrecher, sondern beschloss stattdessen, die Holzwege des menschlichen Lebens zu beschreiben. Die Katastrophen und Endpunkte. Die Sackgassen. Ein ehrenwertes Anliegen, wie Sie mir zugestehen werden. Weitaus ehrenwerter jedenfalls als der „Zehnfache Mord im Orientexpress“ oder irgendeine andere, bloß aus den Fingern gesogene kriminelle Abstrusität.

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