Roulett

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Peter Schmidt

Roulett

Thriller

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Inhaltsverzeichnis

Titel

ZUM BUCH

PRESSESTIMMEN

ÜBER DEN AUTOR

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WEITERE TITEL

Impressum neobooks

ZUM BUCH

Leo Wunsch ist „hauptberuflich“ als kleiner Gauner unterwegs. Eines seiner erfolgreichsten Projekte: Er lanciert Küchenschaben im Auftrage von Restaurantbesitzern in die Büfetts der kulinarischen Mitbewerber, denen dann – wen wundert's? – die Kunden weglaufen ...

Doch die Konkurrenz schläft nicht und setzt ihrerseits Detektive der Agentur „Pro-Pro“ auf Leo an. Während seiner Flucht durch Europa trifft er in einem verlassenen Badeort an der italienischen Riviera auf Ernie P. Cord, einen wahren Großmeister des Verbrechens:

"Irgendein verwinkeltes Dorf mit grauem Sandstrand und vielen Tordurchgängen. Die Tage waren bedrohlich düster, mit nervös schreienden Möwen auf den Schiffsmasten, und das Meer schlug so hart gegen die Kaimauern am kleinen Hafen, als lauere es darauf, in einem unbeobachteten Augenblick den ganzen Küstenstreifen zu verschlingen".

Ernie wird sein Lehrmeister – und entpuppt sich dabei gleich noch als eine Art Philosoph der Amoralität ...

Eine witzige – und fast schon könnte man sagen "existenzphilosophische“ – Gaunerkomödie über die (unmögliche?) moralische Rechtfertigung des Verbrechens, wie man sie auf diesem Niveau in Deutschland höchst selten antrifft …

Überarbeitete Neuauflage der gedruckten Fassung im Rowohlt Verlag, Reinbek

Copyright © 2013 Peter Schmidt

PRESSESTIMMEN

"Eine irre Gaunerstory... Pfiffigkeit, Pep, schreiberischer Elan"

(Westdeutsche Allgemeine Zeitung)

"Roulett ist eine Kriminalkomödie der feinen Art. Dass dabei die Spannung nicht auf der Strecke bleibt, ist Beleg für des Autors Niveau"

(Hamburger Abendblatt)

„Schmidt, dem attestiert wird, dass er nicht nur den deutschen Politthriller par excellence schreibt, sondern in dieser Form auch bewiesen hat, dass deutsche Autoren dazu fähig sind und die Konkurrenz der angloamerikanischen Kolleginnen nicht zu scheuen brauchen, legt mit seinem neuesten Krimi ‚Roulett’ eine köstliche Kriminalgroteske vor.“

(Thomas Przybilka, Krimikritiker)

––––––––––––––––––––––

WIKIPEDIA:

„Mit seinen doppelbödigen und hintergründigen Kriminalkomödien (Linders Liste 1988, Roulette 1992, Schwarzer Freitag 1993) vertritt Schmidt darüber hinaus ein ganz eigenes Genre des literarischen Kriminalromans, in dem Ironie, philosophische Reflexion und satirische Betrachtungsweisen menschlicher Schwächen dominieren.“

ÜBER DEN AUTOR


Peter Schmidt, geboren im westfälischen Gescher, Schriftsteller und Philosoph, gilt selbst dem Altmeister des Spionagethrillers, John le Carré, als einer der führenden deutschen Autoren des Spionageromans und Politthrillers. Darüber hinaus veröffentlichte er zahlreiche Kriminalkomödien – oft der schwärzesten Art –, aber auch Medizinthriller (zuletzt „Endorphase-X“), Wissenschaftsthriller, Psychothriller und Detektivromane.

1986 erhielt er den Deutschen Krimipreis für „Erfindergeist“; 1987 für „Die Stunde des Geschichtenerzählers“ und 1991 für „Das Veteranentreffen“. Im Jahr 1994 wurde er mit dem Literaturpreis Ruhr für das bisherige Gesamtwerk ausgezeichnet.

Schmidt studierte Literaturwissenschaft und sprachanalytische und phänomenologische Philosophie mit Schwerpunkt psychologische Grundlagentheorie an der Ruhr-Universität Bochum und veröffentlichte rund 40 Bücher, darunter auch Sachbücher.

AUTORENINFO

http://autoren-info-peter-schmidt.blogspot.de/

1

Es ist ein hartes Universum

Der soziale Anstrich lässt es

mild erscheinen. Aber nur

die Tiger überleben.

ERNI P. CORD

Ich traf Ernie P. Cord Anfang April in einem verlassenen Badeort an der italienischen Riviera, irgendein verwinkeltes Dorf mit grauem Sandstrand und vielen Tordurchgängen.

Die Tage waren bedrohlich düster, mit nervös schreienden Möwen auf den Schiffsmasten, und das Meer schlug so hart gegen die Kaimauern am kleinen Hafen, als lauere es darauf, in einem unbeobachteten Augenblick den ganzen Küstenstreifen zu verschlingen …

Damals war ich ein hagerer Jüngling mit dunklen Ringen unter den Augen und wohl kein allzu erfreulicher Anblick für meine Umwelt.

Ich schwitzte leicht, die Innenflächen meiner Hände waren immer feucht. Meine Brillengläser gaben hervorragende Lupen ab und ließen meine Pupillen so furchteinflößend dreinblicken wie die eines ausgewachsenen Ochsenfroschs. Aber was noch schwerer wog: Ich hatte Angst vor Frauen.

Wenn ich so bereitwillig von meinen Schwächen rede, dann nicht, weil mir beim Essen die Gabel aus der Hand fiel. Ich denke dabei eher an die geschäftlichen Seiten des Lebens: an jene Zeitgenossen, die in meinem Alter längst zu ein paar griechischen Öltankern, zwei oder drei Hotelketten, Ruhm und schönen Frauen gelangt waren, während ich immer noch meinen bescheidenen Geschäften nachging.

Das alles gehört jetzt der Vergangenheit an. Ernie P. Cord hat mich von all diesen Schwächen geheilt. Ja mehr noch, er hat mich in einen jungen Gott verwandelt, in das Ebenbild einer männlichen Aphrodite, ein Vorbild für die Modeschöpfer, das sie mit ihren neuesten Kreationen behängen, um damit anzugeben und einen guten Schnitt zu machen.

P. stand für "Perl", ein merkwürdiger Vorname, zugegeben. Ich habe nie in Erfahrung bringen können, wie Ernie an diesen Namen gelangt war. Aber das schien nur eines der kleineren Rätsel zu sein, die sich um seine Person rankten – so mitteilsam er sich auch immer zeigte, zu allen Tages- und Nachtzeiten bereit, jeden, den es danach verlangte, an seinem unerschöpflichen Wissen teilhaben zu lassen.

Es gab einige dunkle Stellen in seiner Biographie, und selbst der römische Generalstaatsanwalt hätte sich schon mächtig ins Zeug legen müssen, um Ernie darüber mehr als ein paar einsilbige Kommentare zu entlocken.

Als ich ihn zum ersten Mal sah, saß er im Speisesaal des Salerno und löffelte Suppe "a la Chefkoch".

Ich war lange genug im Hotel, um zu wissen, dass die Küche gar keinen Chefkoch besaß. Während dieser Jahreszeit kochte Mama höchstpersönlich. "Mama", dieses unnachahmlich lärmende Monstrum von einhundert Kilo Lebendgewicht mit den Oberarmen eines Ringkämpfers, deren hervorstechendste Charaktereigenschaft ihre übergroße Sparsamkeit war.

Kein Tag verging, an dem nicht das Hauptgericht vom Vortag in verwandelter Form – überbacken, zum Auflauf oder zur Pastete verarbeitet, in Soße oder auf andere Weise eingefärbt – als neue Kreation ihrer mediterranen Kochkunst über die Teller wanderte.

 

Aber im Großen und Ganzen machte sie es doch recht anständig. Die Italiener haben eine zu lange Esskultur, als dass sie es fertigbrächten, einen völlig vor den Kopf zu stoßen.

Cord war ein hagerer Mann in den Fünfzigern mit kurz geschnittenem grauem Haar, das vorteilhaft seine markante Kopfform zur Geltung brachte. Wenn die Situation es nicht anders erforderte, trug er ausschließlich Anzüge, meist hellgraue Maßanzüge aus bestem Tuch.

Er sagte mir später, er habe herausgefunden, das Äußere eines Menschen sei wichtiger als seine inneren Werte, allen gegenteiligen Bekundungen zum Trotz.

Am besten kleide man sich so, als wenn man den höchsten Ansprüchen gerecht zu werden habe: der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes oder einer Audienz beim Papst.

Die Signale, die von der Kleidung ausgingen, seien vielleicht unbewusst, aber genauso unentbehrlich und aufbauend für das eigene Selbstbewusstsein wie eine fachkundig verordnete Kur oder Medizin.

"Der Mensch ist nun mal hauptsächlich schnöde Fassade, Leo", sagte er während eines Essens. "Ein Sack voller Abfälle. Denken Sie nur an seinen Darminhalt oder seine Verdauungssäfte.

Aber wenn man ihn in die passenden Kleider steckt und ihm Rhetorik und Manieren beibringt, sieht er ganz passabel aus."

Das Klatschen der kleinen Saugpfeile gegen die Scheiben des Oberlichts im Speisesaal, die Amarillo draußen vom Flachdach aus verschoss, schien ihn nicht im geringsten aus der Ruhe bringen, während mich jeder Schuss zu einer nervösen Kopfbewegung veranlasste.

Amarillo (bis dahin dachte ich immer, so hießen nur italienische Liköre) war Mamas neunjähriger Sohn. In einem Alter, wo andere nicht einmal daran denken, Skinheads zu werden, hatte er sich die Haare bis auf einen hochstehenden Irokesenkamm abschneiden lassen und verkündet, er werde fortan auf den Flachdächern des Hotels als Indianer leben. Er weigerte sich strikt, seinen Hochsitz zu verlassen und in die Schule zu gehen.

Seine Schwester Madonna brachte ihm heimlich das Essen hinauf: deftige kalifornische Prärie-McDonald's, jede andere Nahrung lehnte er als tapfere Rothaut ab.

Nur einmal war es Ernie gelungen, ihn für zehn Minuten zu Friedensverhandlungen in den Innenhof zu locken. Das Treffen endete mit einer Art eingeschränktem Waffenstillstand: Amarillos Saugpfeile würden künftig nur noch Scheiben und Tauben, aber nicht mehr Hotelgäste treffen – ein Kompromiss, den bis dahin nicht einmal seine beiden senilen alten Lehrer für möglich gehalten hatten.

Ich war mehr als fasziniert von Ernie! Und versuchte herauszufinden, ob er mir gefährlich werden konnte …

Er schien mich während des Essens – einer wahren Orgie aus kleinen Gängen und Zwischeneinlagen mit Espressos, Obststücken und hausgemachten Pralinen, die er Mama gegen großzügige Extrabezahlung abgerungen hatte – kein einziges Mal anzublicken. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mich beobachtete.

Der dritte Mann war erst am späten Nachmittag eingetroffen.

Er saß im äußersten Winkel der Hotelhalle, mir und Cord genau gegenüber. Hätte jemand zwischen unseren Stühlen Linien gezogen, würden sie ein gleichschenkliges Dreieck gebildet haben – und tatsächlich war es, als gäbe es zwischen uns geheime Bande. Ich hatte in den vergangenen Monaten sechsmal das Hotel gewechselt.

Mag sein, dass ich etwas überreizt war, was die Kulisse von Hotelhallen und Speisesälen anbelangte.

Seine Haltung ähnelte der eines überall verhassten Steuerbeamten oder Gerichtsvollziehers. Seinem ständig bewegten Blick entging nichts. Weder der abbröckelnde Lack der Stühle noch das zusammengewürfelte Geschirr und Porzellan.

Jemand, der eine große leere Reisetasche besaß, musste es aus den verschiedensten Etablissements an der italienischen Mittelmeerküste zusammengetragen haben.

Er sah die dünnen, rosafarbenen Vorhänge, durch die das Licht der untergehenden Sonne fiel, und bedachte sie (die Schäbigkeit der Vorhänge) mit höhnischem Lächeln. Er registrierte das Klingeln der alten Ladenkasse in der Vorhalle bei jeder Bestellung, die nicht im Menüpreis enthalten war – und seiner Miene nach zu urteilen war es ein weiteres schlagendes Indiz für die Perversionen des menschlichen Geschäftssinns.

Nur mich schien er – anders als Cord – für Luft zu halten. Cord nahm mich auf eine schon geradezu aufdringliche Weise nicht wahr, indem sein Blick gegen jede Wahrscheinlichkeit immer genau im entgegengesetzten Winkel des Speisesaals weilte. Er dagegen blickte auf seltsam abwesende Weise durch mich hindurch.

Als wir uns irgendwann zwischen Mamas Gängen am Pinkelbecken begegneten, sagte Ernie:

"Sie sind doch Kakerlaken-Leo, hab ich recht? Der mit der Dressurnummer?" Dabei warf er einen vorsichtigen Blick nach hinten und flüsterte mir zu: "Das da draußen ist ein Detektiv der Agentur Pro-Pro. Doppelt Pro, Sie wissen schon. Nehmen Sie sich in acht vor ihm."

"Kakerlaken-Leo ... was für ein Name! Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden."

"Der Bursche mit dem Wanderzirkus."

"Auch nicht die feine Art, jemandem einen so diskriminierenden Spitznamen zu verpassen."

"Aber Ihr Vorname ist doch Leo, oder?"

"Ich ... nein ..."

"Sie sollten Ihre Nase begradigen lassen, Leo. Frauen mögen keine Hakennasen."

"Ich glaube, das geht Sie einen feuchten Dreck an."

"Aber Leo. Sind Sie nun ein Gentleman oder nicht? Nie die Kontenance verlieren. Immer über den Dingen stehen. Wer angreift, offenbart nur, dass er verletzt oder getroffen ist. Den Gegner mit einem Lächeln entwaffnen – ungefähr so."

Er entblößte seine strahlend weißen Zähne, ein Gebiss wie aus dem Schaukasten der Zahntechniker.

Mit diesem Ratschlag fing alles an. Ernie wurde zum Arzt, Beichtvater, Lehrer und Freund für mich; er rutschte wie selbstverständlich in seine Rolle als Lehrmeister. Vielleicht, weil er schon als Guru oder Medizinmann auf die Welt gekommen war. Oder weil auf seinen Genen der Fluch lastete, die menschliche Evolution voranzutreiben; falls dieses Wort bei seinem aufs Höchste verfeinerten Gaunertums überhaupt am Platze ist.

Und das Verblüffendste daran: Ernie war in jeder Rolle gleich vollkommen, er füllte sie immer perfekt aus.

Er wurde, ohne dass wir deswegen irgendeinen Vertrag geschlossen oder unsere Absicht auch nur per Handschlag besiegelt hätten, zum größten Lehrmeister für mich, den die Weltgeschichte je gesehen hat, Buddha oder Jesus Christus eingeschlossen. Und glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.

"Lassen Sie mal Ihre Krabbeltierchen laufen", meinte er und zeigte in den Speisesaal.

Ich sagte mir, dass ich den Teufel tun würde. Aber als ich an meinen Platz zurückgekehrt war, sah ich diesen verhinderten Pinkertondetektiv in meiner Umhängetasche wühlen.

Es war eine brasilianische Büffelledertasche mit zwei Geheimfächern, die ein unachtsamer Spaziergänger auf den Champs-Elysées verloren hatte, und er bemühte sich vergeblich, an den Inhalt der Geheimfächer zu gelangen, obwohl seine Fingerspitzen ihn schon durch das Leder ertastet hatten.

Die beiden Wülste seines grauen Backenbarts standen ab wie Hundeschwänze, als wenn sie gleich vor Freude wedeln würden. Ein Zeichen dafür, dass sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete, falls die Gehirne dieser Lohn-Kretins von Pro-Pro überhaupt in eine schnellere Gangart schalten können. Dann richtet er sich auf und sah mich vor sich stehen. Sein Blick wanderte ratlos zurück auf meine polierten Schuhspitzen.

"Sie sind ein mieser kleiner Gauner, Leo", sagte er verlegen. "Die Agentur hat Sie durch ganz Europa gejagt, und eines Tages werden wir Sie auch zur Strecke bringen. Das ist nur noch eine Frage der Zeit."

"Was werfen Sie mir denn vor?", fragte ich mit arglosem Augenaufschlag. "Dass ich Ihre Schwiegermutter vergewaltigt habe?"

"Sie ..." Er streckte seine Hand nach meinem Hals aus, als wolle er mit den Fingerspitzen meinen Adamsapfel durchbohren, eine feiste, feuchte Hand voller kleiner Muttermale und am Handgelenk so dicht behaart wie eine Affenpfote. Ihre Haut war heller als die eines Albinos, ganz im Unterschied zu seinem Gesicht, das eine eher dunkelbraune Färbung hatte. Auf dem Tisch neben seinem Teller lagen weiße Handschuhe, vielleicht weil er an einer ansteckenden Hautkrankheit litt.

Dann hielt er plötzlich meine Brille in der Hand. Es war ihm gelungen, den dünnen Drahtbügel zu erwischen, obwohl ich blitzschnell meinen Kopf weggedreht hatte. Er wusste, dass ich ohne Augengläser hilflos war.

"Na, wo haben wir denn unsere kleinen Fensterchen zur Welt?“, fragte er. Seine Stimme bekam einen drohenden Unterton, als ich ein, zwei unsichere Schritte nach vorn machte. "Bleiben Sie, wo Sie sind, Leo!" Etwas Dunkles, wahrscheinlich seine Faust, fuchtelte vor meinen Augen herum. "Und nun her mit dem Pass."

"Wozu?“, fragte ich.

"Um mal einen Blick hineinzuwerfen. Ich glaube, dass Sie hier unter falschem Namen abgestiegen sind. In der Anmeldung steht Jakob Siedler, aber Ihr richtiger Name dürfte Leo Wunsch sein."

"Ist das der Kerl, den Sie suchen?"

"In einschlägigen Kreisen auch Kakerlaken-Leo genannt."

"Und wie ist der arme Bursche zu diesem schäbigen Spitznamen gekommen?"

"Das wissen Sie doch selbst am besten, Leo, verdammt noch mal – weil Sie wieder mit Ihrem Wanderzirkus auf Tournee sind."

"Sie meinen Kakerlaken, wenn ich das richtig verstehe? Ordinäre braune Küchenschaben? Hab noch nie gehört, dass es jemandem gelungen ist, Ungeziefer zu dressieren."

"Ihnen, Leo", erklärte er im Brustton der Überzeugung. "Sie haben das Kunststück fertiggebracht, die Viecher nach Ihrer Pfeife tanzen zu lassen." Er gab ein Geräusch von sich, das seinen abgrundtiefen Ekel ausdrücken sollte; aber es klang eher, als wenn seine Bronchien zu pfeifen versuchten. "Also geben Sie schon her, das verdammte Ding." Irgend etwas stieß mir unsanft gegen die Brust. Seine Faust, nahm ich an. Ich sah wirklich nicht die Hand vor Augen. Meine Sehnerven brauchten immer erst ein paar Minuten, um ohne Gläser zurechtzukommen.

"Mein Pass liegt oben auf dem Zimmer."

Er legte mir seine schwere behaarte Affenhand auf die Schulter. "Dann gehen Sie voraus ... da entlang. Und keine Fisimatenten, verstanden?"

"Was Sie hier mit mir treiben, ist glatte Freiheitsberaubung."

"Gehen, hab ich gesagt."

"Sie müssen mich führen. Ich kann nichts sehen. Oder geben Sie mir meine Brille wieder."

"Das haben Sie sich so gedacht, was?" Ich bekam einen Stoß in den Rücken.

"Immer sachte ..."

"Mich legen Sie nicht herein, Wunsch." Er lachte verhalten. "Sie haben die halbe Agentur an der Nase herumgeführt. Bei mir sind Sie an den Falschen geraten."

Ich wusste nicht, ob Ernie uns zusah, wie er mich nach oben brachte. Ich hätte nicht mal sagen können, ob er wieder an seinem Tisch saß. Ich stolperte die dunkle Treppe zum ersten Stock hinauf.

Aus der Küche hörte ich Mama singen – vielleicht, weil sie eine neue Einfärbmethode für ihre Soßen von vorgestern gefunden hatte; sie sang ihre Arien immer eine Tonlage zu hoch –, und als wir am Treppenabsatz waren und ein wenig kalte Aprilsonne auf mein Gesicht fiel, hatten sich meine Augen so weit an den Zustand gewöhnt, dass ich wieder Schatten und Umrisse wahrnahm. Irgendwo da draußen im Innenhof saß Madonna und machte ihre Schulaufgaben.

Ich nannte sie Madonna, weil mich ihr glattes junges Mädchengesicht an die Marienbilder in der Kirche erinnerte. Ihr wirklicher Name war Francesca. Sie saß immer dort um diese Zeit, den kurzen schwarzen Rock so weit hochgeschoben, dass man ihre formvollendeten kakaobraunen Schenkel sah. Ein Anblick, der die Männer wahnsinnig machte.

Diesmal sah ich nicht mehr als die unbelaubte Krone des Baumes, ein schwarzes Geflimmer.

"Was ist los, Leo? Sie zittern ja am ganzen Körper. Weiter, weiter ..."

Vor Leidenschaft, dachte ich. "Sitzt Francesca unten im Hof?"

"Ja, sie macht ihre Schulaufgaben. Sie hat ein halbes Dutzend blauer Hefte um sich ausgebreitet."

"Bitte geben Sie mir meine Brille." Ich streckte meine Hand in die Richtung aus, wo ich seinen verschwommenen Schatten vermutete.

"Wozu?"

"Ich möchte sie sehen."

"Francesca? Sie sind ein Witzbold."

"Bitte, es ist wichtig."

"Tatsächlich? Um so besser. Ihre Schenkel sehen heute wieder mal alabasterweißer aus denn je", schwärmte er. "Ein unglaublicher Anblick. Aber Sie sollen schmoren, bis Sie in der Hölle sind, Leo. Ich werde Ihre Brille zertreten, dann ist Francesca aus Ihrem Leben verschwunden. Jedenfalls, bis Sie in diesem verlassenen Kaff einen Optiker gefunden haben."

 

"Unsinn, ihre Schenkel sind kakaobraun."

"So, glauben Sie? Hm, mag sein … Das kann man aus dieser Entfernung nicht so genau erkennen."

"Also gut, mein Pass ist unter der Wäsche im Schrank. Zweites Fach von oben. Da finden Sie auch eine Liste aller falschen Namen, die ich in den letzten Monaten benutzt habe."

"Na also, warum nicht gleich so? Geben Sie mir den Zimmerschlüssel."

"Passen Sie auf meine Sammlung auf. Es sind ein paar unersetzliche Unikate darunter."

"Meine Sammlung ... ich werde dafür sorgen, dass alles an die rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wird. Ihre Karriere als Dieb ist beendet."

Sie fängt jetzt erst an, dachte ich. Ich bin dreiundzwanzig und nicht mal in dem Alter, wo man die entscheidenden Weichen stellt. Das Alter, in dem die meisten Menschen den Grundstein für ihr späteres Leben legen, ist achtundzwanzig. Dann hat man genug Erfahrung, um die Tragweite seiner Entscheidungen abzuschätzen. (Ich konnte nicht ahnen, dass Ernie mir diese Last fünf Jahre vor der Zeit abnehmen würde.)