Friedrich Wilhelm von Luedersdorff (Band 1)

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Johann Heinrich Leberecht Pistorius, seine Familienverhältnisse und zur Stadtgeschichte von Loburg

Johann Heinrich Leberecht Pistorius wurde am 21. Februar 1777 in Loburg, einer kleinen Stadt etwa 33 km östlich von Magdeburg gelegen, als jüngstes Kind des Christian Gottlieb Ludwig Pistorius geboren.15)

Die heutige Stadt Loburg geht zurück auf eine Burg gleichen Namens mit angrenzenden Siedlungen, die bereits im Jahre 965 in einer Schenkungsurkunde Ottos I. an das Moritzkloster in Magdeburg erstmals urkundlich erwähnt wurde. Die Burg Loburg, zeitweise als Amtssitz genutzt, verfiel im 16. und 17. Jahrhundert bis sie schließlich Anfang des 17. Jahrhunderts als unbewohnbar aufgegeben werden musste. Im 18. Jahrhundert entschloss man sich schließlich zu umfangreichen Instandsetzungsarbeiten und errichtete die meisten der noch heute erhaltenen Gebäude. Dazu zählten ein über einem alten Keller errichtetes neues Amtsgebäude und ein Torhaus. Nur wenige ursprüngliche Bauten aus der mittelalterlichen Burgenzeit haben den Zahn der Zeit überstanden.

Dazu gehört ein im 13. Jahrhundert errichteter Bergfried aus Basalt- und Granitsteinmauerwerk, der 26,50 m in die Höhe ragt und der heutigen Burganlage ein gewisses mittelalterliches Flair verleiht. Heutigen Besuchern von Loburg kann ein Besuch der Burganlage, die umgeben von Streuobstwiesen am westlichen Rand des kleinen Städtchens liegt, empfohlen werden. Im Rahmen des Flämingfestes 2005 wurde das Innere des Turmes saniert und mit einer stabilen, leicht begehbaren eisernen Wendeltreppe ausgestattet. So gelangt der Besucher auf eine künstlich geschaffene Aussichtsplattform, wo er mit einem phantastischen Blick über die Landschaft von Stadt und Umgebung Loburgs belohnt wird. Loburg liegt auf der westlichen Fläminghochfläche, einer welligen bis flachhügligen Landschaft aus Sanderflächen mit vereinzelten Endmoränenhügeln. Die Ackerböden der Region sind von mäßiger Qualität. Sandböden herrschen vor, auf denen sich ausgedehnte Kiefernwälder erstrecken. Das kleine Städtchen selbst, umgeben von Wiesen, Äckern und Weiden, liegt in einer sumpfigen Niederung der Ehle, die nach Osten leicht ansteigt. Die Region ist recht dünn besiedelt.

Obwohl Loburg, ursprünglich gebildet durch den Zusammenschluß zweier Dörfer, bereits im Jahre 1207 das Stadtrecht erlangte, ist es nie wirklich gelungen, das Niveau einer kleinen Ackerbürgerstadt zu überschreiten. Das lag wohl nicht zuletzt an der dörflichen Herkunft der neuen Stadt. Es gab oft keine klaren Trennlinien zwischen adliger Zuständigkeit und Bürgertum in der Stadt, nicht zuletzt bedingt durch die Einrichtung von adligen Gütern in der Stadt, die Lehensdienste für ihre Güter von einem Teil der Bürgerschaft forderten.16)

Lange Zeit blieb Loburg Teil des Erzbistums Magdeburg. Nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges kam es unter die Herrschaft von Brandenburg-Preußen und ab 1680 wurde es in diesem Zusammenhang Teil des Herzogtums Magdeburg. Diese Tatsache ist für das Verständnis der Verwaltung von Bedeutung. Loburg wurde im 18. Jahrhundert Amtssitz des Königlichen Preußischen Domänenamtes Loburg als untergeordnete Behörde der Königlichen Kriegs- und Domänenkammer mit Sitz in Magdeburg.17) Dieses Königliche Preußische Domänenamt Loburg hatte aber schließlich seinen Sitz seltsamerweise nicht in Loburg, sondern in einem kleinen Dorf eine „halbe Meile“ westlich von Loburg entfernt, in dem Vorwerk Britzke. Das Vorwerk Britzke war bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges ein Domänenvorwerk des Magdeburger Erzstiftes gewesen. Mit dem Übergang zu Brandenburg-Preußen wechselten nur die Besitzer, nicht aber die Art der Bewirtschaftung.

1785 umfasste das Vorwerk eine Schäferei und eine Windmühle. Neben den Gebäuden der Gutswirtschaft, die wohl als Amtsgebäude genutzt wurden und von denen heutzutage nur noch verfallene Überreste aus späteren Jahren zu sehen sind, gab es noch 3 sogenannte Kolonistenwohnungen. Insgesamt zählte der Ort 21 Feuerstellen mit über 104 Einwohnern im Jahre 1784.18)

Im Jahre 1782 zählte das kleine Städtchen Loburg selbst 281 Häuser und 62 Scheunen mit insgesamt 1360 Bewohnern.19)

Zum Königlichen Amt Loburg gehörten 1785 noch die Dörfer Gloina, Rosian und Zeppernick, sowie die Vorwerke Drewiz und Schweiniz, welche aber erblich verpachtet worden waren. Erstaunlicherweise besaß das Amt auch noch eine Brauerei in der Stadt Loburg.20)

Der Vater des Johann Heinrich Leberecht Pistorius war in Loburg eine angesehene Persönlichkeit. Er übte das Amt eines Servicerendanten der Domänenkammer in Magdeburg aus.21) Die Überlieferung benutzte wohl lieber den klangvollen Namen der übergeordneten Behörde, deren Sitz sich in Magdeburg befand. Er war somit ein Beamter des Königlichen Preußischen Domänenamtes Loburg. Da die Bedeutung der kleinen Stadt Loburg um vieles geringer war, betonten seine Nachkommen natürlich die Bedeutung der allseits und wohl auch in der Hauptstadt Berlin bestens bekannten Magdeburger Königlichen Kriegs-und Domänenkammer.

Denn wer kannte schon das kleine Städtchen Loburg, ganz zu Schweigen von dem Amtssitz Loburg, dem Vorwerk Britzke.

Der Vater von Johann Heinrich Leberecht Pistorius war nicht nur ein Magdeburger Domänenkammerbeamter, sondern auch noch Kirchenvorsteher und als Stadtverordneter der Stadt Loburg ein Mann der Öffentlichkeit.22) An die Ausübung des Amtes eines Servicerendanten, worunter eine Art Kassenverwalter zu verstehen ist, waren sehr hohe Maßstäbe angelegt. Es war eine Tätigkeit, die ein hohes Maß an Vertrauen erforderte, denn es ging um die Verwaltung von Finanzen.

Derartige Personen sollten daher keine finanziellen Schwierigkeiten haben, um nicht in Versuchung zu kommen, Gelder zu unterschlagen. Mit anderen Worten: Um dieses Amt ausüben zu können, durfte man kein unbemittelter Mann sein. Die Eltern des Johann Heinrich Leberecht Pistorius waren demnach keine armen Leute. Als Kirchenvorsteher und Stadtverordneter stand Christian Gottlieb Ludwig Pistorius darüber hinaus im Rampenlicht der Öffentlichkeit, wenn auch diese in Loburg recht klein war.

Da Johann Heinrich Leberecht Pistorius schon mit 11 Jahren Loburg verließ, wird er von den Problemen seines Vaters nicht allzu viel mitbekommen haben. Sein Vater scheint ein überaus gebildeter Mann gewesen zu sein. Durch seine Tätigkeit kannte er auch sehr gut die Probleme anderer Menschen und hatte Kontakt mit der lokalen Elite. Es wird ihm immer wieder bewusst gewesen sein, dass er durch seine Tätigkeit eine für die Region einzigartige privilegierte Stellung einnahm, denn für den „normalen“ Bewohner bot Loburg nur geringe berufliche Chancen.

Loburg galt mit dem Amtssitz des Domänenamtes schon als privilegiert. Eine feste Amtsstelle zu bekommen galt als ein hohes Privileg. Damit hob man sich aus der übrigen Bevölkerung weit ab. Obwohl Loburg als Stadt galt, bestand die „Nahrung der Einwohner...vorzüglich im Ackerbau, in der Viehzucht, Brauerei und Branntweinbrennerei“ neben dem üblichen Handwerk, welches sich zu Innungen der „Ackerleute, Becker, Bötcher, Brauer, Leinweber, Maurer, Müller, Rademacher, Schlächter, Schmiede, Schneider, Schuster, Tischler, Töpfer, Tuchmacher und Zimmerleute,“ zusammengeschlossen hatte.23)

Johann Heinrich Leberecht Pistorius Vater wird hier die Erfahrung gemacht haben, dass Bildung die Grundlage für sozialen Aufstieg in der Gesellschaft bildete. Nur sie ermöglichte letztendlich auch beruflichen Erfolg und schließlich den sozialen Aufstieg in einer Gesellschaft, in der das Volk noch weitestgehend eine homogene Masse darstellte und die soziale Oberschicht zahlenmäßig noch recht dünn war.

Erstaunlicherweise gehörte auch eine Brauerei in Loburg in die Zuständigkeit des Loburger Amtes. Möglicherweise hat hier später der junge Johann Heinrich Leberecht Pistorius erste Anregungen für seine Forschungen auf dem Gebiet des Brennereiwesens und seine Erfindung gewonnen, die weltberühmt werden sollte. Was wusste sein Vater über diese Dinge? Als Servicerendant wusste er mit Sicherheit, wo und wie Geld verdient wurde und wo nicht. Er kannte die Einkünfte und die Ertragslage der Domänengüter und ihre wirtschaftlichen Probleme. Etwas unklar bleibt in diesem Zusammenhang, wie die Beamten ihre Tätigkeit ausübten, wenn der Sitz des Loburger Amtes in Britzke war, immerhin 4 km entfernt auf einem Vorwerk. Für die Angestellten müssen ja Arbeits- und Archivräume vorhanden gewesen sein und möglicherweise auch Wohnräume. Worin bestand ihre Tätigkeit?

Mit Sicherheit nahm ein königlicher Beamter in jener Zeit keine Mistgabel in die Hand, nicht nur, weil es nicht zu seinen Aufgaben gehörte, sondern weil man allein durch den Beamtenstand seinen höheren Status demonstrieren wollte und dazu gehörte es auch, nicht mehr körperlich arbeiten zu müssen.

Die Verhältnisse der Pistoriusfamilie in Loburg sollten auch den Lebensweg von Friedrich Wilhelm Luedersdorff wesentlich prägen. Johann Heinrich Leberecht Pistorius wurde von seinem Vater Jahre zuvor auf das Joachimstaler Gymnasium in Berlin geschickt, einer seinerzeit exzellenten Ausbildungsstätte.24) Er erwies sich während seiner Schulzeit als intelligenter und sehr gelehriger Schüler. Danach hätte er auch in Berlin ein Studium aufnehmen können. Warum er es nicht tat, ist nicht bekannt.

Der junge Johann Heinrich Leberecht Pistorius war allerdings nicht allein in Berlin.

In der Stadt lebte ebenfalls sein ältester Bruder, der Kaufmann Christian Gottlob Pistorius, aus dessen Ehe mit Marie Griebel zwei Söhne, Eduard und Adolf hervorgingen. Eduard Karl Gustav Lebrecht Pistorius(1796 – 1862) wurde später ein bekannter Maler. Er gilt als frühester Genremaler der Düsseldorfer Malerschule und zählte zusammen mit Friedrich Wilhelm Heinrich Theodor Hosemann (1807 – 1875) und Johann Georg Meyer (1813 – 1886), genannt Meyer von Bremen, zu den „beliebtesten und erfolgreichsten Berliner Genremalern“ seiner Zeit.25)

 

Von Eduard Karl Gustav Lebrecht Pistorius stammen Gemälde von Friedrich Wilhelm Luedersdorff und Johann Heinrich Leberecht Pistorius, die er als Freund der Familie malte und die bis heute in Familienbesitz geblieben sind. Ein Selbstporträt des Künstlers als Kohle bzw. Bleistiftzeichnung befindet sich ebenfalls noch in Familienbesitz.

Johann Heinrich Leberecht Pistorius wurde in den wenigen Quellen, die über ihn Aufschluss geben, als ein recht sympathischer Mensch geschildert. Er galt als ein „überaus einfach gewöhnter und einfach lebender Mann“.26) Nach Beendigung des Abiturs wurde er Kaufmann, bildete sich aber nebenbei wissenschaftlich weiter27) und betrieb mit seinem Bruder anfangs ein gemeinsames Handelsgeschäft.28)

Als die Zeit für den jungen Friedrich Wilhelm Luedersdorff gekommen war, entschied man sich wohl im Familienkreis in Loburg, ihn ebenfalls in Berliner Bildungseinrichtungen unterrichten zu lassen. Hierbei konnte die Familie von den Erfahrungen und den Kontakten von Johann Heinrich Leberecht Pistorius profitieren.

In seinem Lebenslauf schilderte Friedrich Wilhelm, wie seine Mutter mit ihm von Loburg nach Berlin übersiedelte: „Im Jahr 1808 siedelte sie mit mir nach Berlin über, einerseits, um sich besser um meine Ausbildung kümmern zu können, andererseits um ihren Bruder Pistorius, dessen Name im Gebiet der Technik nicht unbekannt ist und der in dieser Region ein Gut besaß, in seinen häuslichen Angelegenheiten zu unterstützen. Nachdem ich in dieser Stadt zuerst eine Privatschule besuchte, trat ich im Jahr 1814 in das königliche Gymnasium Joachimsthal ein; zunächst noch als Gast, dann als (eingeschriebener) Schüler.“29)

Im Jahre 1808 war Johann Heinrich Leberecht Pistorius 31 Jahre alt. Ein Gut besaß er zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit noch nicht. Nach Beendigung seiner Schulzeit hatte er höchstwahrscheinlich noch längere Zeit bei der Familie seines Bruders gewohnt, bis er sich wohl im selben Jahr als Kaufmann mit einem eigenen Geschäft selbständig machte, einen eigenen Hausstand gründete und sich gleichzeitig auch geschäftlich von seinem Bruder trennte.

Johann Heinrich Leberecht Pistorius war immer noch unverheiratet. Um aber einen Hausstand und ein Geschäft führen zu können war in jener Zeit natürlich die Hilfe einer Ehefrau fast unverzichtbar. Sein Verhältnis zu Frauen ist in der Überlieferung ein großes Rätsel geblieben. Hatte er eine große Liebe, die sich nicht erfüllte? Hatte er Beziehungen zu anderen Frauen ohne sie je zu heiraten? Sicher ist nur eines: Johann Heinrich Leberecht Pistorius sollte sein Leben lang unverheiratet und ohne leibliche Nachkommenschaft bleiben.

Unter diesen Umständen erwies sich die Unterstützung seiner Schwester, der Mutter Friedrich Wilhelm Luedersdorffs, als äußerst hilfreich und zum gegenseitigen Vorteil. Wilhelmine Sophie Luedersdorff (geborene Pistorius) führte von nun an den Haushalt in dem drei Personen lebten: Johann Heinrich Leberecht Pistorius, ihr Sohn, der junge Friedrich Wilhelm Luedersdorff und natürlich sie selbst.

Friedrich Wilhelm Luedersdorff besuchte anfangs nach eigenen Angaben eine Privatschule.

Er erhielt so eine bessere Ausbildung als andere Schüler. Wie sein Onkel besuchte er anschließend ab 1814 das Joachimstaler Gymnasium.

Die genaue Wohnadresse zu ermitteln, erweist sich jedoch als äußerst schwierig, da Berliner Adressbücher für den Zeitraum von 1801 bis 1812, soweit bekannt, nicht erschienen sind. Erst mit dem Berliner Adressbuch von 1812 liegen wieder Daten vor.

Johann Heinrich Leberecht Pistorius wird 1812 als Kaufmann in der Neuen Königstraße 30 aufgeführt.30) Er war ein Tüftler, ein Erfinder und gerade damit beschäftigt, eine bahnbrechende Erfindung zu machen: Einen neuartigen und für damalige Verhältnisse hocheffektiven Brennapparat zur Herstellung von Spiritus. Erfindungen kosten erstmals Geld, bevor man mit ihnen Geld verdienen kann. Und dafür brauchte er Geld. Seine Schwester hatte zwar ihren Mann früh verloren, dadurch jedoch eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes geerbt.31) Sie konnte es sich leisten, ihm das nötige „Kleingeld“ zu leihen, das er für die Verwirklichung seiner Erfindung und für den zukünftigen geschäftlichen Erfolg brauchte.

Dennoch ist das mit dem Geld leihen auch unter Verwandten so eine Sache.

Wilhelmine Sophie Luedersdorff musste schon großes Vertrauen in ihren Bruder gehabt haben, dass die anfangs kostspieligen Unternehmungen nicht in einem finanziellen Desaster enden würden. Immerhin war ihr Erbe letztendlich auch das Erbe ihres Sohnes, und das sollte sich ja nicht in Luft auflösen. Ohne leiblichen Vater aufzuwachsen, ist für ein Kind nicht einfach. Sucht es doch nach einem Leitbild, einem Vorbild, dem es nacheifern möchte und braucht es allzu oft den väterlichen Rat, aber auch den väterlichen Zeigefinger, wenn es gar zu sehr über die Stränge schlägt. Nicht zuletzt braucht ein Kind jemand, der seine Interessen und Neigungen genau kennt und sie nach besten Kräften fördert. Friedrich Wilhelm Luedersdorff bekam unter diesen Lebensumständen die einzigartige Möglichkeit, als Kind aus nächster Nähe den schweren Weg eines im Laufe der Jahre sehr erfolgreichen Erfinders von Anfang an mitzuerleben, der nicht zuletzt auch auf Grund seines Charakters immer mehr zu einem Ersatzvater für ihn geworden zu sein scheint.

Friedrich Wilhelm Luedersdorffs Mutter, Wilhelmine Sophie Luedersdorff, kümmerte sich mit all ihrer Kraft und ihrer Liebe als Mutter um ihren Sohn. Nach dem Tode ihres Mannes wäre sie noch nicht zu alt für eine zweite Ehe gewesen. Sie heiratete jedoch kein zweites Mal. In den folgenden Jahren leistete sie einen unsichtbaren, aber wesentlichen Anteil am Erfolg ihres Bruders. Nach dem Zeugnis ihres Sohnes in seinem Lebenslauf war sie eine kluge und weitblickende Frau.

Johann Heinrich Leberecht Pistorius verstand es, seinen Erfindergeist in den folgenden Jahren in wirtschaftlichen Erfolg umzusetzen. Seine Erfindung eines neuartigen Brennapparates zur Herstellung von Spiritus erwies sich als wahre Goldgrube, und er war klug genug, sie patentrechtlich abzusichern. Seine Investitionen zahlten sich aus. Er dürfte bereits zu diesem Zeitpunkt so viel Geld mit Einnahmen aus der eigenen Brennerei sowie aus dem Vergeben von Patentrechten aus seiner Erfindung verdient haben, dass er über beträchtliche finanzielle Mittel verfügen konnte, dennoch war sein nächster Schritt, der Kauf des Rittergutes Weißensee, ein Wagnis. Er bezahlte für den Kauf die gewaltige Summe von 65.000 Talern an den vormaligen Rittergutsbesitzer und Erbherrn von Weißensee, Leutnant Carl Asmus von Schenkendorf.32)

Diese Summe stellte in der damaligen Zeit ein gewaltiges Vermögen dar, von dem man bequem hätte leben können. Dass Johann Heinrich Leberecht Pistorius geschäftlich erfolgreich war, ist unbestritten. Ob er allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt über derart große finanzielle Mittel verfügte, um den Kauf aus eigenen Mitteln zu bestreiten, darf bezweifelt werden. Dazu war die Summe wohl doch zu hoch. Deshalb darf angenommen werden, dass hier wieder seine Schwester einsprang, um die finanzielle Lücke zu schließen. Sie hatte ihm immer zur Seite gestanden, in guten wie in schlechten Zeiten. Sie hatte die Misserfolge und schließlich seine Erfolge erlebt.

Sie besaß in erster Linie das nötige Vertrauen in sein nächstes Unternehmen, die großen Flächen, die zum Rittergut gehörten, zum Anbau von Kartoffeln als Grundlage für eine großangelegte Spirituserzeugung zu nutzen, was große Gewinne in der Zukunft versprach. Effektiver konnte man zu diesem Zeitpunkt kaum Spiritus erzeugen und damit Geld verdienen.

Aber auch dann dürfte es Schwierigkeiten gegeben haben, einen derart großen Geldbetrag aufzubringen. Johann Heinrich Leberecht Pistorius sah sich schließlich gezwungen, sich nach zusätzlichen Geldquellen zum Kauf des Rittergutes umzuschauen. Eine dieser Geldquellen, die er sich erschloss, wurde überliefert, er „... verwendete zu diesem Ankauf unter Andern auch einen Vorschuß, den der Kupferschmied Albrecht auf die aus dem ihm überlassenen Brennapparat-Patent hervorgehenden Revenuen leistete. Er hat diesen Vorschuß zum großen Theil wieder zurück erstattet, ...“33)

Der Kauf des Rittergutes im Jahr 1821 wird zu einem wichtigen Meilenstein auf dem Weg des sozialen Aufstiegs in der Familiengeschichte. Noch im selben Jahr verließen Johann Heinrich Leberecht Pistorius und Friedrich Wilhelm Luedersdorff ihre Wohnung in der Neuen Königstraße 30 in Berlin und zogen zusammen mit Wilhelmine Sophie Luedersdorff, die wie zuvor die Führung des Haushaltes übernahm, auf das Rittergut Weissensee, welches damals noch weit außerhalb Berlins lag.

Johann Heinrich Leberecht Pistorius war einer der wenigen Bürgerlichen, die in dieser noch fast feudalen Gesellschaft ein Rittergut erwarben. Mag es für die Familie ein großer Schritt auf dem Weg des sozialen Aufstiegs gewesen sein, so wird es so manchen gegeben haben, der ihm diesen Erfolg geneidet hat. Der Adel beherrschte noch die Gesellschaft mit seinen Wertvorstellungen und Privilegien.

Der Besitz eines Ritterguts war zum damaligen Zeitpunkt noch mit einem erheblichen sozialen Prestigegewinn verbunden. Die Rechtsstellung dieser neuen Schicht von bürgerlichen Rittergutsbesitzern scheint sich gegenüber der Rechtsstellung der bürgerlichen Arrendatoren von Rittergütern des 18. Jahrhunderts wesentlich verbessert zu haben, wenn auch an den Grundfesten der feudalen Gesellschaft nicht gerüttelt wurde. Nun genossen bürgerliche Rittergutsbesitzer, auch wenn sie nicht dem Adel angehörten, die Privilegien die mit dem Besitz eines Rittergutes verbunden waren, so z.B. die Patrimonialgerichtsbarkeit und ein Sitz im Landtag.

Ein Rittergut als großer landwirtschaftlicher Betrieb mit damit verbundenen größeren Einnahmen war im Verständnis der spätfeudalen Gesellschaft allerdings nicht nur ein landwirtschaftliches Unternehmen. Der Inhaber hatte auch die Pflichten und Rechte eines Gerichtsherrn inne. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Dokumente trugen den Stempel des Pistoriuschen Patrimonialgerichtes zu Weißensee.

In den Sommermonaten wurden auch viele Rittergüter gern von Personen der Berliner Gesellschaft als Ausflugsort genutzt, darunter viele Künstler, die sich dort als Gäste aufhielten. Inwiefern dies auch auf Weissensee zutraf, müsste noch untersucht werden.

Der Zusammenhalt der Familie scheint ein wesentlicher Aspekt für ihren beruflichen Erfolg gewesen zu sein. Immerhin lebten drei Geschwister der Pistoriusfamilie aus Loburg mit ihren Angehörigen in Berlin: Johann Heinrich Leberecht Pistorius, seine Schwester Wilhelmine Sophie Luedersdorff, die Witwe des verstorbenen Oberamtmannes Karl Wilhelm Luedersdorff und Vaters von Friedrich Wilhelm Luedersdorff und ihr ältester Bruder Christian Gottlob Pistorius, die sich, so gut es ging, gegenseitig unterstützten.

Die Rolle die hierbei der erfahrene Christian Gottlob Pistorius einnahm, wird an keiner Stelle erwähnt. Er war es, der als erster den Schritt aus dem kleinen Provinzstädtchen Loburg in die Hauptstadt Preußens getan hatte, um sein Glück zu machen mit allen Risiken, die damit verbunden waren; und er war es auch, bei dem in den Anfangsjahren der junge Johann Heinrich Leberecht Pistorius wohnte, bis er alt und erfahren genug war, mit einem eigenen Geschäft auf eigenen Füßen stehen zu können. Man wird nicht fehl gehen in der Annahme, dass in dieser engen gegenseitigen und oft auch uneigennützigen Unterstützung die Grundlage für den späteren Erfolg aller lag. Christian Gottlob Pistorius betrieb seit vielen Jahren ein Geschäft als Kaufmann. Erst sehr spät, als der kommerzielle Erfolg der neuen Erfindung seines Bruders, der „Pistoriusche Brennapparat“, große Gewinne versprach, scheint er sich ebenfalls dem Gewerbe der Branntweinbrennerei verschrieben zu haben. Bis 1822 wird er in den Berliner Adressbüchern nur als Kaufmann aufgeführt. Erst ab dem Jahr 1823 findet sich der Eintrag Kaufmann und Branntweinbrenner.34)

Das widerspricht jedoch einer anderen wichtigen Angabe. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Johann Heinrich Leberecht Pistorius sein Werk „Praktische Anleitung zum Branntweinbrennen“ publiziert. Hierin empfahl er ganz am Ende des Buches neben einem Besuch seiner gerade in Weißensee neu eingerichteten Branntweinbrennerei auch einen Besuch der Branntweinbrennerei seines Bruders „des Kaufmannes Pistorius (Königsgraben Nr. 7 in Berlin).35)

 

Dies verdeutlicht, dass die Berliner Adressbücher nicht immer korrekt alle Daten erfasst haben. Ab wann sich auch sein Bruder der neuen Erfindung in seinem Unternehmen bedienen konnte, um mit einer Brennerei größere Gewinne einzufahren, kann daher kaum festgestellt werden.

Unklar bleibt vor allem auch das Verhältnis Friedrich Wilhelm Luedersdorffs zu seinen Verwandten der Luedersdorff-Linie in jenen Jahren. Das Testament des am 19. März 1820 verstorbenen Bruders seines Vaters Johann Friedrich Luedersdorff, führte mehrere Personen auf, die aber alle nicht in Berlin lebten.36)

Inwiefern es hier Verwandschaftsbeziehungen zu Personen mit Namen Lüdersdorff gab, von denen laut Adressbuch mehrere in Berlin lebten, war bisher nicht festzustellen.37)

Bis zum Jahre 1828 ist Friedrich Wilhelm Luedersdorff in den Berliner Adressbüchern nicht nachweisbar. Das ist auch kaum zu erwarten; denn in den Adressbüchern wurden nur volljährige Personen eingetragen. Den einzigen offiziellen Nachweis dafür, dass er sich in Berlin aufhielt, und nach Berlin Weißensee mit umzog, liefert sein erster kleiner Artikel in einer Fachzeitung für Chemie im Jahre 1821, in der er als Berufsbezeichnung Bau-Conducteur in Weißensee angibt.38) Er wohnte demnach bei seiner Mutter und seinem Onkel auf dem Rittergut Weißensee.

Friedrich Wilhelm Luedersdorff erlebte in den folgenden Jahren wie sein Onkel das Rittergut Weißensee zu einem landwirtschaftlichen Mustergut machte, das weithin berühmt wurde. Am 1. Mai 1827 heiratete er Johanna Auguste Juliane Hennig, Tochter des Benjamin Friedrich Hennig, Ökonom zu Malchow bei Berlin und der Marie Helene Sophie Hennig, geborene Welle. Die Trauung wurde traditionsgemäß in der Kirche in Malchow, des Wohnortes der Braut, vollzogen39), während die große Hochzeitsfeier in Weissensee unter Teilnahme der ganzen ortsansässigen Bevölkerung stattfand.40) Die Angaben zum Namen Hennig sind jedoch widersprüchlich und nicht eindeutig. Statt des Namens Hennig wird sehr oft auch der Name mit einem n geschrieben und heißt dann Henning. Welche Variante richtig ist, konnte bisher nicht eindeutig festgestellt werden. Auch existiert von Johanna Auguste Juliane Hennig keine bildhafte Darstellung. Von 1828 an wohnte Friedrich Wilhelm Luedersdorff nun mit seiner Frau in der Landsberger Straße 73 in Berlin und wurde als verheirateter Mann mit eigenem Hausstand auch in die Berliner Adressbücher aufgenommen. Als Berufsbezeichnung gab er Physiker an.41)

Nach seiner Promotion1831 zum Dr. Phil. nennt er sich nun Dr. d. Phyl. und Physiker.42)

Die Bezeichnung Dr. Phil. oder Dr. Phyl. bedeutete in der Tat Doktor der Philosophie was in den folgenden Jahren viele, die sich mit seinem Leben befasst haben, in die Irre geführt hat, indem sie fälschlicherweise angenommen haben, er hätte Philosophie studiert. Hierbei muss bedacht werden, das zu Luedersdorffs Zeiten ein Titel Dr. Phil auch an Naturwissenschaftler, wie Chemiker und Physiker, verliehen wurde.

Ab 1836 änderte sich die Berufsbezeichnung in den Berliner Adressbüchern zu Dr. d. Phil. und Chemiker.43)

Friedrich Wilhelm Luedersdorffs Eheschließung mit Johanna Auguste Juliane Hennig scheint nicht vordergründig von materiellen Interessen begründet worden zu sein, wie es für bürgerliche Eheschließungen in jener Zeit nicht unüblich war, sondern zeugt eher von echten Gefühlen. Es scheinen sehr glückliche Monate für ihn und seine junge Frau gewesen zu sein. Frühling und Sommer gingen dahin. Schon kam der Winter, und, kaum war ein Jahr verstrichen, gebar seine Frau am *21.2.1828 ihr erstes Kind, ein Söhnchen, das den Namen Ludwig Benjamin Albert Friedrich Luedersdorff erhielt. Das Hochgefühl des jungen Paares wich allerdings einem Schrecken. Das Kind starb noch am selben Tag.44)

Dies war in jener Zeit keine Besonderheit. Noch gab es keine Schutzimpfungen und keine Antibiotika bei schweren Erkrankungen. Noch hatte die moderne Medizin keinen Einzug gehalten. Oft kam es vor, das Neugeborene das erste Lebensjahr nicht vollendeten. Nur Kinder, welche die ersten drei Jahre überlebten, hatten gute Chancen als Erwachsene alt und grau zu werden. Dieser Umstand dürfte für die Eltern in jener Zeit kaum ein Trost gewesen sein. Sie hingen an jedem ihrer Kinder. Ein Verlust war immer schwer zu verkraften.

Wie Friedrich Wilhelm Luedersdorff und seine junge Frau den Verlust ihres ersten Kindes verarbeiteten, ist nicht überliefert. Im Familienarchiv findet sich nicht einmal ein Hinweis oder ein Dokument, mit dessen Hilfe die Existenz des Kindes nachgewiesen werden kann. Dies gelang nur durch intensive genealogische Recherchen und Forschungen. So zogen mehr als zwei Jahre ins Land, bis es in der jungen Familie wieder ein freudiges Ereignis zu feiern gab. In der Landsberger Straße 73 erblickte Friedrich Hugo Luedersdorff am 13. Juni 1830 das Licht der Welt.45)

Dieses Mal ging alles gut. Die Geburt scheint ohne Komplikationen abgelaufen zu sein und Sohn Friedrich Hugo Luedersdorff wuchs und gedieh. Zwei Jahre später wurde sein Brüderchen Ludwig Genjamin Luedersdorff kurz vor Weihnachten am *22.12.1832 geboren. Anfangs schien alles gut zu gehen. Doch das Kind starb bevor es ein Jahr alt wurde am 2.10.1833.46)

Auch über die Existenz dieses Kindes gab es im Familienarchiv keine Aufzeichnungen, nicht einmal irgendwelche Hinweise. Diese Tatsachen wurden schlichtweg vergessen. Ohne diese Kenntnis ist allerdings die Familiengeschichte von Friedrich Wilhelm Luedersdorff nicht ganz korrekt und es entstände ein falsches Bild. In der Tat wäre es sehr ungewöhnlich gewesen, das Friedrich Wilhelm Luedersdorff nur ein Kind gehabt hätte. Dies wäre in jener Zeit völlig unüblich gewesen und man hätte darüber spekulieren können, woran es wohl gelegen hat, das er nur einen Sohn hatte. Friedrich Hugo Luedersdorff war demnach das zweite Kind von Friedrich Wilhelm Luedersdorff und das einzige, welches von drei Brüdern überlebte. Weitere Kinder scheint es nicht gegeben zu haben.

Friedrich Wilhelm Luedersdorffs Mutter lebte bis zu ihrem Tode im Rittergut Weißensee.47)

Warum die junge Familie nicht im Rittergut Weißensee wohnen blieb, bleibt unklar.

Möglichweise boten die Räumlichkeiten in dem einfachen, einstöckigen Wohnhaus nicht genug Wohnraum, der den Ansprüchen des jungen Paares genügt hätte.

Andererseits dürfte wohl der Drang, alleine auf eigenen Füßen stehen zu können den Ausschlag gegeben haben.

Johann Heinrich Leberecht Pistorius ließ neben der Weissenseer Dorfkirche zu Beginn der 40-er Jahre ein Erbbegräbnis errichten. Es existiert noch heute.

Nach umfangreichen Renovierungsarbeiten wird es gegenwärtig als Versammlungsraum der Gemeinde genutzt. Es besteht aus einem wenige Meter neben der Dorfkirche Weißensee errichteten Backsteinziegelbau mit vergitterten Fenstern und einem ebenfalls durch Gitter und eine Tür verschlossenem Eingang.

Wilhelmine Sophie Pistorius verwitwete Luedersdorff starb am 7.8.1844 im Alter von 76 Jahren und wurde in diesem Erbbegräbnis beigesetzt.48) Hier fanden im Laufe der Jahre vier Personen der Familie ihre letzte Ruhestätte: Wilhelmine Sophie Pistorius, Johanna Auguste Juliane Luedersdorff geb. Hennig, Johann Heinrich Leberecht Pistorius sowie Friedrich Wilhelm von Luedersdorff.

Alle Mitglieder und Nachkommen der Familie des Friedrich Wilhelm von Luedersdorff hatten ursprünglich auch das Recht, in diesem Erbbegräbnis auf dem Friedhof Berlin-Weißensee bestattet zu werden. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte scheint es darüber Differenzen mit der Kirchengemeinde in Weißensee gegeben zu haben, die das Gebäude ebenfalls beanspruchte. Schließlich wurde folgende Entscheidung getroffen: „Dieses Erbbegräbnis ging 1923 in den Besitz der Kirchengemeinde über und die vier Särge, die sich dort befanden, wurden hinter dem Gebäude in Reihengräbern in der Erde beigesetzt. Das Gebäude wurde Abstellraum für allerlei Gerätschaften der Friedhofsverwaltung.“49)

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