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KAPITEL ZWEI
in dem Kappe zurückgepfiffen wird

DER EIMER polterte zu Boden, das Wasser ergoss sich über die Treppe. Kappe wäre beinahe gestürzt. Er fluchte. In seiner Eile, die Treppe hinunterzukommen, hatte er einen der Wassereimer umgerannt, die wegen der ständigen Gefahr von Bombenangriffen neben den Sandsäcken in den Fluren standen. Sein Schienbein pochte, doch er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Er hetzte nach draußen.

Inzwischen hatte sich ein Ring von Menschen um den Körper versammelt, der wie eine zu Boden geworfene Marionette halb auf dem Bauch vor dem Verwaltungsgebäude lag. Auch an den Fenstern der Werkhallen tauchten kurz bleiche Gesichter auf, verschwanden dann aber wieder. Zwangsarbeiter, vermutete Kappe, die zurück an ihre Arbeitsplätze getrieben wurden. Viele von ihnen kamen aus den besetzten Niederlanden. Ihre neue «Heimat» war in den meisten Fällen das Lager beim Bahnhof Tegel. Manche waren aber auch in Privatwohnungen untergebracht. Anders als die jüdischen Zwangsarbeiter durften sich die Holländer frei bewegen und mussten auch nicht um 20 Uhr zu Hause sein. Schließlich gehörten sie zu einem artverwandten germanischen Volk.

«Watt’n ditte?», erkundigte sich eine Frau mit neugierigem Blick. Sie meinte eindeutig nicht die Gesichter hinter den Fenstern.

«Siehste dit nich, da is einer jesprung’», antwortete ihre Begleiterin, und die Fasanenfeder auf ihrem keck schräg aufgesetzten Hut wippte energisch.

Es kamen immer mehr Schaulustige hinzu. «Da ist wohl ’n Nest», brummte Kappe ärgerlich vor sich hin. Es war immer dasselbe: Diese Gaffer zertrampelten alles.

«Sollte nich mal eener ’n Polizisten ruf ’n?», meinte eine näselnde Männerstimme.

«Achtung, Kriminalpolizei! Machen Sie sofort Platz!», dröhnte Kappe und versuchte, sich seinen Weg durch die dicht an dicht stehenden Menschen zu boxen. Er sah Arbeiter und Arbeiterinnen im Blaumann und in ölverschmierten Arbeitsklamotten, offenbar der arische Teil der Belegschaft. Andere hatten es irgendwie geschafft, sich von draußen durch das Werktor an der Berliner Straße zu schmuggeln. War da denn niemand an der Pforte, verdammt noch mal?

Doch ganz egal, woher sie kamen - die Leute schienen allesamt taub zu sein. Oder jedenfalls keineswegs geneigt, ihren Platz so einfach preiszugeben. Jedenfalls reagierten sie nicht auf Kappes Rufe.

«Uh, det is aber eklich», stellte stattdessen eine Frau versonnen fest.

«Platt wie ’ne Flunder», erwiderte ein junger Mann nüchtern.

Jetzt hatte Kappe genug. «Kriminalpolizei!», brüllte er erneut und nun so stimmgewaltig, wie er konnte, dann schoss er in die Luft. Die Frauen kreischten, die Menschen stoben auseinander.

«Warum nich gleich so?», schimpfte Kappe und sah sich die Bescherung an, die da auf dem Pflaster vor dem Tegler Borsigwerk lag, das sich seit der Übernahme durch Rheinmetall im Jahr 1935 nun Rheinmetall-Borsig AG nannte, im Volksmund aber immer Borsig geblieben war. Ein Name, der für ihn bis in alle Ewigkeit mit dem Bau der wunderbarsten Dampflokomotiven verbunden bleiben würde. Auch wenn der Lokbau in Tegel vollständig zum ehemaligen AEG-Werk Hennigsdorf, nun Borsig-Lokomotiv-Werke GmbH Hennigsdorf, verlagert worden war, atmete hier noch alles diese gute alte Zeit. Kappe liebte Dampfloks. Doch jetzt wurden hier im Auftrag des Reichskriegsministeriums Maschinengewehre, Panzerabwehrgeschütze, Minenwerfer und Feldkanonen bis hin zu Flugabwehrkanonen und Eisenbahngeschützen gefertigt.

Kappe ging um den Körper herum. Soweit er sehen konnte, war das ein noch recht junger Mann, gut gekleidet, die Anzugshose maßgeschneidert, nach der neuesten Façon sozusagen. Zumindest bis er aus dem Fenster gestürzt war. Ein Teil der Brille hatte sich in das linke Auge gebohrt. Kein schöner Anblick. Kappe bückte sich. Kein Puls. War auch nicht zu erwarten nach einem Sturz aus dem dritten Stockwerk.

Da war auch der Pförtner, unschwer an seiner Uniform zu erkennen. Er stand wie eine Salzsäule zwei Meter vom Toten entfernt, die Augen misstrauisch zusammengekniffen, als habe er Angst gebissen zu werden. Das Pförtnerhaus beim Tor war also wirklich unbesetzt, dazu war die Schranke noch oben. Deswegen hatten es all diese Passanten geschafft, einfach hier hereinzuströmen. Bei Schichtwechsel gab das vollends ein heilloses Durcheinander.

«Los, telefonieren Sie und melden Sie den Todesfall! Verlangen Sie die Herren Klingbeil und Galgenberg! Die Nummer des Präsidiums am Alexanderplatz haben Sie? Gut. Sagen Sie, Kriminalkommissar Kappe ist bereits vor Ort. Dann alarmieren Sie den Borsig-Werkschutz, der muss mir helfen, das Gelände abzusichern. Anschließend marschieren Sie schnellstens in die Chefetage. Richten Sie denen von Kriminalkommissar Kappe aus, keiner verlässt bis auf weiteres das Gebäude! Und damit meine ich wirklich niemand! Danach begeben Sie sich dorthin, wo Sie eigentlich sowieso sein sollten, und lassen niemanden auf das Werksgelände. Und auch niemanden heraus - es sei denn, ich erlaube es Ihnen. Ich verlasse mich auf Sie!»

Der Pförtner, ein Mann in den Vierzigern mit einem Gesicht wie zerknittertes Butterbrotpapier, verzog selbiges, produzierte dabei noch mehr Falten und wies mit dem Kopf auf seine Pförtnerloge. «Da sitz ick ja denn wie ’n Affe uff ’m Schleifsteen.»

Nun wurde Kappe endgültig wütend. «Nun gehen Sie endlich! Oder soll ich Sie wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen festnehmen lassen? Na los, Tempo!»

Der Pförtner stapfte davon. Oder besser, er hinkte davon und murmelte dabei etwas vor sich hin.

Kappe meinte zu verstehen: «Alter Mann is doch keen Dee-Zuch …» Er sah ihm einen Moment hinterher. Wo der Mann seine Beinverletzung wohl herhatte? Egal, er konnte sich glücklich schätzen: So musste er nicht an die Front. Dann wandte sich Kappe wieder dem am Boden liegenden Mann zu. Inzwischen hatte sich die Kleidung mit Blut vollgesogen und konnte wohl kein weiteres mehr fassen, denn langsam bildete sich eine rote Lache um den Körper, ein Rinnsal floss in Richtung Straße, immer dem Gefälle nach. Das Gesicht war bis auf das durch die Brille zermantschte Auge weitgehend unverletzt. Er musste sich das Eisengestell während des Fallens hineingestoßen haben. Wahrscheinlich war er an einem der Simse aufgeprallt. Kappe sah nach oben. Nichts zu erkennen. Dann musterte er wieder den Mann zu seinen Füßen. Das Gesicht kannte er. Ihm fiel aber beim besten Willen nicht ein, woher.

Doch, jetzt wusste er es wieder. Der Mann war hinter ihm die Treppe hinaufgestiegen. Und als Kappe den zweiten Stock erreicht hatte und Lempels Büro zugestrebt war, hatte der Fremde kurz innegehalten, ihn scharf angesehen und war dann weiter nach oben gestiefelt. So schnell konnte das gehen. Erst spionierte man die Besucher der anderen Borsig-Mitarbeiter aus - und wupps, schon war man tot. Wie ein potentieller Selbstmörder hatte der Mann nicht gewirkt. Was für Mord sprach. Und wenn er von irgendwas etwas verstand, dann waren es Tötungsdelikte jedweder Art. Er hatte schließlich über dreißig Jahre Erfahrung. Seit 1910, als er - der abenteuerlustige Jungspund aus Wendisch Ritz - nach Berlin gekommen war. Also seit 32 Jahren, um genau zu sein. Was Kappe zu dem Schluss brachte, dass er langsam alt wurde.

Die ersten Männer des Werkschutzes trafen ein. Kappe gab ihnen kurze Anweisungen, wo sie sich zu postieren hatten, um das Gelände abzusperren.

Dann ging er um den Toten herum. Dieser trug keine Anzugjacke, nur Hemd, aber eindeutig eine Anzughose aus gutem Tuch. Kappe bückte sich gerade, um die Hosentaschen zu durchsuchen, als auch schon Bernhard Klingbeil vom Kriminaltechnischen Institut und sein alter Weggefährte Kriminalhauptwachtmeister Gustav Galgenberg eintrafen, einige weitere Kollegen im Gefolge. Sie schoben die restlichen Gaffer rüde zur Seite, und die anderen Kollegen machten sich sogleich daran, die Leute vom Werkschutz abzulösen und den Tatort im dritten Stock, den Kappe ihnen schilderte, sowie den engeren Bereich um den Fundort der Leiche abzusichern.

Klingbeil war erst seit etwa zwei Jahren dabei, Chemiker von Haus aus, er kam von der Sipo. Er hatte in Königsberg studiert und stammte aus dem Wowerischken im Memelland. Er war für Dr. Kniehase gekommen, der 1938 das Zeitliche gesegnet hatte. Kappe vermisste den begnadeten Kriminaltechniker des Dezernats M noch immer. Gut, Kniehase war alt und kurzatmig geworden. Aber musste er gleich sterben?

Diesen Bernhard Klingbeil konnte er auch nach zwei Jahren noch nicht recht einordnen. Er hatte keine Ahnung, ob der nun ein strammer Parteigenosse war oder nicht. Jedenfalls äußerte er sich ständig begeistert darüber, dass Hitler das Memelland befreit hatte, und war rundweg beeindruckt von den militärischen Leistungen der Wehrmacht: «Das sind noch Kerle, unsere Jungs!» Seit den Feiern zum 1. Mai pflegte er diesen regelmäßig geäußerten Satz noch um ein Zitat von Reichsorganisationsführer Dr. Ley zu ergänzen, der bei der Kundgebung getönt hatte: «Nicht Pfund oder Dollar werden siegen, sondern das fleißigste und tapferste Volk.»

Kappe hatte manchmal den Verdacht, dass Klingbeil insgeheim ein regelrechtes Kriegstagebuch führte, um nur ja keinen militärischen Schachzug, keine Finte von Hitlers Generälen an der Ostfront zu verpassen. Finte! Bloß von wem? Sie wurden doch alle dauernd hinters Licht geführt. Dass Klingbeil das nicht merkte! Dabei war er doch eigentlich ein intelligenter und sehr methodischer Mann.

Das stellte er auch jetzt wieder unter Beweis. Er machte seine Photos und hielt sich danach nicht lange bei dem Toten auf. «Is ja wohl klar, woran das Jungchen hopsgegangen ist», erklärte er und sah nach oben. «Ich geh jetzt mal schau’n, wo er herkam. Vielleicht erfahr’n wir dann was über die Ursache seines Falls.» Er wies einen Assistenten an, weitere Pflöcke für die Absperrung einzuschlagen, und marschierte mitsamt der Kamera in Richtung Borsig-Verwaltung.

 

«Kennst du ’nen Satz mit ‹fallen seh’n›?», meldete sich Gustav Galgenberg zu Wort.

Kappe warf ihm einen warnenden Blick zu. Ihm war nicht nach Sätzeraten.

Galgenberg nickte verständnisvoll. «So wat liegt im Magen wie ’n Fund schwarze Seefe. Ich geh denn mal zum M-Wagen und helf Klingbeil, seine Sachen raufzutragen.» Er stapfte mühsam davon. Sein Raucherbein machte ihm wohl wieder zu schaffen. Und der Jüngste war er ja auch nicht mehr.

Kappe nickte ihm stumm, aber mit einem gewissen anerkennenden Schwung hinterher. Er freute sich darüber, dass Galgenberg wieder da war. Eine blöde Bemerkung hätte ihn vor vier Jahren beinahe ins KZ gebracht. Der Herr Kriminalpolizeirat Sturmbannführer Brettschieß, Spitzel und Hofhund beim Reichsführer SS, hatte jedenfalls getan, was er konnte. Glücklicherweise war es bei der Versetzung ins Revier 243 in Köpenick geblieben. Er selbst war auf Betreiben von Brettschieß, ebenfalls wegen einer blöden Bemerkung, zurückgestuft worden. Brettschieß hingegen hatte Karriere gemacht und war zu Himmler in den SS-Apparat gerufen worden. Nur deshalb hatte Galgenberg zurückkommen können.

Doch die Geschichte hatte ihnen beiden zugesetzt. Zurückgekehrt war ein etwas schweigsamerer Galgenberg, ein weit vorsichtigerer. Der nicht mehr so viele flotte Sprüche von sich gab und sogar das Berlinern fast aufgegeben hatte. Aber er war immer noch der aufrechte Galgenberg, der sich im Zweifel den Mund nicht verbieten ließ. Ja, es fühlte sich gut an, dass er wieder da war.

Und zusammen mit Klingbeil hatte er es tatsächlich geschafft, trotz Benzinknappheit den Mordwagen mitzubringen, der da enthielt: versenkbare Tische, eine Schreibmaschine, Berlinkarten, Kompass, Scheinwerfer, Tafel, Photoausrüstung, Arztkoffer und Mikroskop, Material zur Spurensicherung mit Markierungspfählen, Spaten und Äxten.

Der von Klingbeil beauftragte Helfer hatte passende Schwachstellen im Teer des Werkhofes gefunden und wollte sich gerade ans Pflöckeeinschlagen für die Absperrung machen, als er innehielt. Eine korpulente Frau in den besten Jahren, also älter als vierzig, mit akkurat geschnittenem Pony und seitlich hochgerollter Frisur, weißer Bluse, engem Rock und Pumps stakste aus dem Fabrikgebäude, blickte sich suchend um und kam dann eilig auf Kappe zugestöckelt.

Unwillkürlich stellte er fest, dass sie sich die nackten Beine hellbraun bepinselt hatte. Seine Klara machte das auch manchmal, um vorzutäuschen, dass sie Seidenstrümpfe trug. Die waren unerschwinglich, aber für eine modebewusste Frau einfach unerlässlich. Kappe war ja schon froh, dass sich seine Klara nicht in diese Schlaghosen mit den weiten Beinen im Marlene-Dietrich-Stil zwängte, sondern Röcke trug, wie sich das für eine anständige Frau gehörte.

Offenbar hatte die bepinselte Dame einen geübten Blick dafür, wer in diesem Drama welche Rolle spielte. «Das können Sie nicht machen!», rief sie schon von weitem, weil Rock und Schuhe sie hinderten, schneller voranzukommen.

«Was kann ich nicht machen?», fragte Kappe seelenruhig, als sie schließlich schnaufend bei ihm angekommen war.

«Hier so ein Durcheinander anrichten! Sie behindern ja die ganze Produktion. Wenn Sie die letzte Schicht nicht rauslassen, dann kann die nächste nicht rein. So geht das nicht, soll ich Ihnen vom Chef ausrichten.»

«Vom Chef, so, so. Da Sie sich hier offenbar auskennen, können Sie mir sicher sagen, wer das hier ist.» Er deutete auf den Toten am Boden.

«Irgendjemand aus der Buchhaltung. Also wissen Sie, ich kann ja nicht jeden kennen!»

«Und wer sind Sie?»

Die Dame schaute ihn irritiert an. «Na, die Sekretärin des Chefs natürlich. Er schickt mich. Ich soll Ihnen sagen, wenn Sie so weitermachen, wird Ihnen das noch leidtun. Er telefoniert schon eine ganze Weile.»

«Wahrscheinlich mit dem Führerhauptquartier oder der obersten Heeresleitung», antwortete Kappe trocken. «Und nun gehen Sie mir aus dem Weg, Sie Sekretärin des Chefs, ich habe zu arbeiten. Wenn Sie mich weiter aufhalten, dann dauert es noch länger.»

«Woher wissen Sie …» Die Dame stutzte, brach mitten im Satz ab und wirkte plötzlich sehr zufrieden. «Da, sehen Sie!»

Er hob den Kopf und sah eine schwarze Horch-Limousine vorfahren. Jeder wusste, woher sie kam: Prinz-Albrecht-Straße 8. Gestapo. Das war zwar keiner dieser schwarzen Kastenwagen, mit denen sie die Leute abholten, trotzdem strahlte das Auto diese gewisse Kühle aus. Die Menschen, die sich bisher gedrängelt hatten, einen Blick auf den Toten zu erhaschen, versuchten sich unsichtbar zu machen. In Windeseile war der Platz wie leergefegt.

Drei Männer stiegen aus, zwei hinten, einer vorne vom Beifahrersitz. Dieser gab die Befehle. Kappe traute seinen Augen kaum. War das nicht Heinrich Müller, verantwortlich für das Amt IV des Reichssicherheitshauptamtes und letztes Jahr im November zum SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei befördert? Kappe war zur Beförderungsfeier eingeladen gewesen. Weiß der Teufel, warum.

Da fuhr ein weiterer Wagen vor. Ihm entstieg Dr. Hans-Jochen Morack, der Nachfolger von Brettschieß als Kappes Vorgesetzter. Ein ebenso strammer Nazi - aber nicht so plump wie Müller. Er schloss zu diesem auf, sein rechter Arm schoss in die Höhe. «Heil Hitler.»

Müller grüßte ebenso zackig zurück, stapfte samt Begleitung stiefelsohlenknallend in den Werkhof und nickte Kappe zu. «Wir nehmen den Mann mit», bellte er sodann den beiden anderen Männern zu und wies auf den Toten.

Kappe sah etwas verdutzt zu seinem Chef. Morack kniff nur den Mund zusammen und schaute … ja wie? Er ließ sich nicht anmerken, ob er über Müllers Anordnungen verärgert war oder nicht. Jedenfalls widersprach er nicht. Stattdessen fragte er: «Wie kommen Sie eigentlich so schnell hierher, Kappe? Sie sind ja bekannt für Ihr Tempo, aber das ist schon außergewöhnlich.»

«Ich war zufällig hier, einen ehemaligen Schulkameraden besuchen.» Schon während er das sagte, wurde ihm unwohl. Hoffentlich fragten sie ihn nicht nach dem Namen. Erst musste er herausfinden, ob Lempel etwas mit dieser Geschichte zu tun haben könnte. Da half nur eines: in die Offensive gehen. Angriff war immer die beste Verteidigung. «Ich glaube, das war Mord. Es gibt einige Hinweise.» Kappe hatte zwar nur seine Beobachtungen und kein gerichtsverwertbares Indiz, aber die Reaktion Müllers deutete darauf hin, dass er wohl in ein Wespennest gestochen hatte.

«Machen Sie sich nicht lächerlich, Herr Kommissar! Der Mann ist ein Selbstmörder. War immer gefährdet. Das weiß doch jeder.»

Aha, das wusste also jeder. «Und woher, wenn ich fragen darf?»

Müller warf ihm einen giftigen Blick zu. «Von der Werksleitung selbstredend. Außerdem spricht die Auffindlage ja für sich. So, jetzt ist aber Schluss. Verkrümeln Sie sich! Sie haben hier nichts mehr verloren. Wir kümmern uns um die Sache.»

«Aber …», begann Kappe und klappte dann den Mund wieder zu. Er kochte innerlich. Doch es war sinnlos, jetzt zu diskutieren, das wusste er aus vorangegangenen Erfahrungen. Er würde schon noch herausfinden, warum sich die Gestapo so sehr für diesen Toten interessierte und ihn unter Verschluss nahm. Und wieso Morack dabei mitmachte.

«Dann ist ja alles klar, was? Gehen Sie heim, Kappe», sagte Morack in diesem Moment. Sprach’s, wandte sich um, stieg in sein Kraftfahrzeug und fuhr davon, ohne sich weiter um Kappe zu scheren.

Die Gestapo-Männer, die mit Müller gekommen waren, lösten den Toten vom Boden, wobei dieser einiger Hautfetzen und Knochensplitter verlustig ging. Das schien sie jedoch nicht zu kümmern, sie ließen die Reste kleben. «Die denken wohl, es wird sich schon ein Zwangsarbeiter finden, der die restliche Sauerei wegräumt», muffelte Kappe in sich hinein. Er war noch immer stinksauer. Dann wickelten sie den Körper in eine Plane. Sie wollen sich das Wageninnere nicht dreckig machen, dachte Kappe boshaft und überlegte, wie jetzt wohl alle in das Kraftfahrzeug passen würden. Sollte die Leiche gar auf den Beifahrersitz? Nein, das ging ja nicht, da saß Müller höchstselbst. Und den Kofferraum schienen sie für den Transport nicht in Betracht zu ziehen.

Kappe beobachtete mit Interesse, wie die beiden Handlanger den Toten auf den Rücksitz wuchteten. Der eine schob von der linken Seite, der andere zog von der rechten. Als das zur Zufriedenheit der beiden erledigt war, quetschten sie sich mit angewiderten Gesichtern links und rechts der Leiche in den Fonds des schwarzen Horch.

«Am besten, Sie vergessen das alles hier, Kappe. Werde mich bei euch melden», erklärte Müller noch, ging zum Auto und pflanzte sich auf den Beifahrersitz.

Kappe sank in sich zusammen. Mit «euch» meinte Müller wohl die einstige Inspektion A, den Mordbereitschaftsdienst, gegründet 1926 auf Initiative von Ernst Gennat, wegen seiner Leibesfülle auch der Buddha genannt und einer der besten Ermittler, die Kappe jemals kennengelernt hatte. Sechzehn Jahre ist das schon her, rechnete er nach. 1933 war die Mordkommission M1 dann mit der Sonder-Inspektion zur Bearbeitung von Sittlichkeitsverbrechen «M II» und der Weiblichen Kriminalpolizei «M III» zur «Kriminalgruppe M» zusammengefasst worden.

Kappe dachte wehmütig an seine Anfangszeit im Dienste der Gerechtigkeit. Ach, Gennat … Der war einfach unglaublich gewesen. Er erinnerte sich noch genau, welche Schlagzeilen es in den Tageszeitungen gemacht hatte, als Gennat auf die Idee gekommen war, nach dem Mord an einem Taxifahrer im jungen Fernsehen nach dem Täter zu fahnden. Kriminalkommissar Theo Saevecke war in der Sendung aufgetreten. Und sie hatten den Täter gefasst. Obwohl es zu diesem Zeitpunkt in Berlin erst 28 öffentliche Fernsehstuben gab, waren zahlreiche Hinweise eingegangen.

Ja, und dann hatte der Dicke doch noch geheiratet. Dieser Mann, der nie die Ruhe verlor, dieser gutmütige, menschenfreundliche, stets schlampig gekleidete Herr, das Urbild des ewigen Junggesellen, hatte die wesentlich jüngere Kriminalkommissarin Elfriede Dinger geehelicht. Kurz danach, am 20. August 1939, war er gestorben.

Meine Herren, dachte Kappe noch einmal, was für ein Auflauf von Autoritäten! Hier ist die Kacke aber am Dampfen. Und etwas in ihm weigerte sich gleichzeitig entschieden, die Angelegenheit einfach zu vergessen.

Er beschloss, noch einmal zu Lempel zu gehen und sich die Dinge von dessen Fenster aus gewissermaßen von oben herab zu betrachten. Außerdem wollte er nachfragen, wie der Tote hieß. Und dann mal hören, was Klingbeil sagte. Falls der nicht auch schon zurückgepfiffen worden war.

Doch in dem Büro im zweiten Stock, in dem er sich mit Lempel getroffen hatte, war niemand mehr. Seltsam. Und Lempel? Na ja, vielleicht auf der Toilette. Fensterstürze konnten die seltsamsten Reaktionen bei Leuten auslösen, die so etwas nicht gewohnt waren. Dann würde er eben die Zeit nutzen und versuchen, ins Zimmer darüber im dritten Stock zu kommen.

Kappe rechnete insgeheim damit aufgehalten zu werden. Doch nichts dergleichen geschah. Das Treppenhaus war menschenleer. Vorsichtig öffnete er die Tür des Raumes, aus dem der Mann aus dem Fenster gestürzt sein musste. Oder gestürzt worden sein musste. Aber nichts. Kein Klingbeil von der Kriminaltechnik. Den hatten sie wohl tatsächlich schon rausgeworfen. Oder er war von selbst gegangen, denn es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen. Auch kein Galgenberg. Er war den beiden nicht auf der Treppe begegnet. Sie mussten den Hinterausgang genommen haben. Er schaute sich um. Keine umgestürzten Möbel, kein Durcheinander, keine Blutflecke. Er betrat ein sorgsam aufgeräumtes Büro. Nichts sah danach aus, als habe hier ein Kampf stattgefunden. Dabei hatte sich das heftige Poltern genau danach angehört.

Kappe sah sich ein zweites Mal um. Noch immer konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken. Keine Spur einer Auseinandersetzung. Er ging ans Fenster, spähte hinaus.

In diesem Moment heulte die Fabriksirene. Schichtende. Die Werktore öffneten sich, und die Arbeiter strömten nach draußen. Niemand hinderte sie daran. Die Kollegen waren also wirklich abgezogen. Alles war wie immer, so als wäre hier nicht gerade ein Mensch gestorben. Nur der Pförtner stand mit einem Eimer an der Stelle, an welcher der Körper gelegen hatte, und hantierte ungeschickt mit Lappen und Schrubber, um die Blutflecke zu entfernen.

Kappe wandte sich brüsk ab. Ein Knopf seiner Jacke blieb im Vorhang hängen. Gereizt versuchte er sich zu befreien und entdeckte, dass der Vorhang einen Riss aufwies. Und in ihm hatte sich der Knopf verheddert.

 

Er wäre fast geneigt gewesen, an ein Zeichen zu glauben, wenn er so etwas nicht für Mumpitz gehalten hätte. Es gab für alles einen logischen Grund. Er betrachtete sich die Angelegenheit eingehend. Es schien ihm fast, als habe sich ein Mensch mit aller Kraft an diesem Vorhang festgehalten. So fest, dass er erst gerissen und dann komplett zu Boden gefallen war. Er schaute nach oben zur Vorhangleiste. Jemand hatte den Stoff mit Hilfe von Reißzwecken so drapiert, als sei nie etwas geschehen. Der Stoff hing teilweise herunter, und wenn man genau hinschaute, war er in aller Eile und sehr flüchtig zusammengerafft worden. Jemand hatte also versucht, allen weiszumachen, dass hier nichts vorgefallen war. Und dafür gab es ganz sicher einen Grund.

Kappe dachte wieder an Gennat. Er musste schmunzeln. Menschen wie er waren ausgestorben. Schon sein Amtszimmer im ersten Stock des Berliner Polizeipräsidiums gegenüber der Trasse der Stadtbahn an der Dircksenstraße war etwas Besonderes gewesen, eine Mischung aus Gruselkabinett und Plüsch. Wie gerne wäre er jetzt dorthin gegangen und hätte Gennat gefragt, was er tun sollte! «Klären Sie das», hätte Gennat vermutlich gesagt. Und das, beschloss Kappe, würde er tun. Mit diesem Entschluss verflog sein Zorn, er wurde wieder der besonnene Ermittler, der er im Normalfall war.

Kappe seufzte. Im Büro wartete noch immer der Fall des Doppelmordes in Dahlem vom Februar auf ihn. Sie hatten eine heiße Spur, bloß festnehmen konnten sie den Verdächtigen bislang nicht. Seine letzte bekannte Adresse war Potsdamer Straße 32 in Zehlendorf. Nun war er verschwunden, abgetaucht mit Schmuckstücken im Wert von hunderttausend Mark. Ihren Ermittlungen nach war der Verbrecher über Wien nach Italien geflüchtet. Sie hatten schon vor zwei Monaten ein Fahndungsersuchen an die italienischen Kollegen geschickt.

Es gab deswegen seit Wochen Druck von oben, und zwar heftig. Denn immerhin handelte es sich bei den Opfern um die 56-jährige Gattin und die 77-jährige Schwiegermutter eines bedeutenden Berliner Industriellen. Und der hatte Freunde in den höchsten Kreisen. Ob es schon eine Nachricht aus Rom gab? Kappe glaubte nicht daran. Er hatte kein allzu großes Zutrauen zu den Kollegen. Und in wenigen Tagen war Pfingsten, da taten die erzkatholischen Italiener ohnehin keinen Strich.

Kappe schaute auf die Uhr. Das Dienstende war noch nicht erreicht, dafür hatte Kappe genügend Überstunden. Jemand wollte nicht, dass er weiter ermittelte? Gut, dann konnte auch niemand etwas dagegen haben, dass er nicht pflichtgemäß in das Büro am Alexanderplatz, sondern ausnahmsweise mal früher nach Hause ging.

Er schaute in dessen Büro. Es war noch immer leer. Hatte Lempel auch Schichtende? Nein, er würde sicher trotzdem auf ihn gewartet haben. Es gab einen Grund für sein Verschwinden. Seltsam. Wirklich sehr seltsam.

Kappe marschierte sicherheitshalber zur Herrentoilette, öffnete die Tür und rief nach einigem Zögern in den gekachelten Raum: «Lempel, bist du da?»

Er bekam keine Antwort. Aha, eine Tür war verschlossen. Kappe rüttelte an der Klinke. «Lempel?»

«Nee, hier is keen Lempel. Kamma in diesem Laden nich ma in Ruhe scheiß’n?»

«Entschuldigung», murmelte Kappe und verließ die ungut duftende Stätte.

Was war mit Lempel, warum war er abgehauen? Kappe beschloss, noch einmal zum Pförtner zu gehen. Vielleicht hatte er dort eine Nachricht hinterlassen.

Der Mann saß inzwischen wieder in seinem Kabuff und war keineswegs erfreut, ihn wiederzusehen.

Er machte den Mund erst auf, nachdem Kappe ihn angebrüllt hatte: «Das ist eine Ermittlung in einem Todesfall! Geben Sie mir Ihren Namen!» Kappe zückte sein Notizbuch. So etwas wirkte immer.

«Belzig, Johann Belzig. Is ja jut. Aba et war schon ein Herr da. Hab allet erzählt. Morack heesster, jloobe ick.»

Kappe war verwirrt. Morack war doch ins Auto gestiegen. Oder nicht? War er etwa zurückgekommen, während er sich oben das Zimmer angeschaut hatte? So, so, er hatte ermittelt. Aber warum? Auf Befehl von Müller? Aus eigenem Antrieb? Das wurde ja immer mysteriöser! «Und was haben Sie ihm erzählt?»

«Nüscht.»

«Wie nüscht? Haben Sie etwas Ungewöhnliches beobachtet?»

«Nicht, dass ick wüsste. Wat soll ich denn beobachtet ham?»

«Ist jemand aufs Betriebsgelände gegangen, den Sie nicht kannten? Oder ist jemand rausgelaufen, der sehr nervös war und es sehr eilig hatte?»

«Nee, hab nix jesehen. Außer Ihnen.»

Ein gewisses Funkeln in den Augen des Mannes verriet Kappe, dass der Pförtner etwas zurückhielt. Wahrscheinlich hatte Morack ihn schon geeicht. Ja, dieser Belzig hatte ganz offensichtlich Angst. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn.

«Haben Sie einen Mann rausgehen sehen? Dünnes Haar, blaugraue Augen, ziemlich groß, so in meinem Alter? Hat er Ihnen eine Nachricht für mich übergeben?»

Das Gesicht des Pförtners verdüsterte sich. «Ach, den Lempel meinen Sie? Der, wo ausbilden tut? Wat ham Se denn nu wieder mit dem? Also, der hat damit bestimmt nüscht zu tun. Det is ’n Anständiger und kümmert sich um die Leute. Auch um die da.» Belzig wies mit dem Kopf auf die Fenster, in denen Kappe vorher die grauen Gesichter gesehen hatte.

«Nein, nein, ich glaube nicht, dass er etwas damit zu tun hat. Er ist nur aus unerklärlichen Gründen verschwunden. Ich hatte noch etwas mit ihm zu besprechen. Und - hat er eine Nachricht hinterlassen?»

Belzigs Gesicht hatte sich wieder etwas aufgehellt. «Nee, hatter nicht. Hatte es eilig. Muss zum Unterricht, hatter jesagt. Ja, so war det. Un nu? Ham Se noch mehr Fragen?»

«Nicht für den Moment. Es kann aber sein, dass ich später noch welche habe. Wo finde ich Sie?»

Sofort kehrte das Misstrauen in das Gesicht des Mannes zurück. «Na, wo wohl! Oder globen Se, dat unsereiner heutzutage nur noch eine Schicht schieb’n muss? Bin die janze Nacht hier.

Aber ick hab nüscht mehr su sag’n. Gar nüscht.»

«Das zu beurteilen, überlassen Sie mal mir», erklärte Kappe hoheitsvoll und stapfte davon.

«Allet Arschlöcher, eener wie der andere», klang es gemurmelt hinter ihm her.

Kappe beschloss, das zu ignorieren.

Er stapfte mürrisch in Richtung der nächsten Haltestelle der Nord-Süd-Bahn und fuhr bis Friedrichstraße. Dann ging es mit der Stadtbahn weiter zum Alexanderplatz und anschließend mit der Elektrischen zum Strausberger Platz. Zeit genug, um seinen Zorn abzukühlen. Doch vorher musste er noch einmal zu Lempel. Der war jetzt sicher von der Toilette zurück.

Auf dem Weg durchs Tor auf die Straße griff er in die Tasche. Ja, er hatte die Monatsgrundkarte dabei, die seit letztem Jahr für U-Bahn und Straßenbahn ausgegeben wurde. Sogar die Preise für die Zeitkarten waren seit Februar 1942 herabgesetzt. Seit April gab es zudem eine weitere Obuslinie zwischen Steglitz und Mariendorf, die dritte in Berlin nach der Strecke Spandau–Staaken und der vom Breitenbachplatz über Steglitz nach Marienfelde. Das war ein Glück, denn mangels Benzin standen viele Autobusse. Die, die fuhren, zogen meist einen Anhänger hinter sich her, in dem Holzgas produziert wurde. Auch andere motorisierte Fahrzeuge an der Heimatfront fuhren schon damit. Die Firma Büssing stattete ihre LKWs - besonders die, die an die Deutsche Reichsbahn geliefert wurden - inzwischen serienmäßig mit Holzgasgeneratoren aus. Kappe hatte sich von Klingbeil, der zwar studierter Chemiker war, aber von Berufs wegen nun mal der Mann für alles Technische, erklären lassen, wie das ablief. In einem Behälter hinter dem Fahrerhaus wurde Holz verkokelt, das dabei entstehende Gas konnte - bei gewissen Änderungen am Motor - für den Antrieb verwendet werden. Kappe hatte einmal eine entsprechende Anzeige der Firma Büssing gelesen: Holz. Ein Rohstoff, den deutscher Erfindergeist als Quelle neuer Werte erschließt. Werte, na ja …