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«Aber dann hast du doch ganz nach Vorschrift gehandelt. Wo liegt das Problem? Weshalb bist du suspendiert?»

«Die Waffe wurde nicht gefunden», antwortete Otto leise. Dem angespannten Klang seiner Stimme entnahm Kappe, wie sehr ihm die Sache an die Nieren ging.

«O Junge!», sagte Kappe.

«Da ist noch was. Ich hab nur einmal geschossen, ganz sicher. Es sind aber drei Schüsse gefallen. Die Kollegen haben das auch gehört. Sie suchen jetzt alles nach Patronenhülsen ab, aber bisher Fehlanzeige. Da stimmt doch was nicht! Onkel Hermann, kannst du mir helfen? Wenn die Frau es nicht war, die geschossen hat, wer dann? Vielleicht hat es jemand auf die Frau abgesehen und die günstige Gelegenheit der Razzia genutzt. Wenn du mich fragst, dann hieße das doch, ich sitze tief im Schlamassel und sie schwebt in Gefahr.»

«Oder der Tipp war doch keine Ente, und jemand hat auf dich geschossen, Junge.»

«Das glaub ich nicht. Warum sollte das jemand tun?»

«Vielleicht waren die Fälscher doch in der Wohnung und sauer, dass sie wegen euch flüchten mussten. Könnte doch sein.»

«Ach, Onkel Hermann, das ist alles Stochern im Nebel. Jetzt muss ich erst mal meine Unschuld beweisen. Hilfst du mir?»

«Selbstverständlich! Was kann ich tun?»

«Auf jeden Fall ist an der Sache was faul. Ich muss einfach wissen, was dahintersteckt – darf aber vorerst nicht mehr ermitteln. Wie soll ich das denn aushalten? Einfach nur rumsitzen, das kann ich nicht! Ich würde wenigstens gerne zu der Frau ins Urban-Krankenhaus gehen, um mich zu entschuldigen. Falls sie mich überhaupt sehen will. Es ist vielleicht besser, ich hab jemanden dabei, einen Zeugen, zur Sicherheit. Damit nicht noch irgendwer denkt, ich wolle sie beeinflussen oder so. Na ja, und du bist auch ein erfahrener Mann, vielleicht könnest du …»

«Jut, machen wir! Wann willste hin?»

Otto sah ihn flehend an. «Am liebsten gleich. Ich bin unruhig, solange ich nicht weiß, wie es der Frau geht. Außerdem hab ich nichts anderes zu tun.»

«Weiß Trudchen schon davon?»

Otto schüttelte den Kopf. Er sah aus wie ein geprügelter Hund. «Nee, hab meiner Frau noch nix gesagt.»

Kappe nickte. «Dann lass uns gehen!» Er stand auf, stapfte in den Gang und wickelte sich wieder in seine Polarausrüstung, die am Kleiderhaken an der Wohnungstür hing. Otto tat es ihm gleich.

Klara, die noch immer in der Küche herumfuhrwerkte, sie aber offenbar gehört hatte, riss die Tür auf, und ein appetitlicher Geruch von gebratenen Bücklingen strömte ihnen entgegen. «Grog kommt gleich. Otto, willst du mitessen?» Sie stockte. «Nanu, wo wollt ihr denn hin?»

Die beiden Männer sahen sich verlegen an. «Wir haben noch einen Krankenbesuch zu machen, bei einer Bekannten von uns beiden», schwindelte Hermann Kappe. Erst mal hatte Gertrud das Recht, von der misslichen Lage zu erfahren, in der ihr Mann steckte. Klara konnte er das alles später noch erklären.

«Muss das jetzt sein? Ich meine, das Essen ist bald fertig – Bückling, Bratkartoffeln und dicke Bohnen. Kommt ihr bald wieder?»

«Ich bleib nicht lang», versprach Kappe.

Und Otto sagte: «Tut mir leid, Tante Klara! Danke für das Angebot, aber ich ess wohl lieber daheim. Trudchen wartet auf mich.»

Bevor Klara Kappe noch eine weitere Bemerkung machen konnte, waren die Männer aus der Wohnung und zogen die Tür hinter sich zu.

Anfangs wollte ihnen im Urban-Krankenhaus niemand sagen, in welchem Zimmer sich die Frau befand, die an diesem Morgen angeschossen worden war. Also zückte Otto doch seine Dienstmarke. Daraufhin erfuhren sie, dass die Verwundete auf der Inneren lag. Die Stationsschwester erklärte ihnen, dass es ihr gutgehe. Es sei viel weniger schlimm, als anfangs befürchtet. Die stark blutende Wunde am Hinterkopf, wohl durch den Sturz verursacht, sei genäht worden. Die Schussverletzung habe sich als Streifschuss an der rechten Seite entpuppt, der keine größeren Schäden angerichtet habe, vor allem keine inneren Verletzungen.

Kappe konnte an Ottos Gesichtsausdruck sehen, dass dem ein ganzes Gebirge vom Herzen fiel. Obwohl er suspendiert blieb, bis bewiesen war, dass er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.

Schon sehr viel entspannter, traten sie ins Krankenzimmer der Patientin. Aus drei Betten schauten ihnen Frauengesichter entgegen, die Otto fremd waren Das vierte Bett war leer.

«Wo ist sie?», stammelte Otto.

Eine ältere dicke Frau lächelte milde. Eine andere, wohl mittleren Alters, schnaufte nur und schloss die Augen. Die dritte, um die dreißig vielleicht, fragte: «Sind Sie der Mann von ihr?»

«Kriminalpolizei», sagte Hermann Kappe an Ottos Stelle. «Wo ist Ihre Zimmergenossin? Wir müssen ihr ein paar Fragen stellen.»

«Wech», antwortete die ältere Frau.

«Was heißt wech?», fragte Kappe senior verblüfft.

«Seit wann verstehn die Berliner Kriminaler kein Deutsch mehr? Wech. Wissen Se nich, wat dit heeßt? Ick hätt jetzt jern meine Ruhe. Sie sind hier nämlich innem Krankenzimmer, und mich ham se erst gestern Morgn operiert. Also!» Damit schloss die mittelalte Patientin wieder die Augen.

«Aber sie kann doch nicht einfach so …», hob Otto an.

«Ida hat gesagt, sie müsse dringend weg, hat ihre Sachen gepackt und sich aus dem Zimmer geschlichen. Die Schwestern wissen noch nichts davon. Sie hat uns beschworen zu warten, bis wir was sagen», erwiderte die junge Frau.

«Ida heißt sie also», sagte Hermann Kappe.

«Hat se jesacht», fiel die Dicke ungeduldig ein.

«Und warum wollte sie so dringend weg?»

«Dit hat se nich jesagt», antwortete die am Vortag Operierte. «Also, jehn Se nu?»

«Ja, wir gehen ja schon», sagte Kappe.

Als sie den Stationsarzt endlich aufgetrieben hatten, konnte der ihnen auch nicht mehr sagen. Er wusste noch nicht einmal, wie die verschwundene Patientin mit Nachnamen hieß, und zuckte nur müde mit den Schultern. Es sei zu viel zu tun. Ständig kämen Leute mit Erfrierungen oder Brüchen nach Stürzen auf glatten Bürgersteigen rein. Er komme kaum nach. Aber vielleicht wüssten die Kollegen in der Notaufnahme mehr.

Die junge Krankenschwester, die dort Dienst tat, war geschockt, als sie vom Verschwinden der Frau erfuhr. Papiere habe diese nicht bei sich gehabt. Sie habe sich zudem geweigert, ihren Namen zu nennen. Weil sie sehr verwirrt gewirkt, offenbar unter Schock gestanden und stark aus einer Kopfwunde geblutet habe, sei sie von der Notaufnahme zunächst in die Chirurgie überwiesen worden. Es sei dringender gewesen, das Blut zu stillen und die Schusswunde zu versorgen, als Papiere auszufüllen. Danach sei sie auf die Innere verlegt worden. Eigentlich habe sie demnächst nach ihr schauen wollen.

«Aber nun ist sie weg», sagte Hermann Kappe.

«Ja, nun ist sie weg», wiederholte sein Neffe.

«Und was machen wir nun?», fragte die Krankenschwester.

«Gute Frage», sagte Hermann Kappe. «Ich denke, wer die Rechnung bezahlt, müssen Sie selbst klären. Wir gehen dann.» Damit nickte er der Schwester zu und machte sich mit Otto auf den Weg nach draußen. «Und wir beiden Hübschen, lieber Neffe, sollten herausfinden, wem die fragliche Wohnung eigentlich gehört», fügte er an, während sie durch den Flur marschierten.

Otto nickte. «Ich werd meine Quellen anzapfen. Das solltest du am besten auch tun, Onkel Hermann. Vielleicht kriegn wir denn ’nen Hinweis, woher der Tipp jekommen is.»

«Männerstimme? Frauenstimme?», hakte Kappe nach.

«Wees ick nich.»

«Dann wissen wir wirklich nicht viel», antwortete Kappe, machte aber ein zufriedenes Gesicht. Die Entwicklung war zwar sehr unerfreulich, aber ihre Nachforschungen schienen Otto ein wenig abzulenken, er wirkte schon ein wenig gefasster. Und er selbst konnte endlich mal wieder arbeiten, anstatt Klara auf Märkte zu begleiten und Bücklinge zu kaufen. Dass er seinem Neffen half, dagegen konnte selbst Klara nichts einwenden. «Wie ist das mit deinen Kollegen? Könntest du jemanden von ihnen um Hilfe bitten? Wir werden sie wohl brauchen.»

Otto zögerte eine Weile und nickte dann. «Günther Kynast. Der ist ziemlich schnoddrig, gibt sich abgebrüht, aber eigentlich ist er ’ne gute Seele. Rückert natürlich. Und dann noch Hans-Gert.»

«Hans-Gert? Der Enkel vom ollen Gustav Galgenberg? Ich dachte, der sollte versetzt werden.»

«Nee, sie haben ihn dann doch hierbehalten. Der Chef war wohl der Meinung, Kappe zwei und Galgenberg zwei könnten ein gutes Team ergeben. Allerdings ist Hans-Gert gerade im Urlaub, er kommt nächste Woche wieder.»

«Dann ist ja gut», meinte Kappe und bekam Sehnsucht nach dem ollen Gustav Galgenberg. Der sah längst die Primeln von unten. Wenn dessen Enkel so gut mit Otto zusammenarbeitete wie er einst mit Galgenberg, dann konnten alle sich glücklich schätzen. «Vielleicht sollten wir damit anfangen, dass wir uns die Wohnung am Fraenkelufer noch mal genauer anschauen. Womöglich ist der Inhaber oder die Inhaberin jetzt zu Hause. Wenn wir Glück haben, handelt es sich sogar um diese Ida Sowieso, und wir können mit ihr reden.»

KAPITEL DREI

in dem eine Frau verzweifelt nach ihrer Nichte sucht

IDA BERKOWITZ hielt sich den ganzen Tag über in U-Bahn-Schächten und S-Bahnhöfen warm. Niemand achtete auf die schmale Frau mit dem grauen Wollschal über den Haaren, die in dem schweren Ulstermantel fast versank und sich mal da und mal dort hinsetzte. Manchmal zuckte sie zusammen, wenn die Wunde unter dem breiten Verband nach einer unbedachten Bewegung schmerzte. Keiner bemerkte es. Alle wollten nur eiligst von A nach B, vor allem aber schnellstens ins Warme.

 

Das war nicht ganz einfach, denn vor der Kälte kapitulierte nicht nur die Bevölkerung, sondern immer wieder auch die Technik. Es gab Oberleitungsschäden, und die Schienen waren teilweise durch den Frost geborsten. Die BVG bemühte sich zwar um Ersatzrouten und Ersatzfahrzeuge, aber das entspannte die Lage nur unwesentlich. Die Busse, die fuhren, waren brechend voll. Auf den Straßen herrschte allenthalben Chaos. Nicht weil viel Schnee gelegen hätte, sondern wegen der vielen Wasserrohrbrüche und weil Autos aller Fabrikate den Dienst versagten.

Überall, wo sich Menschen trafen, war die Kälte deshalb das beherrschende Thema. Während Ida Berkowitz durch Straßen, Tunnelschächte und U-Bahnhöfe irrte, fing sie im Vorübergehen Gesprächsfetzen auf. Die Boote der Wasserschutzpolizei konnten nicht mehr auslaufen, vom kleinsten Rinnsal bis hin zum Großen Wannsee war inzwischen alles zugefroren. In einigen Schulen waren sogar «Kälteferien» angeordnet worden, obwohl es so etwas in Berlin offiziell gar nicht gab. Die Leute unterhielten sich auch darüber, dass die Revierstreifen, die Funkwagenbesatzungen und die Verkehrspolizisten in Anbetracht des Frostes nicht länger als eine Stunde am Stück und nicht mehr als sechs Stunden am Tag Außendienst tun durften. Selbst in der Landespolizeidirektion schenkten sie heißen Tee aus. Die Verkehrsposten der Polizei bekamen auf Anordnung des Kommandos der Schutzpolizei Tee mit Rum in Thermoskannen mit. Die Eil- und Telegrammboten sowie die Briefträger konnten sich alle drei Stunden bei Tee im Postamt aufwärmen. Die Kraftfahrer der Post erhielten ebenfalls eine warme Stärkung, wenn um 10 Uhr morgens bereits 10 Grad Kälte herrschten.

Ida hatte keinen heißen Tee. Sie fror trotz des schweren Herrenmantels und des wärmenden Muffs für die Hände erbärmlich. Der Frost war ihr inzwischen durch die undichten Sohlen der Stiefeletten bis in die Seele gekrochen. Und sie hatte große Angst um Lenchen. Hoffentlich war ihre Nichte schlau gewesen und hatte sich in der Wohnung versteckt gehalten. Hoffentlich hatten die Polizisten sie nicht entdeckt. Und, das machte Ida die größten Sorgen, hoffentlich auch nicht die anderen. Die sie unter Druck setzten und sie zwingen wollten, für sie zu spionieren. Wenn sie es genau nahm, hatte sie eigentlich nur eine Hoffnung: dass sie Lenchen nicht erwischten, weil ihre Nichte offiziell überhaupt nicht existierte. Wenn sie erfuhren, dass es das Mädchen gab, würden sie es sicherlich holen kommen. In der Zone waren sie nicht zimperlich, wenn es um die Kinder verurteilter Zuchthäuslerinnen ging. Fünfzehn Jahre hatte ihre Schwester Ursula im Januar bei ihrem Prozess vor dem Stadtgericht bekommen. Nein, in der Zone durften sie auf keinen Fall herausfinden, dass es Lenchen gab. Sonst würden sie die uneheliche Tochter der Zuchthäuslerin wegholen, sie vielleicht sogar entführen und in eine parteikonforme Pflegefamilie stecken. So etwas hörte man immer wieder.

Und sie selbst? Warum schoss jemand auf sie? Sie hatte doch getan, was sie wollten. Vielleicht waren sie es auch gar nicht gewesen. Aber wer sonst sollte so etwas tun?

Sie dachte an Ursula, ihre kleine Schwester Ursula. Die gehörte zu denen, die in den Zeitungen der Zone KgU-Banditen genannt wurden. KgU stand für «Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit» – eine von den Amerikanern unterstützte West-Berliner Organisation, die in der Zone den Widerstand gegen die SED unterstützte. In der Berliner Zeitung war Ursula als gewissenlos und frech beschrieben worden, als Seelenverkäuferin, die nicht menschlich denke und fühle, als Agentin der KgU-Verbrecherzentrale, die Namen und Adressen von Mitarbeitern volkseigener Betriebe an den Westen verkauft haben solle. Ida erinnerte sich genau an die Sätze, hatte sie immer und immer wieder gelesen.

Ungerührt bekannte die Berkowitz auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden, ob sie den Hauptagenten Latschetschek – mit dem sie schlief, als ihr Mann im Krankenhaus lag – nach dem Wofür gefragt habe: «Er sagte mir, dass es für die Ernst-Ring-Straße sei.» Vorsitzender: «Wussten Sie, was da ist?» Angeklagte: «Ja, ich wusste aus Unterhaltungen, dass dort die KgU-Zentrale ist. Ich wusste, dass man es für Spionagezwecke haben wollte.»

Spionagezwecke – wie sich das anhörte! Anfangs war es bei der KgU doch nur darum gegangen, eine Datei für einen Suchdienst aufzubauen, der in der Sowjetunion vermissten deutschen Soldaten nachspürte und damit den Angehörigen, denen der Suchdienst des Roten Kreuzes nicht helfen konnte, endlich Klarheit darüber verschaffen konnte, warum ihre Männer, Söhne und Brüder nicht längst heimgekehrt waren. Und ja, es ging auch um Vergeltung. Für das, was nach Kriegsende mit den Frauen geschehen war. Zum Beispiel mit Ursula, der angehenden Ingenieurin, die ihrer Tochter Lenchen niemals in die Augen sehen konnte.

Und so hatte Ida ihre Nichte Lenchen zu sich genommen, das Kind, von dem niemand wissen durfte. Auf Letzterem hatte Ursula bestanden. Latschetschek – mit dem sie schlief. Ida fragte sich, wo sie das nun wieder herhatten. Ursula hatte keinen Geliebten. Sie schlief mit keinem Mann. Seit damals nicht mehr.

Was geschehen war, konnte niemand ändern. Doch Ida durfte nicht zulassen, dass sie Lenchen bekamen. Obwohl sie zunehmend Schwierigkeiten miteinander hatten, liebte sie das Mädchen von Herzen.

Lenchen war meist in sich gekehrt und ertrug es nicht, wenn man ihr zu nahe kam. Sie überfielen dann regelrechte Tobsuchtsanfälle, bei denen sie nicht mehr zu wissen schien, was sie tat. Ida hatte sich mehr als einmal gefragt, ob sich die Umstände der Zeugung eines Kindes vom Moment der ersten Teilung der Eizelle an in der Seele eines Fötus festsetzen konnten. Aber sie wusste, dass das Unsinn war.

Nein, es war nicht immer einfach gewesen mit Lenchen. Dennoch hatte sie ihre Nichte so gut es ging selbst unterrichtet und sie, wann immer es ihr möglich gewesen war, nach draußen gebracht und ihr die Welt außerhalb der Wohnung gezeigt. Seltsamerweise hatte es Lenchen in den ersten Jahren nicht viel ausgemacht, die meiste Zeit ihres Lebens drinnen zu verbringen. Doch das hatte sich inzwischen vollkommen geändert.

Vielleicht lagen ihre zunehmenden Probleme mit dem Kind auch daran, dass Lenchen langsam zu begreifen begann, dass bei ihr einiges anders war als bei anderen Kindern. Sie stellte Fragen. Aber Lenchen war doch erst elf Jahre alt! Was hätte sie ihr antworten sollen? Ida spürte, dass ihre Nichte ihr nicht mehr vertraute. Sie wurde zunehmend verstockter, und inzwischen verschwand sie einfach immer wieder tagelang. Ida hatte den Verdacht, dass sie stahl. Sie hatte Lenchen vorsichtig darauf angesprochen. Doch diese hatte äußerst aggressiv auf ihre Vorhaltungen reagiert und war dann wieder einmal einfach abgehauen.

Sie konnte das Kind doch nicht einsperren! Lenchen hatte recht, wenn sie Aufklärung einforderte und fragte: «Warum muss ich mich immer verstecken? Warum darf niemand wissen, dass es mich gibt? Weil du dich für mich schämst? Weil du nicht willst, dass die Leute von deiner unehelichen Tochter wissen?» Lenchen hielt sie für ihre Mutter. Das Kind wusste von nichts. Wie sollte man ihm auch sagen, dass es das Ergebnis einer Vergewaltigung war und die wirkliche Mutter seine Gegenwart nicht ertrug? Dass die Mutter im Zuchthaus saß und ihr Vermögen eingezogen worden war. Wie sollte man das einem Kind sagen?

Anfangs waren Ursula und sie tatsächlich bei einigen kleineren Sabotageakten der KgU dabei gewesen, aber inzwischen schon lange nicht mehr – nicht mehr, seit es 1951 und 1952 eine Welle von Todesurteilen in der DDR gegeben hatte. 250 Angeklagte hatten vor Sowjetgerichten gestanden, 70 Todesurteile wegen «konterrevolutionärer Verbrechen» hatten die Militärtribunale auf der Grundlage des Artikels 58 aus dem Strafgesetzbuch der RFSSR, der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepubliken, ausgesprochen. Das durften sie seit dem Vertrag von Jalta und dem Genfer Abkommen von 1949. Ursulas Mann hatten sie auch hingerichtet. Ulrich, von dem sie sich gleich nach der Vergewaltigung hatte scheiden lassen und der weder von der Gewalttat noch von Lenchen je etwas erfahren hatte.

Ein halbes Jahr vor Ursulas Verhaftung hatte Ida sich zusammen mit Lenchen eine Bleibe im Westen gesucht. «Republikflucht» nannten sie das in der Zone. Darauf standen schwere Strafen. Dann war sie zur SPD und zur KgU gekommen, hatte sich dadurch Freunde und einen gewissen Schutz erhofft. Aber die hatten ihr auch nicht helfen können. Die Spitzel vom MfS, dem Ministerium für Staatssicherheit, hatten sie am Ende doch gefunden. Sie musste es also allein schaffen, irgendwie. Was sollte aus Lenchen werden, wenn sie selbst auch noch ins Gefängnis kam? Wenn sie nicht tat, was die wollten, blühte ihr das sicher. Es gab genügend Beispiele für Menschen, die aus West-Berlin in die Zone entführt worden waren, und für drakonische Urteile, auch wegen «Republikflucht».

Ein Mitangeklagter von Ursula, Ewald Janike aus Köpenik, ein ehemaliger Volkspolizist, war wegen «Spionage, Hetze und terroristischer Umtriebe» zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Und warum? Weil er genau das Gleiche wie sie selbst für die KgU getan hatte: Er hatte in Briefen Berliner in der Zone zur «Flucht nach dem Westen» zu überreden versucht. Außerdem sollte er die Stärke der Arbeiterkampfgruppen in den ihm bekannten Betrieben verraten und dem «Klassenfeind» Hinweise für die Durchführung von Sabotageakten gegeben haben.

Und jetzt hatte sie selbst einen Sabotageakt verübt – aber gegen ein West-Berliner Unternehmen: die Gasag, die Gaswerke AG. Ihr wurde schlecht, wenn sie nur daran dachte. Nun arbeitete sie also für das MfS. Sie hatten sie dazu gezwungen und gedroht, sie sonst wegen «Republikflucht» in ein Ostgefängnis zu schaffen. Und sie hatten sie erpresst, mit Ursula.

«Wollen Sie denn nicht, dass Ihre Schwester im Gefängnis einige Erleichterungen bekommt? Es kann hart werden für jemanden, der draußen keine Freunde hat. Es gäbe sogar die Möglichkeit, ihr das Leben schwerzumachen, wenn Sie nicht mitziehen. Anderenfalls könnten wir uns womöglich sogar bereit erklären, Ihre Schwester in den Westen zu entlassen. Gegen Devisen. Sie haben doch Devisen?» Das waren die Worte ihres Kontaktmanns Lars Bendler gewesen. 30 000 Mark wollten sie haben. Für diese Summe und für ihre Mitarbeit waren sie bereit, Ursula freizugeben.

«Woher soll ich 30 000 Westmark nehmen?», hatte sie Bendler gefragt. «So viel Geld bekomme ich von meinem Sekretärinnengehalt nie im Leben zusammen.»

«Das kriegen wir schon hin. Arbeiten Sie nur fleißig für uns! Es gibt vieles, was Sie für uns tun können. Sich umhören zum Beispiel, in der KgU, im SPD-Büro Ost. Dort, wo unsere Feinde sitzen. Wir bezahlen Sie für die Informationen und legen die Summe auf ein Konto. Ausnahmsweise. Wenn Sie sich die 30 000 Mark erarbeitet haben, lassen wir Ihre Schwester frei. Und denken Sie daran, wir behalten Sie immer im Auge!»

Daraufhin war sie in der geheimen Wohnung der KgU am Fraenkelufer untergetaucht. Bei diesem undurchsichtigen Peter Klaus. Sie hatten sich bei einer KgU-Versammlung getroffen, und er hatte mit seinen Kontakten geprahlt und ihr hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass er die geheimen Wohnungen der KgU kenne. Normalerweise hätte Ida sich nie an einen solchen Schwätzer gewandt, doch jemand anderes war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen.

Vielleicht würden die von drüben sie vergessen und sich ein anderes Opfer suchen. So hatte sie sich das jedenfalls erhofft. Wie hatte sie nur so naiv sein können! Wahrscheinlich waren sie ihr nach der Arbeit von der Gasag bis zu der Wohnung gefolgt. So musste es gewesen sein. Sie hatte nichts bemerkt, sich eingebildet, ganz vorsichtig gewesen zu sein. Doch das waren geschulte Agenten, und sie war nur eine ganz gewöhnliche Frau, eine Sekretärin. Noch nicht einmal technisch begabt, anders als ihre Schwester Ursula.

Peter Klaus hatte sie nicht gerne aufgenommen, obwohl er von Bendler nichts wusste. Er lebte auch nur zeitweise am Fraenkelufer, immer dann, wenn er selbst untertauchen musste oder einen seiner «Kontakte» traf. Aber er hatte sich breitschlagen und Lenchen und sie bis auf weiteres dort wohnen lassen.

Doch man entkam diesen Leuten nicht, wenn sie sich erst einmal festgebissen hatten, das hätte sie eigentlich wissen müssen. Dieser Bendler vom MfS, Deckname «Käthe», hatte sie auf dem Weg zur Arbeit abgepasst. «Käthe». Wie albern – und gleichzeitig verharmlosend! Das klang nach Käthe-Kruse-Puppe. Nun, ihr eigener Deckname war auch nicht viel besser. Ja, sie hatte jetzt ebenfalls einen: «Mäuschen». Eine Verniedlichung des Irrsinns, das waren diese Namen.

 

Das war überhaupt alles absurd. Ida wusste, sie musste den anderen von der KgU eigentlich erzählen, dass das MfS von der Wohnung am Fraenkelufer wusste. Auch für die Genossen von der SPD wäre es wichtig gewesen zu erfahren, dass das MfS an einer der Ihren dran war. Aber wie sollte sie das erklären? Sie wäre aufgeflogen. Ida hasste sich für diese Heimlichtuerei. Zeit ihres Lebens war sie immer geradeheraus gewesen. Inzwischen lagen ihr die vielen Geheimnisse, die sie bewahren musste, wie Steine auf der Seele.

Erneut fragte Ida sich, von wessen Kugel sie erwischt worden war. Dieses ganze Geflecht aus Lügen und Betrügereien war so schwer zu durchschauen. Waren die Leute von der KgU oder der SPD dahintergekommen, dass sie ein doppeltes Spiel spielte? Die hatten alle Kontakte zur Organisation Gehlen oder zur CIA, während sie ganz allein für ihre Familie kämpfen musste. War es die Kugel des Kommissars gewesen oder die eines Unbekannten, der sie im Auftrag des MfS umbringen sollte? Jetzt, wo sie getan hatte, was sie sollte, wurde sie wohl nicht mehr gebraucht. Oder sie wollten sie nur erschrecken und zur Räson bringen, damit sie brav weiterfunktionierte. Denn wenn diese Leute schossen, dann trafen sie meist auch. Dabei wäre es überhaupt nicht nötig gewesen, ihr Angst zu bereiten. Davon hatte sie auch so genug.

Für das Gaswerk Mariendorf, wo sie als Sekretärin arbeitete, würden die Zeitungen morgen eine innerbetriebliche Störung melden. In diesen kalten Tagen war es besonders schlimm, wenn es auch noch Probleme mit dem Gas gab. Die Berliner Elektrizitätswerke, die BEWAG, schafften es entgegen den Meldungen in den Zeitungen tatsächlich kaum, genügend Energie für all die Heizsonnen zu erzeugen, die in diesen Tagen angeschaltet wurden. Nicht auszudenken, wenn jetzt auch noch die Gasthermen ausfallen würden! Aber genau das wollten die im Osten. Im Westen von Berlin sollte alles vor die Hunde gehen, während sie im Osten mit einer reibungslosen Versorgung der Bevölkerung glänzen konnten.

Dafür waren ihnen alle Mittel recht. Sie setzten selbst auf ihre eigenen Leute Spitzel an, zum Beispiel auf Mitarbeiter von wichtigen Stromerzeugern der Stadt wie den Kraftwerken Klingenberg und Rummelsburg. Die lagen seit der Teilung im Sowjetischen Sektor. Dort waren sie auf der Hut, seit die KgU einst für Störfälle gesorgt hatte, um die Bevölkerung gegen die Regierung in Pankow aufzubringen. Es hatte nichts genutzt. Im Gegenteil, nun wandten die aus der Zone dieselben Methoden im Westen an. Irgendwie konnte Ida es ihnen noch nicht einmal verdenken. Aber sie war zu ihrem Werkzeug geworden. Ihr wurde erneut flau bei dem Gedanken. Was hätte sie auch tun sollen? Sie hatte keine andere Wahl gehabt.

Dass es das MfS war, das sie ausschalten wollte, schien ihr plötzlich am wahrscheinlichsten zu sein. Es musste noch eine weitere Person im Betrieb geben, die für den Osten arbeitete. Wie sonst hätten sie wissen können, dass sie diese neue Anlage zur Heizölspaltung schon beschädigt hatte und also nicht mehr gebraucht wurde? Ohne Uwe Müllers Fachwissen wäre ihr das nie möglich gewesen. Ob sie nun auch hinter ihm her waren? Sie musste ihn unbedingt warnen.

Aber woher wusste die Polizei schon von dem Störfall? Und wie waren sie so schnell auf sie gekommen und hatten auch noch herausgefunden, wo sie steckte? Oder hatte es ganz andere Gründe dafür gegeben, dass die Polizisten aufgetaucht waren?

Vielleicht hätte sie einfach bleiben sollen. Doch sie war kopflos weggelaufen und hatte Lenchen noch schnell befohlen, in ihrem Versteck in der Küche auf sie zu warten. Doch Lenchen hielt sich schon lange nicht mehr an Befehle, sie tat, was sie wollte.

Ida Berkowitz zog die rechte Hand aus dem Muff und schaute auf die Uhr. Ihr Kopf und die Verletzung an ihrer Seite pochten um die Wette. Sie musste dringend Schmerzmittel auftreiben. Am Abend würde Bendler am vereinbarten Treffpunkt auf sie warten. Ob sie hingehen sollte? Sie musste. Vorher musste sie aber unbedingt noch einmal in die Wohnung am Fraenkelufer, um nach Lenchen zu sehen. Vielleicht fand sie dort auch noch Tabletten, die ihre Schmerzen etwas linderten. Hoffentlich war das Mädchen da. Hoffentlich!