Operation Gold

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Wilma Wuttke kam mit dem Schlüssel zurück. Kappe schreckte hoch. «Tut mia leid, Herr Oberhauptkommissar. Ick hab den Schlüssel nich gleich jefundn. Denn lassen Se uns mal nach oben gehen!»

Kappe schüttelte den Kopf. «Nein, gnädige Frau, das geht leider nicht. Sie müssten unten bleiben. Wer weiß, was ich da oben finde. Vielleicht ist Ihrem Nachbarn ja was passiert.»

«Mein’ Se? Nee, sicher nich hia. Den ham se doch mitjenomm.»

«Verstehe», sagte Kappe, der nicht sicher war, ob er das alles verstand, aber hoffte, in der Wohnung dieses Schmücke Aufklärung zu erhalten. «Jedenfalls ist es besser, ich gehe erst mal allein.»

«Na jut, wenn Se meinen, Herr Kriminaler.»

Dem Umstand, dass Wilma Wuttke ihm in der Anrede kurzerhand wieder alle Dienstränge weggenommen hatte, entnahm Kappe, dass sie sehr unzufrieden mit ihm war. Er nickte ihr zum Abschied zu und erklomm die Treppe in den Vierten. Er hörte, wie die Türe der Witwe zuknallte.

Der Schlüssel verschaffte ihm ohne Probleme Zutritt zur Wohnung dieses Schmücke. In der nächsten Sekunde stockte er in der Bewegung. Im Flur lag Papier herum. Ein Schränkchen war umgekippt, eine Schublade herausgerissen, die beiden anderen gähnten ihm geöffnet entgegen. «Hallo, ist hier jemand? Herr Schmücke? Kappe, Kriminaloberkommissar. Ist Ihnen etwas passiert?»

Keine Antwort.

Er ging vorsichtig weiter und spähte um die Ecke in die Stube. Nein, hier war niemand. Aber es war ganz sicher jemand da gewesen. Und dieser Jemand hatte in der Wohnung gewütet wie ein Berserker. Die Kommode, der Schrank, der Tisch und die Stühle waren nur noch Sperrmüll. Aus der Sofapolsterung und der Matratze im Schlafraum quollen die Gedärme in Form von Putzwolle und alten Lappen. Die Bilder an der Wand, zwei Drucke von Miró, hingen schief. Die Anrichte in der kleinen Küche bestand nur noch aus herumliegenden Brettern, das Geschirr war zerschlagen worden.

Es knirschte unter Kappes Füßen. Er bückte sich und hob einen silbernen Bilderrahmen hoch. Silber – oho! Das Glas war zersplittert, doch zwei der Personen auf der Fotografie waren noch gut zu erkennen. Eine ältere Frau, um die vierzig vielleicht, sowie ein junges Mädchen, beide mit lockigen blonden Haaren und hellen Augen, soweit er das auf der Schwarzweißaufnahme erkennen konnte. Offenbar Mutter und Tochter. Sie standen in Wintermänteln, dem Anschein nach umgeschneidert aus Wehrmachtsbeständen, vor dem Zaun eines gutbürgerlichen Einfamilienhauses mit Garten in einer Gegend, die Kappe nicht erkannte. Zwischen ihnen, den rechten Arm um die Schulter der Frau gelegt, stand ein Mann in der Uniformjacke der Geheimen Feldpolizei. Kappe vermutete, dass er etwa gleich alt sein könnte wie die Frau, konnte es jedoch nicht genau erkennen. Sein Gesicht war etwas zerkratzt, wahrscheinlich von den Glasscherben. Kappe nahm an, dass das Schmücke war.

Das Gefühl, dass dieser Schmücke Ärger machen würde, wurde noch intensiver. So, so, Geheime Feldpolizei … Das war die «Ordnungstruppe» der Nationalsozialisten innerhalb der Wehrmacht gewesen. Sie hatten spioniert, denunziert, Partisanen verfolgt, gefoltert und getötet. Insbesondere in den von den Deutschen besetzten sowjetischen Gebieten und kommandiert von Angehörigen der Gestapo oder der Kriminalpolizei. Wenn er es recht überlegte, wusste er nicht allzu viel über diese Leute. Alle Mitglieder der Geheimen Feldpolizei und auch ihre zivilen Helfer waren beim Ausscheiden aus dem aktiven Dienst zu absolutem Stillschweigen verpflichtet worden. Kappe vermutete, dass diese Mauer des Schweigens bis heute mehr als nur einen fanatischen Nationalsozialisten schützte. Man redete nicht, auch nicht übereinander. Es war eine verschworene Gemeinschaft.

So, und dieser Schmücke war angeblich Fernmeldefachmann, hatte also mit Nachrichtenaustausch zu tun, und trug früher die Uniform der Geheimen Feldpolizei. Was für eine Mischung! Das konnte ja heiter werden! Kappes Blick wanderte zwischen der Frau und dem Mädchen auf dem Foto hin und her. Schmücke hatte also Familie. Nun mussten sie nur noch herausfinden, wo sie lebte. Und wo er selbst steckte.

Offensichtlich hatte der Mann Feinde, was bei der Vergangenheit eigentlich nicht weiter verwunderte. Möglichkeiten gab es da genug. Es konnte sich zum Beispiel um ehemalige Partisanen handeln, die es ins Nachkriegsberlin verschlagen hatte, oder um Bewohner von ehemals besetzten Gebieten, die nach Rache dürsteten. Wer auch immer in Schmückes Wohnung eingedrungen war, er musste sehr zornig gewesen sein. Wenn die Eindringlinge schon den Möbeln mit einer derartigen Brachialgewalt begegnet waren, bedeutete das nichts Gutes für die körperliche Unversehrtheit des Bewohners. Kappe überlief es siedend heiß. Und wenn gar die Familie zu Besuch gewesen war? Nein, die Witwe Wuttke hatte nichts dergleichen erwähnt. Er durfte aber nicht vergessen, sie demnächst danach zu fragen.

Doch zunächst war das hier ein Fall für die Spurensicherung. Hoffentlich konnte er Klingbeil von der Kriminaltechnik loseisen, einen etwas weichlich wirkenden Mann, aber einen der detailversessensten und stursten im Bereich Spurenauswertung, die er kannte. Er brauchte auch Gerhard Piossek, mit dem er sich das Büro teilte. Kappe arbeitete gerne mit dem Kollegen. Er hielt ihn für einen kompetenten Mann. Ansonsten betrachtete er Piossek eher mit zwiespältigen Gefühlen. Der Sohn eines Bäckermeisters aus der Lichtenberger Pfarrstraße galt bei vielen Kollegen als arrogant. Er konnte sehr hochfahrend sein und war einst mit einiger Begeisterung in die NSDAP eingetreten. Zum Glück hatten ihn gnädige amerikanische Offiziere beim Entnazifizierungsverfahren als «Mitläufer» eingestuft, deshalb hatte er seine Laufbahn bei der Berliner Kriminalpolizei fortsetzen können. Vermutlich war es hilfreich gewesen, dass bei den Kämpfen in Polen seine rechte Hand durch einen Granatsplitter verstümmelt worden war. Kappe akzeptierte Gerhard Piossek als Kollegen. Doch dass sie einmal Freunde würden, hielt er für ausgeschlossen, obwohl sie schon etliche gefahrvolle Situationen miteinander durchgestanden hatten.

Während Kappe die Treppen hinunterstürmte, vorbei an der Wohnungstüre von Wilma Wuttke, fiel ihm noch etwas auf. Seltsam, das Wüten in Schmückes Wohnung musste einen Heidenlärm gemacht haben. Normalerweise aber vermieden es Verbrecher, auf sich aufmerksam zu machen. Hatten sie es in diesem Fall vielleicht darauf angelegt, dass jemand aufmerksam wurde? Jemand wie Wilma Wuttke?

Kappe war schon an der Wohnungstür der Witwe vorbei, als diese geöffnet wurde und die Frau ihm hinterher schaute. Sie hätte ihm von dem Hintereingang erzählen sollen, von dem aus man durch den Hinterhof in den Keller des angrenzenden Trümmerhauses kam, dachte sie. Das hatte sie bei all der Aufregung vergessen. Nun ja, bei nächster Gelegenheit würde sie das nachholen.

KAPITEL ZWEI
in dem Marie Palmer kurzen Prozess macht

GEGEN MITTAG war Marie Palmers Selbstbewusstsein zur Größe eines Staubkorns zusammengeschnurrt. Was war sie heute Morgen noch stolz und glücklich gewesen! Nicht nur, dass sie es geschafft hatte, einen Platz als freie Mitarbeiterin der Redaktion des Berliner Tagesspiegel zu bekommen. Darüber hinaus hatte sie noch einen Auftrag als Gerichtsreporterin bei ebendieser Zeitung ergattert. Und nicht irgendeinen Auftrag, sondern diesen.

Chefredakteur Erik Reger höchstselbst hatte gestern das Bewerbungsgespräch mit ihr geführt. Dabei war sie doch ein Niemand, eine von vielen jungen Menschen, die derzeit nach Berlin strebten und hofften, dort trotz der Teilung der Stadt ihr Glück zu finden. Vielleicht weil er wie sie selbst aus dem Rheinland kam. Nach einem ersten kritischen Blick auf ihre kurzen, karottenrot gefärbten Haare und einem anschließenden, sehr positiv verlaufenen Gespräch hatte er ihr eine Broschüre in die Hand gedrückt, quasi als Begrüßungsgeschenk.

Im Vademecum waren die strengen Sprachregeln des Hauses aufgelistet. Verpönt waren unter anderem die Worte vornehmen und durchführen. Alle aus dem Griechischen stammenden Begriffe mussten mit ph und durften nicht mit f geschrieben werden.

Danach hatte Reger sein Asketengesicht leicht zu etwas verzogen, von dem Marie annahm, dass es ein Lächeln sein sollte, ihr auf die Schulter geklopft und gesagt: «Dann mal los, Mädchen!» Darüber hinaus hatte er sie auf ihre flehentliche Bitte hin als «Aushilfe zur Probe» zu dem Prozess ins Moabiter Kriminalgericht abgeordnet. «Also gut, wenn Sie das derart interessiert! Ist vielleicht nicht mal schlecht. Corvus ist unser Mann für die GladowProzesse. Passen Sie gut auf, von dem Können des Kollegen können Sie sich eine Scheibe abschneiden!»

Erst Tage später begriff Marie, dass der Tagesspiegel wegen der Insellage West-Berlins in diesen Tagen ums Überleben kämpfte. Die Anzahl der Abonnements war seit der Gründung der beiden deutschen Staaten und wegen der Schwierigkeiten während der Berlin-Blockade in den Keller gerauscht, im Osten lasen sie andere Blätter. Einige gute Leute waren gegangen, im Ullsteinhaus auf dem Tempelhofer Feld herrschte nicht nur ein finanzieller, sondern auch ein personeller Engpass. Sie war gerade im richtigen Moment aufgetaucht – eine Anfängerin zwar, deswegen aber auch nicht zu teuer. Und vor allem keine Festangestellte, sondern eine Freiberuflerin.

Hans Corvus war an diesem Morgen jedoch verhindert. Plötzlicher Zahnarzttermin, hatte er ausrichten lassen. Er würde aber bald nachkommen. Marie gestand sich ein, dass sie froh darüber wäre, wenn er endlich eintrudelte. Denn sie schwamm gehörig, obwohl sie sich gestern im Archiv noch schnell in die Fakten eingearbeitet hatte. Es war nämlich schon der zweite Prozesstag, auf der Tagesordnung standen Zeugenvernehmungen. Und sie verstand fast nichts. Wegen der schlechten Akustik im Gerichtssaal verrauschte jedes gesprochene Wort zu einem Raunen. Sie musste sich zusammenreißen. Vielleicht würde sie heute dem Mann begegnen, nach dem sie schon so lange suchte – ihrem Stiefvater, Dieter Krug, der heute als Zeuge aussagen sollte.

 

Die Angeklagte in diesem Verfahren hieß Sigrid Dehne. Ihr wurde schwerer Raub in Tateinheit mit versuchtem Mord vorgeworfen. Sie sollte Mitglied der berüchtigten Gladow-Bande gewesen sein und im April 1949 beim Überfall auf einen Kaufmann mitgemacht haben, zusammen mit dem Bandenchef Werner Gladow und drei Komplizen, darunter dem Henker-Hannes.

Inzwischen war es bald zwölf, und Marie wusste aus den laufenden Zeugenbefragungen immerhin, die junge Frau mit dem ziemlich unerotischen Namen Sigrid Dehne nannte sich im Berufsleben Jane, nach ihrem großen Vorbild, der US-Schauspielerin Jane Wyman, und war Prostituierte. Und zwar trotz ihrer Jugend – oder vielleicht gerade deswegen – eine Prostituierte der besseren Art und zudem sehr beliebt bei ihren Kolleginnen, von denen drei Stein und Bein schworen, dass die Jane so was nie und nimmer getan habe. Sie sei die Sanftmut in Person. So viel zumindest hatte Marie mitbekommen.

Sie starrte auf ihren Block. Da stand bisher nichts. Hoffentlich war dieser Hans Corvus nicht allzu streng. Sie kannte ihn noch nicht. Du liebe Güte – wenn er sah, dass sie bisher nichts notiert hatte, dann musste sie sich ja zu Tode schämen.

Sigrids Freier aus den gehobenen Kreisen, von denen an diesem Morgen immer mal wieder die Rede gewesen war, würden erst am Nachmittag aussagen, natürlich nicht öffentlich, damit die Herren nicht kompromittiert würden. Das galt auch für Dieter Krug. Bei diesem Namen krampfte sich wie immer ihr Magen zusammen. Irgendwann würde sie dem Mann heimzahlen, was er ihrer Mutter angetan hatte.

Da es sich bei der 5. Großen Strafkammer nicht um ein Jugendgericht handelte, musste diese Sigrid Dehne mindestens achtzehn Jahre alt sein. Sie sah jedoch aus wie sechzehn, ein halbes Kind. Vielleicht hatte sie sich auch älter gemacht, um zum Anschaffen gehen zu können, und kam nun aus der Nummer nicht mehr heraus. Arme Kleine. Zierlich und völlig ungeschminkt saß sie da auf ihrem Armesünderstühlchen und wirkte, als könne sie kein Wässerchen trüben. Marie betrachtete die junge Frau. Unvorstellbar – diese so verletzlich wirkende Jane sollte an einem derart brutalen Überfall beteiligt gewesen sein? Ob sie wohl die Gelegenheit erhielt, mit ihr zu reden? Wenn sie ihre Sache gut machte, würde sie vielleicht weitere Aufträge für diesen Prozess und andere Themen bekommen. Und die brauchte sie unbedingt, um in Berlin bleiben und mit Hilfe ihrer Stellung als Tagesspiegel -Reporterin auch noch ihre eigenen Nachforschungen anstellen zu können.

Marie wurde zunehmend nervös. Ob dieser angekündigte Zeuge wirklich der Dieter Krug war? Ob sie ihn trotz der nichtöffentlichen Vernehmung irgendwie zu Gesicht bekommen konnte? Sie musste in der Mittagspause unbedingt versuchen, den Referendar zu erwischen, den der Staatsanwalt mitgebracht hatte. Er sah nett aus.

Der Vorsitzende Richter donnerte mit dem Hammer auf den Tisch, Marie schreckte hoch. Mittagspause. Vielleicht kam jetzt eine Gelegenheit, etwas mehr zum Fall und zu den Zeugen zu erfahren.

«Na, Schwierigkeiten? Keine Bange, das wird schon. Das geht anfangs vielen so. Besonders bei Fällen wie diesem.»

Marie hatte ihren Sitznachbarn bisher nicht beachtet. Sie drehte den Kopf zu ihm. «Wie kommen Sie darauf?», erwiderte sie eisig.

Er ließ sich nicht beirren und tippte mit dem Finger auf ihren leeren Block. Dann grinste er. «Nun, da steht herzlich wenig.»

«Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram!», fauchte Marie zurück.

«Oh, entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein! Ich wollte nicht aufdringlich werden. Nur helfen. Gestatten Sie, John, John Weißbrot. Ich bin Amerikaner, Mitarbeiter von Generalmajor Maxwell Taylor, Sie wissen schon, dem Kommandanten des amerikanischen Sektors und der alliierten Truppen in Berlin. Ich kenne hier viele der Juristen. Ich hätte Sie mit einigen bekannt machen können, die Ihnen weiterhelfen. Aber wenn Sie keinen Wert darauf legen …»

Doch! Das war genau die Hilfe, die sie brauchte. Dafür würde sie sogar diesen unverschämten Kerl in Kauf nehmen, dachte Marie und schaute genauer hin. Eigentlich sah er ganz gut aus, trotz der GI-Frisur. Das spitzbübische Grinsen gab ihm etwas Jungenhaftes. Und ein Grübchen im Kinn hatte er auch. Sie schmolz in schöner Regelmäßigkeit dahin, wenn ein Mann ein Grübchen im Kinn hatte. «Doch, doch», sagte sie schnell und versuchte sich in einem versöhnlichen Lächeln.

«Na, dann wollen wir mal! Viele Anwälte, Referendare und Zeugen stehen in der Pause vor dem Saal auf der Galerie oben in der Haupthalle, nahe dem Scheitel der schönen Kuppel, you know. Dort, wo die Tierkreiszeichen weiß und golden blinken – sozusagen als Mahnung, dass über diesem irdischen Jammertal allein der Himmel regiert.»

«Auch noch ein Romantiker», erwiderte sie trocken und wunderte sich, dass er so gut Deutsch sprach. Das ließ in Verbindung mit seinem Nachnamen nur einen Schluss zu. Doch sie kannte ihn nicht, und sie konnte ihn wohl kaum fragen, ob er aus einer ausgewanderten jüdischen Familie stammte.

Vor dem Saal steuerte Maries neuer Bekannter auf den Verteidiger der Prostituierten Jane zu. Der stand auf einer der grünblau belegten, messinggefassten Steinstufen, hatte sich zur Saaltür hin ans Geländer gelehnt und sagte gerade zu einem kompakt wirkenden älteren Herrn: «Was meinen Sie, wie’s ausgeht, Herr Kriminaloberkommissar?»

Der Angesprochene zuckte die Schultern. «Selbst unsereiner hat es schwer, so was einzuschätzen. Ich kann nur sagen, was ich von diesem Zeugen, diesem Schlüter, gehört habe. Vielleicht hilft das ja Ihrer Mandantin.»

«Sie auch hier, Kappe? Lange nicht gesehen!», orgelte Maries neuer Bekannter und tippte dem untersetzten Kriminaloberkommissar auf die Schulter.

Der drehte sich um. «Ah, der Pilot! Schön, Sie mal wieder zu sehen. Schnieke Bomberjacke!» Eines seiner vergissmeinnichtblauen Augen zwinkerte dem Amerikaner zu.

Dieser Kappe musste um die sechzig sein, schätzte Marie. Aber das war schwer zu sagen, er hatte ein fast faltenloses, noch immer rundes Kindergesicht, und seine Nase war wie ein kleiner Knubbel. Der Mann wirkte gemütlich. Nur der Blick verriet, dass er schon viel gesehen haben musste. Marie hatte den Eindruck, dass diesen wachen Augen nichts entging.

Moment, wie hatte Kappe ihren Begleiter genannt? Pilot. Marie registrierte jetzt, was sie in der Aufregung übersehen hatte. Der Mann trug eine dieser Bomberjacken aus Schaffell der United States Air Force. Bomberjacke – das Wort schwang in ihr nach. Besonders der erste Teil. Sie bekam eine Gänsehaut. Den Schrecken der Bombennächte, als sie und die Mutter zum zweiten Mal vor dem Nichts gestanden hatten, mit vom Phosphor verbrannten Haaren, abgesengten Augenbrauen und nur noch im Nachthemd, hatte sie noch deutlich vor Augen. Die Haare waren nachgewachsen, aber die Alpträume geblieben. Sie rückte ein wenig von ihrem neuen Bekannten ab.

Der gab sich den Anschein, nichts zu bemerken. «Was höre ich da, der Arm des Gesetzes hilft heute der Angeklagten?», fragte er den Kommissar.

«Ich versuche nur, der Wahrheit auf die Sprünge zu helfen», erwiderte Kappe knapp.

«Im Zweifel für den Angeklagten», ergänzte der Verteidiger, ein noch recht junger Mann, hoch aufgeschossen, fast schlaksig, mit ziemlich langen Armen. Marie hatte das Gefühl, dass er nicht wusste, wo er seine Hände lassen sollte. Vermutlich ein Pflichtverteidiger, der versuchte, sich die ersten Sporen zu verdienen und Erfahrungen zu sammeln, dachte sie.

«Das ist der Doktor der Rechte Peter Ostertag. Peter, das ist … eine junge Dame, deren Namen ich nicht kenne, die aber offenbar den Auftrag hat, von diesem Prozess zu berichten. Doch sie ist neu hier und schwimmt. Zumindest habe ich das ihrer Art zu beobachten und ihrem leeren Block entnommen. Sie braucht einen Ansprechpartner, der ihr weiterhilft. Stimmt doch, oder, Fräulein …»

«Marie, Marie Palmer. Ich schreibe für den Tagesspiegel.» Es erfüllte sie mit – wie sie fand, albernem – Stolz, das sagen zu können. Dass sie in Sachen Gerichtsberichte eine vollkommene Anfängerin war, brauchte sie den Herren nicht unbedingt auf die Nase zu binden. Dann gab sie sich einen Ruck und strahlte den jungen Pflichtverteidiger an. «Es ist wahr, ich könnte wirklich Hilfe gebrauchen.»

Weißbrod grinste. «Der Tagesspiegel residiert doch im Ullsteinhaus im amerikanischen Sektor, da unterliegen Sie sozusagen meinem Zuständigkeitsbereich. Grüßen Sie Reger und Karsch von mir!»

Marie nickte nur. Mit dem Namen Karsch konnte sie noch nichts anfangen. Sie sollte den bekannten Theaterkritiker und Kulturjournalisten des Tagesspiegel erst noch kennenlernen.

«Ich lese den Telegraf », warf Kappe ein. «Aber wenn ich Ihnen weiterhelfen kann, mache ich das natürlich trotzdem. Sehen Sie, da hinten, das ist Medizinalrat Doktor Waldemar Weimann. Eine Koryphäe sozusagen. Soll heute Nachmittag sein Gutachten zu unserer Jane abgeben. Er hat beim großen Prozess gegen Bandenchef Werner Gladow und seine Spießgesellen ausgesagt, das ›Doktorchen‹ sei ein armer, erblich belasteter Mensch. Und dass er es unter anderen Umständen weit hätte bringen können, hochintelligent und vielseitig begabt, wie er ist.» Kappe kniff die Lippen zusammen.

«Sie sind mit seinen Einschätzungen nicht einverstanden?»

«Mein liebes Fräulein, hier geht es nicht um Kinderspiele, auch wenn manche die Verbrechen der Gladow-Bande wegen dieses Robin-Hood- und Al-Capone-Gehabes sogar ein wenig romantisch fanden. Aber dieser Gladow ist kein von den Räuberpistolen über Al Capone fehlgeleitetes Jüngelchen, sondern ein kaltblütiger Mörder und Räuber. 127 schwere und schwerste Straftaten, brutal ausgeführt, waren in der Anklage aufgelistet. Einem der Opfer wurden zum Beispiel die Füße angesengt, damit es sein Geldversteck preisgab. Das hat mit Romantik nichts zu tun. Insgesamt 60 Beteiligte gab es, die mit der Bande zusammengearbeitet haben. 26 wurden wegen geringerer Delikte vorerst freigelassen. Es blieben 34, darunter 7 Frauen. Das hier ist eines der vielen Anschlussverfahren, die derzeit noch laufen. Und meiner Meinung nach hat die Kleine, die sie hier vor Gericht gezerrt haben, nichts mit alldem zu tun gehabt. Jedenfalls deuten meine Ermittlungen darauf hin. Sie wissen, dass Gladow im Ostsektor lebte?»

Marie war verwirrt. «Warum betonen Sie das so?»

John Weißbrod antwortete an Kappes Stelle: «Vor der Teilung der Stadt, das war eine andere Zeit. Während der Verbrechen der Gladow-Bande und in den sieben Monaten, in denen die Staatsanwaltschaft unter Generalstaatsanwalt Berg die Anklageschrift zusammengestellt hat, sind immerhin zwei Staatsgründungen vollzogen worden. Einmal mit der Verkündigung des Grundgesetzes fast genau vor einem Jahr die der Bundesrepublik mit West-Berlin. Und dann die der DDR am 7. Oktober ’49, als unter Führung von Wilhelm Pieck in Ost-Berlin der Volksrat zusammentrat. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Justizbehörden. Jeder will den anderen mit noch besseren Ergebnissen und einer noch höheren Zahl an verurteilten Verbrechern übertrumpfen. Da kann es schon sein, dass einer in der Bewertung von Zeugen und Indizien übers Ziel hinausschießt. Auch Juristen sind nur Menschen.»

Kappe holte Luft, wollte offenbar etwas sagen, entschied sich dann aber anders.

«Natürlich weiß ich, dass Gladow aus dem Osten ist», erwiderte Marie. «Ich komme ja nicht vom Mond.» Der Mann schien ein Besserwisser zu sein, einer, der andere gerne belehrte. Besonders Frauen. Das ging ihr gegen den Strich. Sie lächelte bemüht verbindlich.

«Damals, als es um die Gladow-Bande ging, haben wir mit den Kollegen Ost noch gut zusammengearbeitet. Da konnte uns niemand so schnell gegeneinander ausspielen», schob Kappe jetzt doch noch düster nach. «Das gilt auch für angebliche Zeugen.» Er kniff erneut die Lippen zusammen. Offenbar war er der Meinung, er habe schon zu viel gesagt.

Marie schluckte. Die Träume der Menschen von einem friedlichen Miteinander nach dem Krieg waren ziemlich schnell zerstoben. Es gab schon wieder die Unterteilung der Welt in Freund und Feind, in «wir» und «die». Und schon wieder gab es eine Front. Sie zog sich mitten durch Berlin. Marie zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. «Und wie lauteten die bisherigen Urteile im Gladow-Prozess?»

«Drei Todesurteile», meldete sich jetzt der junge Jurist zu Wort. Wie hieß er noch mal? Irgendwas mit Pfingsten. Ach nein, Ostern. Dr. jur. Peter Ostertag. «Für Werner Gladow sowie seine Komplizen Gaebler und Rogasch. Und die werden auch vollstreckt, das garantiere ich Ihnen. Für die anderen gab es Zuchthausstrafen zwischen fünf Jahren und lebenslänglich.»

 

Marie war erschüttert. «Ist in der Bundesrepublik die Todesstrafe nicht abgeschafft?»

Kappe betrachtete sie nachdenklich. «Eher … ausgesetzt, würde ich sagen. Es gibt immer wieder Bestrebungen einflussreicher Leute, die Todesstrafe erneut aufleben zu lassen. Allerdings wird sie seit mehr als einem Jahr nicht mehr vollstreckt.»

«Und in der Zone ist das anders? Haben Sie deshalb so betont, dass Gladow aus Ost-Berlin stammt?»

«Ja, im Osten ist das anders, da gibt es immer wieder Hinrichtungen», bestätigte Kappe.

Sie atmete tief durch und lächelte zaghaft. «Gut, dass Sigrid Dehne vor einem Westgericht steht. Also ist es wohl besser, Verbrechen im Westen zu begehen, was? Tut mir leid, das war eine dumme Bemerkung. Was hat die junge Frau denn nun genau getan?» Sie zückte Block und Bleistift.

«Sie soll an einem Überfall auf einen Kaufmann beteiligt gewesen sein», antwortete Ostertag. «Und der Herr Kriminaloberkommissar ist heute einmal Zeuge der Verteidigung.» Er warf Kappe einen kurzen Seitenblick zu.

Dieser nickte. «Ja, ich habe damals bei dem Überfall auf den Neuköllner Kaufmann den Passanten vernommen, der das Verbrechen gemeldet hat, einen gewissen Schlüter. Der hat aber nur männliche Täter beobachtet. Er hat mehrfach beteuert, dass keine Frau an dem Überfall beteiligt gewesen sei. Allerdings glaubt die Staatsanwaltschaft aufgrund der eidesstattlichen Versicherung eines wie aus dem Nichts aufgetauchten anderen Zeugen, dass sie doch dabei war.»

«Wann sagt dieser Zeuge aus?»

«Das tut er nicht, zumindest nicht öffentlich», antwortete Kappe. «Er kommt überhaupt nicht hierher. Es wird nur die eidesstattliche Erklärung von ihm verlesen.»

«Und wieso nicht? Ist er einer dieser ehrenwerten Herren, die nicht kompromittiert werden dürfen?»

Kappe warf dem Verteidiger einen hilfeheischenden Blick zu. «Es handelt sich wohl um eine Art V-Mann. Aber mehr weiß ich nicht.»

Marie erkannte, wie unangenehm ihm die Angelegenheit war. Dieser Mann schien sympathisch zu sein. Sachlich und sympathisch. «Einen Namen wird es doch wohl geben, wenn schon kein Gesicht dazu.»

«Krug, Dieter Krug. Der Name steht jedenfalls auf der Tagesordnung, die neben der Tür zum Gerichtssaal aushängt», meldete sich der Verteidiger zu Wort. «Das ist aber sicher ein Deckname. Der Herr Kriminaloberkommissar hat recht, es wird nur seine eidesstattliche Aussage verlesen. Krug behauptet darin, er kenne Sigrid Dehne und habe sie mit Gladow und seinen Leuten ins Haus des Kaufmanns gehen sehen. Das heißt, er müsste vor Ort gewesen sein. Der Zeuge, den Kriminaloberkommissar Kappe vernommen hat, hätte ihn also ebenfalls sehen müssen. Hat er aber nicht. Außerdem fragen wir uns, warum dieser Krug nicht schon für den Hauptprozess gehört worden ist, da er doch alles so genau beobachtet haben will.»

Krug, tatsächlich Dieter Krug. Maries Gedanken überschlugen sich. Also stimmten ihre Informationen, dass der Stiefvater in Berlin war? Sie war allen Hinweisen nachgegangen, die ihre Mutter ihr hatte geben können, war mit dem Foto von ihm, dem einzigen, das sie hatten, von Pontius zu Pilatus gelaufen. Niemand wusste etwas über den Mann zu sagen. Vielleicht auch, weil er auf dem Foto unter einem Baum stand und sein Gesicht im Schatten lag. Marie hatte manchmal das Gefühl gehabt, sie fahnde nach einem Geist. Sie hatte dennoch beim Roten Kreuz eine Suchanfrage aufgegeben. Manchmal geschahen ja Wunder. Doch nichts passierte. Immer wieder hatte sie der Mutter erklären müssen, dass sie ihren Stiefvater noch immer nicht gefunden hatte.

Nach Monaten des vergeblichen Suchens war sie schließlich an einen ehemaligen Kriegskameraden ihres Stiefvaters geraten, einen, der ihm unlängst bei einem Ehemaligentreffen in Berlin wiederbegegnet war. Der mochte den zweiten Mann ihrer Mutter nicht, wollte aber nicht damit herausrücken, weshalb. Nein, hatte er gesagt, die Berliner Adresse kenne er nicht, wolle sie auch nicht kennen. Er könne ihr nur noch einen Tipp geben: Demnächst stehe vor einem Berliner Gericht – vor welchem genau, wisse er nicht – ein Prozess gegen eine Prostituierte an, in den ihr Stiefvater irgendwie verwickelt sei. Der habe bei dem Treffen davon erzählt. Aber nur ganz am Rande. Mehr könne er wirklich nicht sagen. Und wenn er ihr einen guten Rat geben dürfe: Sie solle froh sein, mit diesem Mann nichts mehr zu tun zu haben, und ihn lieber aus ihrem Leben streichen.

Doch das ging nicht. Nicht mit einer Mutter, die sich vor Sehnsucht verzehrte, vor Gram halb verrückt geworden war, Wahnvorstellungen bekommen hatte und nun in einer Heilanstalt dahinvegetierte, mit irgendwelchen Mitteln ruhiggestellt, weil sie mehrmals versucht hatte sich umzubringen. Denn mit diesem Dieter Krug war all ihre Hoffnung, dieses nach dem Tod des ersten Mannes und den Bombenangriffen so mühsam aufrechterhaltene Fünkchen, verschwunden.

Marie hatte ihr Germanistikstudium kurzerhand abgebrochen, ihre Koffer gepackt, ihre kleine Wohnung hinter sich abgeschlossen, war letzten Monat aufs Geratewohl nach Berlin gereist und hatte sich bei verschiedenen Zeitungen beworben. Denn bei einer Zeitung, so ihre Hoffnung, hätte sie gute Möglichkeiten, den Spuren dieses Mannes zu folgen. Da gab es ein Archiv, da gab es Leute, die Gerichtsberichte schrieben, vielleicht sogar über jenen Prozess, von dem der Kriegskamerad ihres Stiefvaters gesprochen hatte. Der Tagesspiegel hatte sie genommen. Deshalb war sie hier. Als sie dann die Prozessankündigung und seinen Namen gelesen hatte, der auf der Zeugenliste stand, hatte sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu diesem Prozess geschickt zu werden. Und nun, nach all den Mühen, sollte sie ihn nicht zu Gesicht bekommen? Moment, hatte der Verteidiger nicht gesagt, Dieter Krug war ein Deckname? Es konnte trotzdem derselbe Mann sein. Vielleicht hatte er diesen Namen schon bei der Heirat mit ihrer Mutter benutzt. Gab es eigentlich viele Männer namens Dieter Krug in Berlin? «Krug? Dieter Krug, sagten Sie?», sagte sie gedehnt.

«Wieso fragen Sie so seltsam?», erkundigte sich Weißbrod. Da läutete der Gerichtsdiener. «Ah, es geht weiter.»

Marie schaute sich um. Wo blieb Corvus nur?

Ostertag lächelte. «Machen Sie sich keine Sorgen, das schaffen Sie! Was ist, John, treffen wir uns nach Abschluss des heutigen Prozesstages mit der jungen Dame in der Gerichtslinde? Schräg gegenüber in der Turmstraße. Dann kann ich ihr alle Fragen beantworten. Sie zieht ein Gesicht, als habe sie noch viele.»

John Weißbrod grinste. «Aber klar doch!»

In Marie machte sich trotz der Enttäuschung, dass sie den Mann, der Dieter Krug hieß, nun doch nicht sehen würde, eine gewisse Erleichterung breit. Wenigstens würde sie alles erfahren, was sie wissen musste, um einen guten Bericht zu schreiben. Und das auch noch aus erster Hand. Vielleicht konnte sie den Verteidiger auch bitten, für sie ein Gespräch mit seiner Mandantin zu arrangieren. Krug und Sigrid Dehne kannten sich angeblich. Also konnte diese ihr vielleicht weiterhelfen.

Der Saal, in dem die 5. Große Strafkammer tagte, war bis auf den letzten Platz besetzt. Aber auch eine halbe Stunde nach Weiterführung der Verhandlung war noch immer kein Corvus erschienen. Marie musste an den Rat denken, den ihr der Kolumnist Hans Neuhaus von der Redaktion des Berlin-Teils des Tagesspiegel gestern mit auf den Weg gegeben hatte: «Sie sollten sich mal im Archiv schlaumachen, Fräulein Palmer! Damit Sie wissen, wohin Sie müssen. Das ist schon ein besonderes Haus, das Moabiter Kriminalgericht. Fragen Sie den Kollegen Corvus, der kann Ihnen allerhand erzählen. Aber damit das klar ist: Sie arbeiten ihm nur zu! Sie können ja schon mal ’n bisschen texten, und wenn der Corvus sagt, es ist gut, dann stimmen Doktor Ewald Weitz als Leiter des Berlin-Teils und Chefredakteur Reger – ich meine das genau in dieser Reihenfolge – vielleicht zu, dass wir Teile ihres Geschreibsels in Corvus’ Bericht übernehmen. Versprechen Sie sich jedoch nicht zu viel!»