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Geschreibsel! Hielt dieser Neuhaus sie für eine Analphabetin? Marie schwor sich, dass sie es allen beweisen würde. Sicherheitshalber war sie tatsächlich gestern noch nach Moabit gefahren, um sich das Gebäude des Kriminalgerichtes anzuschauen. Sie wollte wissen, in welchen Saal sie am nächsten Morgen musste, damit sie nicht zu spät kam, weil sie sich in dem riesigen Gebäude verlaufen hatte. Schon als sie durch die kolossale Haupthalle gegangen war, 29 Meter hoch, 3 Meter höher als das Brandenburger Tor, wie sie inzwischen wusste, hatte sie sich eingeschüchtert gefühlt. Ein netter Gerichtsdiener, den sie zufällig im Gang traf und der Corvus gut zu kennen schien – «Na, denn grüßen Sie den Meesta ma von mir!» –, hatte nämlich den Aktenstapel, mit dem er unterwegs war, schnell wieder in seinem Büro deponiert und sich Zeit genommen, der neugierigen Besucherin freimütig Auskunft zu geben. Er war unverkennbar stolz auf seinen Arbeitsplatz. Marie blätterte in ihrem Block zurück. Sie hatte eifrig stenografiert. «Wenn das größte Gericht Europas werktags gegen acht Uhr erwacht, treten unzählige Wachtmeister, Schreibkräfte, Putzfrauen, Kanzleiangestellte, Sachverständige, Archivare, Dolmetscher, Köche, Pförtner und viele, sehr viele studierte Juristen, Richter, Staatsanwälte, Verteidiger, Nebenkläger ihren Dienst an.»

Jedenfalls war das Gebäude imposant. Das Haus blickte aus 158 Fenstern auf die Berliner Turmstraße. Als es um 1906 fertig dagestanden hatte, war es laut Maries Fremdenführer eines der ersten offiziellen Gebäude Berlins mit elektrischem Licht gewesen. «Fünftausend Glühlampen, sach ick Ihnen, da ist immer eine hin», hatte der Gerichtsdiener gesagt. Und es gab offenbar nichts zwischen Betrügereien, Sexualdelikten sowie Mord und Totschlag, was hier nicht schon vor den Richter gekommen wäre. Die Delinquenten wurden sauber abgeschirmt von der Welt, durch Geheimgänge vorgeführt, die das Gebäude wie Innereien durchzogen. Die riesige Haupthalle war von einem Reigen allegorischer Skulpturen bevölkert. Besonders die Figur der Lüge rechts in der Halle war Marie aufgefallen, wie sie, in Sandstein geschlagen und mit dem Fuchskopf bekrönt, hinter vorgehaltener Hand zur Streitsucht hinüberzischte. Aus deren Kopf hatte der kaiserliche Bildhauer Schlangen mit aufgesperrten Rachen wachsen lassen.

Maries Gedankenfluss wurde unterbrochen, denn der Gerichtsdiener rief jetzt diesen netten Kommissar Kappe als Zeugen auf. Corvus war noch immer nicht aufgetaucht. Ah, wenigstens redete der nette Kommissar laut und deutlich. Er sagte aus, was Marie schon vorher persönlich von ihm gehört hatte.

«Was ist Ihre Einschätzung? Glauben Sie, dass die Angeklagte etwas mit der Gladow-Bande zu tun hat?», fragte der Verteidiger.

«Einspruch!», meinte der Staatsanwalt. «Was Kriminaloberkommissar Kappe glaubt, ist hier nicht von Belang. Hier zählen nur Fakten.»

Der Vorsitzende Richter beugte sich vor. Marie notierte sich, dass sie noch nach seinem Namen fragen musste. «Namen sind wichtig, Regel Nummer eins», hatte Neuhaus ihr gestern in seinem Schnellkurs in Sachen Journalismus noch eingebleut und hinzugefügt: «Richtig geschriebene Namen. Lassen Sie sich alles buchstabieren! Immer! Auch wenn Sie meinen, Sie wissen, wie ein Name geschrieben wird. Das sind wir unseren Lesern schuldig. Da fängt die Glaubwürdigkeit einer Zeitung an, an solchen Sachen wird sie gemessen.»

«Einspruch abgelehnt», meinte der Richter. «Ich kenne Kriminaloberkommissar Kappe als erfahrenen Ermittler und vertraue seinen Einschätzungen. Haben Sie noch etwas dazu zu sagen, Herr Kriminaloberkommissar?»

Der Staatsanwalt zog ein beleidigtes Gesicht, der Verteidiger ein zufriedenes, und Kappe antwortete: «Ich habe jedenfalls nichts Nachteiliges und schon gar keine solche Vorgeschichte über die junge Dame herausfinden können. Gut, sie trifft in ihrem Beruf viele … Herren. Darunter sind sicherlich auch solche, die es mit unseren Gesetzen nicht so genau nehmen. Aber so, wie ich sie kennengelernt habe, ist sie ein anständiges Mädchen.»

«Ein anständiges Mädchen – dass ich nicht lache!» Die Stimme des Staatsanwaltes klang sarkastisch.

«Im Zweifel für die Angeklagte, Herr Kollege», meinte Verteidiger Peter Ostertag.

«Die Plädoyers sind jetzt noch nicht an der Reihe, Herr Doktor Ostertag», pfiff ihn der Richter zurück. «Außerdem fälle ich das Urteil. Und Sie werden mir wohl die Kenntnis der Gesetze zugestehen, oder?»

Peter Ostertag lief hochrot an. Marie begriff, dass er gerade gehörig in den Senkel gestellt worden war. Offensichtlich sah es der Richter als seine Aufgabe an, den Jungspunden vor Gericht gleich klarzumachen, wo hier der Hammer hing.

Gerade als sie das dachte, riss ein Gerichtsdiener die Türe auf. «Kommissar Kappe soll sofort kommen, ein aktueller Fall!», rief er in den Saal, ging dann zum Richtertisch und überreichte ein Schreiben. «Das kommt direkt aus der Friesenstraße.»

Der Vorsitzende Richter überflog es und nickte. «Dringliche Bitte des Polizeipräsidenten. Herr Kriminaloberkommissar, draußen warten zwei Herren auf Sie. Dann vertagen wir auf morgen. Acht Uhr, selber Ort. Und seien Sie bitte pünktlich, damit wir gleich als Erstes mit Ihrer Zeugenvernehmung weitermachen können!»

Marie schaute nachdenklich zu, wie der Kommissar aus dem Saal stapfte. Sie musste unbedingt noch einmal mit diesem Kappe reden. Vielleicht konnte er ihr in eher privatem Rahmen mehr zu diesem unvermittelt aufgetauchten Belastungszeugen namens Krug sagen. Andererseits – wieso auf morgen warten? Hier tat sich etwas Ungewöhnliches mehr. Und war sie nicht seit Neuestem Reporterin beim Tagesspiegel? Den Verteidiger konnte sie auch morgen noch treffen. Sollte doch dieser Corvus die notwendigen Fakten zusammensammeln! Irgendwann musste der ja vom Zahnarzt zurückkommen. Sie würde später versuchen, beim Tagesspiegel anzurufen und zu sagen, dass der Prozess vertagt worden war. Marie stand auf, warf John Weißbrod einen unschuldigen Blick zu und eilte aus dem Saal.

KAPITEL DREI
in dem Kappe sich mehrfach wundert

KAPPE besah sich den Toten auf dem Trümmergrundstück an der Wollankstraße. Die Haut hing ihm in Fetzen vom Gesicht, die Züge waren völlig entstellt, als habe jemand Säure darübergegossen. «Haben Sie den Mann schon mal gesehen, Jüterbog?»

Der Kollege vom Kriminalkommissariat Wedding war äußerlich der Typ Peter Pasetti. Immer wenn er ihn sah, musste Kappe an einen Film denken, den er letztes oder vorletztes Jahr zusammen mit Klara gesehen hatte: Die kupferne Hochzeit. Die Hauptrollen hatten Hertha Feiler und Hans Nielsen gespielt. Doch die Ähnlichkeit hörte auf, sobald Jüterbog den Mund aufmachte.

«Wie soll ich det sagn? So wie der aussieht, erkennt den selbst die eigene Mutter nich. Aber dit jibt Probleme. Wir ham mal so über’n Daumen jepeilt. Der liecht vamutlich halbe-halbe, die Sektorengrenze muss irgendwo zwischn Kopf und Beene verlaufn. Dabei ham wa schon Demse jenuch mit die vom Ostn.»

Kappe nickte gedankenverloren. Ja, dicke Luft herrschte schon eine ganze Weile zwischen ihnen und der Polizei Ost. Falls der Tote tatsächlich mit dem Kopf im französischen Sektor und mit den Beinen im russischen Sektor lag, würden die Kollegen aus dem Osten die Leiche auf jeden Fall für sich beanspruchen. Schon um den West-Berliner Kollegen eins auszuwischen. Aber abwarten. Erst mal musste die Frage geklärt werden, wo genau die Sektorengrenze verlief. In der Höhe des Brustkorbs, des Bauchs vielleicht oder weiter unten? Diejenigen, auf deren Staatsgebiet das größere Stück der Leiche lag, waren am Ende vermutlich die Zuständigen. Bis zur Klärung der Zuständigkeiten würden sie den Leichnam erst mal mitnehmen. Denn das konnte dauern.

Und so lange konnte der Tote ja nicht auf diesem Trümmergrundstück vor sich hin verwesen.

Kappe kannte und schätzte den Kollegen Jüterbog. Er hatte schon früher gut mit ihm zusammengearbeitet, unter anderem im Fall des Frauenmörders Kimmritz, der schließlich in der Badstraße gefasst worden war. «Dann ist er wohl aus dem Osten fortgelaufen und zumindest mit dem Kopf im Westen angekommen. Wissen wir schon, wann, woran oder wie der Mann gestorben ist? Und wer hat ihn gefunden?»

«Wie er gestorben ist? Vermutlich erschossen. Zwee Bengels ham ihn beim Spieln entdeckt. Wir ham sie schon vernommen. Stehn jetzt da drübn beim Kollegen Drewitz aus’m Osten. Sind völlig jeplättet. Ja, ja, die Ostler sind auch schon da. Der andere ist kurz wech, mal eben umme Ecke für, na, Sie wissen schon, nichtöffentliche Sitzung. Kommt aber gleich wieder.»

Warum sagte Jüterbog das so seltsam? Aber Kappe hatte jetzt andere Probleme, danach würde er sich später erkundigen. «Lassen wir die Jungs erst mal nach Hause gehn, wenn die Ostler mit ihnen fertig sind. Habt ihr denn schon damit angefangen, die Nachbarschaft zu befragen? Vielleicht hat der Mörder hier auf sein Opfer gewartet und ist dabei beobachtet worden. Wenn der Mann in den Westen wollte, wovon wir nach Lage des Körpers wohl ausgehen können, dann wohnt er vielleicht sogar hier im französischen Sektor.» Kappe sah sich um. «Nun ja, viel is hier nich mehr mit Nachbarschaft, wenn ich von den Ratten im Schutt mal absehe.»

Die Männer schauten sich einen Moment lang schweigend an, jeder mit seinen eigenen Erinnerungen beschäftigt. Der Bezirk Wedding hatte während des Krieges ziemlich gelitten. Und da 1945 bei der Schlacht um Berlin Schul-, See- und Badstraße tagelang die Hauptkampflinie gebildet hatten, waren am Ende des Krieges viele der Weddinger Gebäude zerstört oder schwer beschädigt.

Jüterbog schüttelte schließlich den Kopf. «Nee, hab noch niemanden losjeschickt. Ham uff Ihnen jewartet. Anordnung von oben.»

«Na, dann machen Sie mal! Ich denke, wir sollten auf jeden Fall die Nachbarn bis Stern- und Kattegatstraße befragen.»

 

Jüterbog nickte und sprach mit einem seiner Leute, der unverzüglich aufbrach.

Kappe und Jüterbog gingen hinüber zu den Kollegen aus der Friesenstraße. Piossek und Klingbeil, die ihn mit dem Mordauto vom Gericht abgeholt hatten, hatten sich, nachdem sie am Tatort angekommen waren, sofort an die Spurensicherung gemacht. Klingbeil von der Kriminaltechnik stellte gerade umständlich sein Stativ für die Tatortfotos auf.

Piossek untersuchte die Taschen des Toten und förderte eine Brieftasche zutage. «Na, da ham wir ja doch noch Papiere, wie es scheint. Komisch – jemand schüttet dem Mann erst Säure übers Gesicht, damit man ihn nicht so schnell erkennt, und vergisst dann, ihm die Papiere abzunehmen?»

Kappe ging in die Hocke, um sich den Fund anzusehen.

Ein Mann näherte sich der Leiche aus Richtung Osten und blieb bei den Füßen des Toten stehen. «Was machst denn du hier, Papa?», fragte er. «Das ist unser Fall.»

Kappe zuckte zusammen und richtete sich auf. «Haben sie dich jetzt strafversetzt in die Polizeiinspektion Pankow, ich meine das Polizeirevier 282 in der Breite Straße 41 a?», fragte er seinen Sohn, um Zeit zu gewinnen.

Hartmut Kappe blieb stumm.

«Was ich hier mache? Dasselbe könnte ich dich auch fragen, Hartmut», fuhr Kappe schließlich fort. Musste ausgerechnet sein Ältester hier auftauchen? Konnte es keiner der anderen ehemaligen Kollegen sein, die Dienst im Polizeipräsidium Ost taten? Doch es half nichts. «Das ist nämlich eindeutig unser Fall», fügte er dann energisch hinzu.

«Das sehe ich aber ganz anders! Nach Lage des Toten kam der Mann aus dem Osten. Also ist es ein Fall der Polizei Ost!»

«Aber Beine laufen nun mal nicht ohne einen Kopf. Also ist es ein Fall für die Polizei West, Junge. Das ist doch wohl klar!»

Beide Männer starrten einander schweigend an. Die anderen Kollegen hielten inne und beobachteten dieses außergewöhnliche Vater-Sohn-Duell. Vater und auch Sohn Kappe wussten, dass die Situation ihnen Probleme bereiten konnte. Weder im Osten noch im Westen sah man es gerne, wenn Kommissare Beziehungen zum Feind unterhielten – und schon gar nicht familiäre. Kappe senior war allerdings durch seine langjährige Polizeizugehörigkeit geschützt, während derer er seine dienstliche und politische Zuverlässigkeit mehr als einmal unter Beweis gestellt hatte. Er war nie in der NSDAP gewesen. Und mit Kappe junior, Kommissar bei der Kripo Ost, legte sich auch niemand gerne an. Ihm wurden besonders gute Beziehungen zu «seinem» Polizeipräsidenten nachgesagt.

Das Präsidium Ost residierte im Karstadthaus in der Neue Königsstraße unter Leitung von Paul Markgraf – die Westalliierten hatten ihn als Polizeichef abgesetzt, doch die Sowjets hatten ihn gehalten. Die Kriminalpolizei Ost war vorläufig noch in der Dircksenstraße geblieben, doch der Umzug war bereits abzusehen. Das Präsidium West in der Friesenstraße unter der Führung des früheren Markgraf-Stellvertreters Dr. Johannes Stumm hatte 1948 als eigenständige Institution die Arbeit aufgenommen, mit 9491 Polizeibeamten, 971 Hilfskräften und 2200 Wachpolizisten.

Inzwischen hatte sich Peter Drewitz demonstrativ zu Hartmut Kappe gesellt. Kappe senior nickte ihm zu. «Ah, Drewitz, Sie auch da! So sieht man sich wieder.»

Früher waren sie ebenfalls Kollegen gewesen, wenn auch nicht lange. Drewitz war im Bezirk Tiergarten aufgewachsen, dann aber zu seiner großen Liebe in den russischen Sektor gezogen. Cherchez la femme, wie die Franzosen sagten. Sie hatten letztes Jahr geheiratet. Das war der Grund dafür, dass er nun ebenfalls zur Markgraf-Truppe gehörte – und nicht etwa, dass er ein besonders linientreuer SEDler gewesen wäre. Soweit Kappe gehört hatte, war der langersehnte Sprössling unterwegs. Doch man wusste nicht mehr so viel voneinander wie früher.

Kappe betrachtete seinen Ältesten. Hartmut fühlte sich ebenso wenig wohl in dieser Situation wie er selbst. Kein Wunder, sie standen auf feindlichen Seiten. So weit war es gekommen. Es wurde unter der Hand erzählt, in Ost-Berlin, nun Hauptstadt der DDR, seien die Kommunisten dabei, ihre Polizei den «Oststrukturen» anzupassen. Das hieß, es entstanden militärisch geführte Einheiten.

Kappe dachte wieder einmal, wie leid er dieser ständigen Animositäten war. Anfangs hatten sich die altgedienten Kollegen hüben wie drüben noch ausgetauscht und die Köpfe geschüttelt über die Politiker. Inzwischen aber hatte sich die Beziehung zwischen Ost und West bis auf Eiskellernivau abgekühlt. Es galt, wachsam zu sein, denn der Osten sollte ins Präsidium Friesenstraße mehr als nur einen Spion eingeschleust haben. Umgekehrt natürlich auch. Da tröstete es Kappe nicht, dass er als Kriminaloberkommissar, sehr zur Freude seiner Klara, 150 Mark mehr im Monat verdiente als vorher. Denn dafür zog sich der durch die Teilung verursachte Graben nun durch die eigene Familie. Er freute sich inzwischen sogar auf seinen Ruhestand. Kappe hasste es, innerhalb des eigenen Präsidiums jedes Wort auf die Goldwaage legen, genau bedenken zu müssen, wem er was mitteilte. Von den alten Gewissheiten und der früheren Gemeinschaft war nicht mehr viel übrig geblieben. Sogar Kollegen, die früher lange und gut zusammengearbeitet hatten, vertrauten einander nicht mehr. Das gegenseitige Misstrauen hatte jedoch nicht nur mit der Teilung zu tun. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele bei der Polizei aufgenommen worden, die dort eigentlich nichts verloren hatten. Man hatte praktisch jeden nehmen müssen, auch völlig Berufsfremde, um die Reihen wieder aufzufüllen. Und das in vielen Fällen ohne große Überprüfung, denn anfangs waren zahlreiche Akten einfach verschwunden gewesen, irgendwohin ausgelagert. Dann waren die Akten jedoch nach und nach aufgetaucht, und sie hatten feststellen müssen, dass auch der eine oder andere Verbrecher die Gunst der Stunde zu nutzen versucht hatte, um auf diese Weise eine weiße Weste zu bekommen. Das alles erschwerte die Arbeit ganz erheblich – ganz zu schweigen davon, dass die Möbel im Büro zusammengewürfelt waren und Papier auch nach Aufhebung der Berlin-Blockade noch immer Mangelware war und ihnen jedes Blatt vorgezählt wurde.

Kappe wusste, dass das nicht ging, aber er hätte seinen Sohn am liebsten in den Arm genommen, um die vergangenen Jahre zu überbrücken, die lange Zeit des Schweigens und der Angst, während sein Ältester in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen war, und auch diese unglückselige Grenze, die sie noch weiter voneinander entfernte. Ihm tat das Herz weh. Doch Hartmut würde sich nicht erweichen lassen. Er brauchte seine Arbeit. Seine Frau, die blondgelockte Straßenbahnschaffnerin Ingeborg, geborene Kramer, machte zwar gerade eine Ausbildung zur Straßenbahnführerin, hatte also beste Aussichten, doch die beiden erwarteten Nachwuchs. Und der kostete bekanntlich eine Stange Geld.

Sie sprachen miteinander nicht über Politik, blendeten das Thema aus, so gut es ging. Kappe empfand es als Tragik, dass er während der Zeit des Nationalsozialismus mit seiner Familie wegen deren Sympathie für Hitler nicht über seine Abneigung gegen die Nazis hatte sprechen können. Jetzt musste er sich schon wieder linientreu geben. Ebenso wie Hartmut. Nur die Linien waren andere. Man musste sich wieder einmal durchlavieren, sich irgendwie arrangieren. Privat Vater und Sohn, dienstlich … ja, was?

«Halt! Das geht so nicht! Das wird Folgen haben!», protestierte Drewitz lauthals in seine Gedanken hinein.

Kappe sah sich um. Klingbeil und Piossek waren dabei, Fakten zu schaffen. Zusammen mit Kommissar Jüterbog luden sie den Toten kurzerhand in das Mordauto. Kappe schaute seinen Sohn und den ehemaligen Kollegen traurig an und wandte sich dann ohne ein weiteres Wort ab. Das würden sie später klären. Wer die Leiche hatte, hatte den Fall.

Plötzlich eine weibliche Stimme: «Was ist hier los? Ist das ein Mord?»

Kappe fuhr herum. «Was tun Sie denn hier, Fräulein Palmer?»

Marie machte ihr unschuldigstes Gesicht. «Ich bin doch Berichterstatterin beim Tagesspiegel. Deshalb interessiert mich das hier …»

«Und woher wussten Sie, wo Sie mich finden?»

Sie deutete auf Piossek. «Der Mann, der Sie im Gericht abgeholt hat, hat es einem Gerichtsdiener gesagt, und von dem habe ich es erfahren. Ein netter Mann, dieser Gerichtsdiener, sehr auskunftsfreudig. Schicken Sie mich jetzt weg?», fragte sie mit einem treuherzigen Augenaufschlag.

Kappe schmunzelte in sich hinein. So unlieb war ihm die Gegenwart einer Berichterstatterin gar nicht. Solange sie hier war, würde es sicher keine verbissene Ost-West-Auseinandersetzung um diesen Toten geben. Auch Hartmut und Drewitz wussten natürlich, dass die Westzeitung Tagesspiegel daraus eine böse Schlagzeile gemacht hätte. «Nun ja, da Sie schon mal da sind … Aber das darf nicht zur Gewohnheit werden, Frolleinchen!»

Sie nickte. «Wo wollen denn die anderen hin?»

«Welche anderen?»

«Die, die gesagt haben, dass das ihr Fall sei.»

Kappe wandte sich wieder um. Er sah von Hartmut und Drewitz nur noch die Rücken. Das bedeutete keineswegs, dass sie aufgeben würden. Wahrscheinlich lag bei ihnen in der Friesenstraße demnächst ein Auslieferungsgesuch für die Leiche auf dem Tisch. Aber bevor sie wussten, wer der Tote war, lief da gar nichts. Sie würden den Ostkollegen ganz sicher keinen Westbürger ausliefern, egal, ob tot oder nicht. Moment, da waren doch diese Papiere … Kappe ging zu dem Kollegen Piossek, der nach vollbrachter Leichenentführung wartend neben dem Mordauto stand. «Und – was steht in den Papieren?»

«Ein Ausweis aus der Zone, leider. Wollte nur vorhin nichts sagen. Der Ausweis ist neu, aber das Foto ziemlich unterbelichtet. Vermutlich stammt es noch aus Kriegstagen. Es wundert mich, dass die Behörden das haben durchgehen lassen. Da steht, der Mann heißt Krug, Dieter Krug. Wir haben auch noch einen aufgerissenen frankierten Briefumschlag gefunden, leer, adressiert an ebendiesen Dieter Krug. Der Mann lebt demnach trotz Ausweis aus der Zone hier im Wedding. In der Siedlung des Spar- und Bauvereins Eintracht, am Nachtigalplatz. Da baun se derzeit, was das Zeug hält. Durch Fliegerbomben is da ’44 viel von den Häuserzeilen kaputtgegangen. Sie wolln die Siedlung sogar erweitern, hab ich gehört.»

Kappe atmete tief durch. «Die Siedlung heißt doch seit letztem Jahr wieder nach Friedrich Ebert und nicht mehr ›Eintracht‹ wie unter den Nazis, soweit ich weiß. Und das ist Jüterbogs Baustelle. Also nix mit ausliefern, ehe wir nicht mehr wissen», knurrte Kappe. Dann hielt er inne. Dieter Krug? Der Tote sollte genau so wie der Zeuge heißen, der die Prostituierte Jane dabei beobachtet haben wollte, wie sie sich an dem Überfall auf den Kaufmann beteiligt hatte? Konnte das ein Zufall sein? «Moment! Kann ich den Mann noch mal sehen?»

«Da die beiden Ostler weg sind, können wir ihn wieder ausladen und den Leichenwagen bestellen», antwortete Piossek. «Muss schwierig sein für Sie mit einem Sohn bei den Kollegen im Osten.»

Kappe sagte nichts dazu. Aber seine Kiefer mahlten.

Klingbeil gesellte sich zu ihnen. «Kappe, was ist los?»

«Ich muss den Mann noch mal sehen.»

«Aber das Gesicht ist doch völlig unkenntlich.»

«Nu macht schon!»

Kollege Jüterbog half beim Ausladen. Sachte, als könnten sie ihn verletzen, legten sie den Toten auf den Trümmerschutt.

«Hm», brummte Kappe und ging um den Körper herum. Dann schüttelte er den Kopf. «Ich glaube nicht, dass der Mann Dieter Krug heißt. Das ist ein anderer.»

«Stimmt», erklärte jetzt auch Marie Palmer und schlug gleich darauf die Hand vor den Mund.

Kappe fuhr herum. «Woher wollen Sie das denn wissen?»

Marie Palmer biss sich auf die Unterlippe.

Kappe schaute sie einen Moment lang an und nickte dann bedächtig. «Nun, ich denke mal, wir ham da einigen Gesprächsbedarf, kleines Frollein. Ich muss jetzt hier weitermachen. Aber morgen will ich Sie bei mir im Präsidium sehen!»

«Ich kann aber erst am späten Nachmittag. Ich muss doch in die Redaktion.»

«Ich werde Sie wohl nicht davon abhalten können, über die Geschichte hier zu schreiben, was?»

Marie lächelte zuckersüß. «Nein, das werden Sie wohl nicht können.»

Kappe grinste. «Dann will ich aber ganz genau wissen, was das für ein Dieter Krug ist, den Sie kennen, junge Dame.»

«Versprochen», sagte Marie.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?