Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick

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Die Wurzeln

Paul Adalbert Karl Sömmer, geboren 1867 im thüringischen Sömmerda, das damals zu Preußen gehörte. Sein Vater Karl Ludwig Sömmer war Prokurist bei der renommierten Metallwarenfabrik Dreyse und Collenbusch gewesen. Der älteste Bruder des Großvaters wurde Priester. Der zweite Bruder wurde Apotheker und starb jung während einer Grippeepidemie. Paul wurde als Nachzügler geboren, seine Brüder waren schon 17 und 15 Jahre alt. Die Eltern fühlten sich alt, zu alt jedenfalls, um sich gegen den Wunsch des jüngsten Sohnes zu wehren, Musiker zu werden. Auf verschlungenen Wegen, die ihn zunächst nach Erfurt, Leipzig und Dresden führten, gelangte er schließlich nach Mannheim ans dortige Theater. Er spielte in der ersten Geige, beherrschte jedoch auch mehrere Blasinstrumente, konnte sowohl einen katholischen als auch einen evangelischen Gottesdienst auf der Orgel begleiten und unterrichtete später am Mannheimer Konservatorium. Er war freundlich, gesellig, hilfsbereit. Bei einer Ausflugsfahrt auf dem Rhein, wo er mit einer kleinen Gruppe Musiker zum Tanz aufspielte, lernte er seine spätere Frau kennen.

Wilhelmine Walker war die jüngste Tochter des Lotsen Johann Jakob Walker. Eine zierliche, stille, zu träumerischen Absencen neigende junge Frau mit sehr hellblauen Augen und blonden feinen Haaren, die sich an der Stirn und im Nacken kräuselten und ihr einen engelhaften Ausdruck verliehen. Sie konnte sich dem Temperament des charmanten fremden Musikers nicht entziehen. Bevor sie Zeit hatte zu überlegen, war sie seine Frau. In 17 Jahren gebar sie ihm zehn Kinder. Nach 35 Jahren Ehe starb ihr Mann und sie lebte noch weitere 25 Jahre.

Als sie 1905 ihre Kinder zur Taufe ihrer dritten Tochter Paula rüstete, den vier Buben die weißen Hemden heraussuchte und die Lederstiefelchen, die Mädchen zu sich rief, um ihnen die Haare zu flechten, hatte sie einen Anfall von Verzweiflung. Sie setzte sich auf den Boden und jammerte: „Ihr seid einfach zu viele, es ist zu eng hier, ich schaffe das nicht mehr.“

Da kam ihr Mann aus seinem Zimmer, in dem er gerade einen Privatschüler betreute – die musste sie ja auch immer noch hinnehmen, die Privatschüler, die sie zwangen, das Temperament ihrer Kinder zu zügeln, ihr Gezänk, ihre Verfolgungsjagden über Tische und Stühle durch alle Räume abzufangen, mit dem schreienden Säugling auf dem Arm.

„Mine“, sagte ihr Mann, hob sie vom Boden auf und versuchte sie in den Arm zu nehmen, „meine liebe gute süße Frau, mein Ein und Alles, mein Morgen- und mein Abendstern, mein Lebenselixier, schau doch mal her.“

Er packte seine Kinder nacheinander um die Taille und setzte sie auf den Bücherschrank, so dass ihre Beine vor den Augen der Mutter zuckten und wippten, den Täufling hielt er hoch über seinen Kopf und stellte sich neben den Bücherschrank.

„Wen, meine Liebe, wen möchtest du denn hergeben? Auf wen kannst du denn am besten verzichten.“

Mine atmete ein und aus, heftig, schnell, schniefend und schluchzend. Langsam beruhigte sie sich, ihr Mund verzog sich zu einem zaghaften Lächeln, in den Augenwinkeln kräuselte sich die zarte Haut. Sie schluckte. Was sie in diesen Minuten dachte, erzählte sie nie und niemandem.

„Kommt da runter“, sagte sie.

Die Größeren konnten selbst von ihrem Hochsitz abspringen, die Kleinen wurden vom Vater befreit, nachdem Bertel, der Älteste, das Baby übernommen hatte. Mine schlang ihre dünnen Arme um sie alle und ein paar letzte Tränen fielen auf ihre immer noch strubbeligen Haare.

„Ich geb’ keinen her. Keinen von euch“, rief sie laut und deutlich. Da waren es erst sieben. Drei weitere Kinder wurden ihnen noch geboren. Aber dazwischen mussten Mine und Paul zwei ihrer Söhne zu Grabe tragen.

Zu diesem Zeitpunkt waren sie deutlich sichtbar, hörbar, fühlbar eine Familie, hatten fast keine Geheimnisse voreinander, das ging nicht, weil man auf so engem Raum zusammenlebte. Was dem einen passierte, ging alle an. Keiner konnte die Flügel aufspannen und wegfliegen, wollte es auch nicht. Dann wurden sie größer und irgendwann mussten sie fliegen, weil es das normale Leben ist, dass man den Vater und die Mutter verlässt und selbst eine Familie gründet. Alle würden es versuchen und nur manchen würde es gelingen. Aber es würde weitergehen. Eine Weile würde man sich noch einander zugehörig fühlen, würde sich Familie nennen. Dann gäbe es den Namen nicht mehr, dann wären die Fäden dünn und brüchig, die sich um sie schlangen, und neue festere Fäden hätten die Nachkommen an andere Menschen gebunden und neue Familien begründet.

Die Schwägerin

2010

Als Elfi starb, kannte Ruth Elfis Cousins und Cousinen väterlicherseits noch nicht sehr gut. Aber sie lernte sie kennen, alle kamen sie, um ihr zu helfen. Dort in München, in Elfis Wohnung, trafen sie zusammen und ertrugen die Fassungslosigkeit gemeinsam mit ihr, den Schrecken über den plötzlichen Tod ihrer geliebten einzigen Verwandten, ihrer Nichte, die wie eine eigene Tochter für sie gewesen war seit ihrer Geburt, damals mitten im Krieg. Es kamen zwei Cousins und zwei Cousinen. Bis dahin waren sie nicht viel mehr als Namen und Gesichter auf Fotografien für sie gewesen. Fotografien, denen Elfi nach und nach mit einzelnen Erzählungen ein bisschen Leben eingehaucht hatte. Hansi, der älteste Cousin. Dann Theo, dann Margot, nur zwei Jahre jünger als Elfi selbst, und Beate.

Ruth hatte stets Vorbehalte gehabt gegen diese Familie. Wenn sie heute überlegte, warum, dann musste sie sich eingestehen, dass sie dieses Misstrauen unreflektiert von ihrer Schwester Lilli, Elfis Mutter, übernommen hatte. Elfi und ihre Tante Ruth waren nach Lillis Tod eine Familie gewesen, vertraut und einander voller Liebe und Fürsorge zugetan. Die eine immer in den Gedanken der anderen präsent. Alles, was man tat, wog man ab in Bezug auf die andere.

Sie waren übrig geblieben, einander geblieben, füreinander da geblieben. Miteinander hatten sie viel Zeit verbracht, Anteil aneinander genommen, einander vertraut, aber sich nicht alles anvertraut, aus Rücksicht aufeinander, aus Liebe zueinander. Jeder hatte auch sein eigenes Leben gelebt.

Als Elfi geboren wurde, da existierte die Ehe ihrer Eltern praktisch nur noch auf dem Papier. Der Vater Walter Soldat, die Mutter Lilli zurückgekehrt in ihr Elternhaus, oder besser gesagt, in das Haus ihrer Mutter und ihres Stiefvaters und zu ihr, zu Ruth, der vier Jahre jüngeren Schwester. Lilli war 21 Jahre alt, als sie Mutter wurde. Nachdem Elfis Vater aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkam, erst 1949, müde, dünn, krank, stumm, lebte die kleine Familie noch einmal zwei Jahre mehr schlecht als recht zusammen und dann reichte Ruths Schwester die Scheidung ein. Die elfjährige Elfi verlor den Kontakt mit ihrem Vater. Lilli trennte sich nicht nur von ihrem Ehemann, sondern auch von seiner Familie, wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben, erklärte sie alle zu Unpersonen. Schwiegermutter, Schwäger und Schwägerinnen, auch deren Ehepartner und Kinder. Energisch, kompromisslos, so wie sie eben war. Das letzte Zusammensein mit der Familie war die Hochzeit von Walters Nichte Inge, Tochter seiner älteren Schwester Helene. Ruth hatte die Fotos gefunden, die eine strahlende Braut zeigten, vor dem frisch vermählten Paar drei Blumenkinder, der elfjährige Theo, die achtjährige Elfi und die sechsjährige Margot. Hinter ihnen ihre Großmutter Wilhelmine, eine zierliche Person mit Brille, und leicht distanziertem Blick, neben der Schwiegermutter die strahlende Lilli und Walter mit seinem schönsten Lächeln, ein glückliches Paar? Wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass die beiden dicht bei dicht standen, ihre Hände berührten einander fast, aber nur fast. Hätte sich bei einem glücklichen Paar nicht eine Hand in die andere geschmiegt angesichts der Rührung, die doch nahezu jeden überkam, wenn man gerade in einer Kirche war, wo ein Pfarrer die Macht der Liebe und Treue bis in den Tod beschworen hatte?

So trafen Lilli und Elfi das letzte Mal mit diesem Familienzweig zusammen. Erst nach Lillis Tod konnte Elfi sich auf die Suche nach ihrem Vater und seinen Verwandten machen und ihn in seinen letzten Lebensjahren begleiten. Dank Walters Fähigkeit, nicht zurück und nicht nach vorne zu schauen, nur den Augenblick zu betrachten, zu genießen oder an ihm zu leiden, fanden Vater und Tochter schnell zu jenem intimen Verständnis, das nur entstehen kann, wenn man den anderen kennt, weil man ihm ähnelt und weil man auf Schritt und Tritt auf diese Ähnlichkeit gestoßen wird. Wenn man sich selbst liebt, gelernt hat, die eigenen Fehler zu akzeptieren und sich der eigenen Stärken bewusst ist, dann kann man auch diesen anderen Menschen, der so oft denkt, fühlt, handelt, wie man selbst es tun würde oder tat, lieben, achten und hat die nötige Geduld mit ihm.

Als Elfi ihren Vater wiederfand, lebte er schon in einem Altersheim. Sehr zufrieden! Da er jeden Tag etwas zu essen bekam und einige seiner geliebten Bücher mitgenommen hatte, diejenigen, die seiner privaten Insolvenz entkommen waren, weil er sie rechtzeitig bei seiner ältesten Schwester Johanna untergestellt hatte. Bei ihr hatte er auch einige Jahre gelebt, bevor beide zusammen in dieses Heim zogen.

Walter hatte einen kleinen Fernsehapparat, den Elfi gleich, nachdem sie ihn das erste Mal besuchte, durch einen größeren Farbfernseher ersetzte. Außerdem legte sie eine Liste all der Bücher an, die der Vater verloren hatte und an denen er hing, aus denen er zitierte, auf die er sich immer wieder bezog in ihren Vater-Tochter-Gesprächen. Dass auch seine älteste Schwester Johanna in dem Heim lebte, war ein Trost und Rückhalt für ihn, obwohl er gerade mit ihr nie ein enges vertrautes Verhältnis hatte aufbauen können, vielleicht weil sie so verschieden waren.

Johanna glich äußerlich der Mutter und schlug ganz in deren Familie. Sie war korrekt, ehrgeizig, es lag ihr viel daran, einen seriösen Rahmen um sich aufzubauen. Sie nahm in den letzten Jahren die alte Mutter bei sich auf und pflegte sie bis in ihren Tod hinein. Damit war sie und blieb es auch über den Tod Wilhelmines hinaus das Zentrum der ganzen Familie Sömmer. Und noch im Heim hatte sie regelmäßig Besuch von ihren Nichten und Neffen, denn sie überlebte all ihre Geschwister, auch ihren elf Jahre jüngeren Bruder Walter. Sie überlebte sogar sich selbst. Am Ende ihrer lichten Tage, da war sie 92 Jahre alt und die Mauer hatte sich gerade geöffnet, freute sie sich: „Johanna und ich könnten jetzt zusammen rüber reisen nach Sömmerda, wo der Vater geboren wurde.“

 

Wer sie inzwischen geworden war, wusste man nicht. Hatte sie die Identität einer ihrer anderen Schwestern, die alle schon längst tot waren, angenommen? Hatte sie sich die Seele der Mutter einverleibt, war sie endlich das geworden, was sie sich so sehnlichst immer gewünscht hatte: Mutter?

Auch Ruth besuchte Elfis Tante Johanna dort im Heim, besuchte ihren Schwager Walter bis zu seinem plötzlichen, sanften Tod an einem Nachmittag im Dezember, als draußen die Glocken läuteten, weil der erste Advent bevorstand. Und von da an gewann diese Familie schnell mehr und mehr Profil. Wurde menschlicher, berührbarer. Elfi eroberte sie sich zurück, ohne Gewissensbisse. Ihre Mutter musste sich wohl im Grabe umgedreht haben vor Unmut. Dass das Kind so eigenwillig entschied gegen das von der Mutter verfügte Verdikt.

Nun kamen sie schon seit Jahren zu Ruth, die Cousinen und Cousins, an einem Sonntag im Advent. Auch jetzt noch nach Elfis Tod. In den ersten beiden Dekaden des neuen Jahrhunderts ist Ruth das neue Zentrum der Familie. Man hat sie als Mutter adoptiert. Resolut und liebevoll übernimmt sie diese Aufgabe und ist so immer noch Mutter, obwohl ihr einziges Kind sie verlassen hat, im Stich gelassen. Hat ihr den wichtigsten Grund zu leben genommen. Hat die Naturgesetze umgedreht. Das passiert. Häufiger als man denkt.

Man umarmt sich, man macht ein Gruppenphoto, man packt Erinnerungen aus, man erzählt das Erzählbare, man politisiert ein bisschen, man lacht zusammen und verspricht, dass man sich aber im nächsten Jahr auch zusätzlich noch mindestens einmal im Frühling oder im Sommer sehen wolle. Einer jener guten Vorsätze, die immer wieder nach hinten verschoben werden auf ihrer aller Listen und schließlich ganz von den Listen verschwinden. Nur im Advent, da schaffen sie es alle, so als ob das einfach so sein müsste. Es genügt auch. Diese wenigen gemeinsamen Stunden reichen aus, um sich des Bandes zu versichern, das sie alle zu einem merkwürdigen lockeren Ganzen verbindet, einer Familie.

Mütter und Töchter

2020

Zwei Urgroßtöchter von Wilhelmine sitzen an den Betten ihrer sterbenden Mütter, 700 Kilometer voneinander entfernt, halten die Hände der schlafenden Frauen und lauschen auf ihre Atemzüge.

Der Tod ist ein Hinauf- oder Hinuntergehen, ein Eintreten oder ein Hinausgehen, ins Dunkel oder ins Licht. Wir wissen nichts darüber, wir haben nur Ahnungen, Vermutungen, Phantasien.

Mit ihren letzten Atemzügen hauchen sie ihr Leben aus, unsere Mütter, und wir übernehmen ihre Atmung, atmen weiter für sie, behalten sie – vielleicht nur für eine kleine Weile – noch in uns. Ganz werden sie nicht verschwinden, weil sie so viele Menschen berührt haben und man auf deren Seelen Fingerabdrücke sehen könnte, wenn die Seelen sichtbar wären.

Die beiden Cousinen zweiten Grades trennen 20 Jahre. Parallel dazu ist die eine Mutter eine uralte Frau, die andere muss aus einem aktiven Leben heraus weggehen. Eine wird durch die Alpträume ihres langen Lebens in ihre frühe Kindheit zurückgetrieben, wo sie einmal fröhlich und glücklich war. Die andere lässt sich nicht ein auf dunkle Orte ihrer Erinnerung, weit offen sind ihre Seelenaugen auf einen fernen Punkt gerichtet, wo ihr Liebster auf sie wartet, ein großer blonder Mann mit vorsichtigem Lächeln. „Ich komme“, sagt sie, „ich komme zu dir, endlich werde ich wieder bei dir sein. Mit dir war alles immer gut.“

Schwestern

28. Juni 1914

Sie wurden zusammen konfirmiert und beide wurden mit einem guten Zeugnis von der Schule entlassen. Johanna, weil sie sehr fleißig und pflichtbewusst war, Helene, weil sie intelligent war, schnell die richtigen Antworten parat hatte, weil ihre schwarzen Augen ihre Lehrer beunruhigten auf eine Art und Weise, die sich auch die älteren unter ihnen nicht erklären konnten. Hinter diesen Augen vermutete man eine unergründliche Tiefe an Gefühlen, an Leidenschaften, rahmensprengende Gedanken. Ihre trotzig aufgeworfenen Lippen ließen Eigenwille vermuten. Man horchte auf, wenn man zum ersten Mal ihre Stimme hörte. Das rauchige Timbre. Man musste sich sofort räuspern, weil man instinktiv annahm, das sollte sie eigentlich tun, Helene sollte sich ihre Kratzer von den Stimmbändern weghusten. Dabei ging das nicht und war auch nicht nötig. Ihre Singstimme nämlich klang klar und rein, schwang sich mühelos auf und auch die tiefen Töne kamen nicht gepresst oder gezwungen.

Im Jahr ihrer Konfirmation und Schulentlassung begannen beide eine Schneiderlehre im Mode-Atelier der Madame Wawrina, vermittelt durch ihre Tante Sofie, die dort bereits ihre Lehre gemacht und von Fräulein Wawrina insgeheim als Nachfolgerin auserkoren worden war. Sofie, die seit der Geburt ihres ersten Neffen Bertel Sofietante genannt wurde, war der Wawrina unentbehrlich geworden, eine zwar nur durchschnittlich gute aber äußerst zuverlässige Schneiderin, das hieß, sie beherrschte alle Arten von Nähten, konnte Schnittmuster anfertigen und den jeweiligen körperlichen Besonderheiten der Kundinnen anpassen. Sie vertrat die Ansicht, dass das lange schon Erprobte eine Dame von Stand immer noch am besten kleidete und ihr die Möglichkeit gab, sich auf ihre Kleidung so sehr verlassen zu können, dass sie sich, wenn sie sie einmal anhatte, nicht mehr darum sorgen musste, sondern ihre Energie und ihre Weiblichkeit ganz auf die anderen nicht selten doch wirklich schwierigen Elemente ihres Lebens konzentrieren konnte: Das Repräsentieren neben ihren bedeutenden Männern, das Erzwingen von Vorteilen, überall dort, wo viele Damen in Konkurrenz zueinander standen, das Beherrschen ihres Dienstpersonals, das Regieren ihrer Kinder und nicht zuletzt das Regieren ihres eigenen inneren Wohlbefindens, das sich sodann auf ihrem Gesicht ausdrücken und sie von innen her zum Leuchten bringen würde, so wie es ihr Stand und ihre Position im Leben verlangten. Sofie Walker hatte also ein Auge für das Machbare, das Modische wusste sie einzubeziehen, wenn es erwünscht war, sie war außerdem resolut und hatte kaufmännisches Geschick, sie handelte wie auf einem orientalischen Bazar, wo es den Rahmen des Schicklichen nicht sprengte, sie konnte mit genau dem richtigen Tonfall zu einem Mantel noch Lederhandschuhe, einen kapriziösen Schlangenledergürtel, einen seidenen Schal, vielleicht sogar ein Hütchen anbieten, wie nebenher ein paar Schuhe zeigen, hatte immer einige Modelle zum Anprobieren parat und zuvor mit dem entsprechenden Hersteller eine Provision vereinbart, wenn es ihr gelänge, ihm eine neue Kundin zuzuführen. Am bemerkenswertesten war ihre Wandelbarkeit, blitzschnell stellte sie ihren Tonfall auf ihr Gegenüber ein, schmeichelte oder verbarg das Schmeicheln unter scheinbar nüchternen Fakten, schürte in den Kundinnen, was ihnen gerade ermangelte, einen Sinn für Konkurrenz, für Selbstbewusstsein, für Einsicht in die körperlichen Unzulänglichkeiten und die absoluten Fähigkeiten einer guten Schneiderin, diese zu kaschieren. Sie war redselig oder wortkarg, je nach dem Gebot der Stunde und das Gebot der Stunde erkannte sie im Bruchteil einer Sekunde. Das Fräulein Wawrina hielt ihre Angestellte für ein Multitalent mit dem Schwerpunkt auf Kundenbetreuung und Verkauf. Künstlerinnen konnte man in diesem Beruf nur wenige gebrauchen. Im Modehimmel ging es eng zu, es gab dort viel Ehrgeiz und keine kommerziellen Sicherheiten. Das Fräulein Wawrina wollte und musste sowohl sich als auch ihre Angestellten schließlich ernähren.

Von ihrer Sofietante würden die beiden Nichten sehr viel Nützliches lernen können. Und das taten sie auch. Sie wussten, dass sie der Sofietante diese Lehrstelle in einem angesehenen Schneideratelier Mannheims zu verdanken hatten, ihr allein. Die Dankbarkeit für Erleichterungen aller Art wurde Wilhelmines und Pauls Kindern eingeimpft mit den ersten über das eigene kindliche Wohl hinausgehenden Gedanken; wenn wir höher hinaus oder zumindest nicht die soziale Leiter hinunterfallen wollen, brauchen wir Hilfe, hieß das Credo der Familie, wir sind viele, bei uns geht es eng zu, wir schaffen das Leben nicht allein.

So beugten also Johanna ihren blonden und Helene den kastanienbraunen Kopf über die Kapp-, Biesen, Paspel-, Stürz-, Kräusel- und Kedernähte, stachen sich die Finger blutig, wippten mit dem rechten Fuß nach vorne, dem linken zurück auf dem breiten Pedal, lernten Knöpfe mit und ohne Füßchen anzunähen und Knopflöcher einzusetzen, jedes exakt mit der gleichen Anzahl von Knopflochstichen, die Knötchen eng aneinandergeschmiegt. Aber sie lernten auch mit den anderen Näherinnen zu schwatzen und erweiterten damit ihren Horizont, denn das behütete Leben der Töchter des Hofmusikers und seiner Frau Wilhelmine, die mit einer Reihe sehr angesehener Mannheimer Bürgerfamilien verwandt und verschwägert waren, schloss vieles aus, worüber diese Mädchen und Frauen bestens Bescheid wussten, deren Mitteilungsbedürfnis so elementar war wie Hunger und Durst.

Am Wochenende trafen sie sich, diese Mädchen, wanderten am Rhein entlang oder den Neckar aufwärts, fuhren mit der Bahn in den Odenwald, spazierten, lagerten im Wald auf mitgebrachten Decken, manche brachten einen Bruder mit und vielleicht noch dessen Freund. Es wurde gelacht, geschwatzt, geflirtet.

Johanna tat nichts, was sie nicht jederzeit Mutter und Vater hätte erzählen können, ohne deren Wohlwollen einzubüßen. Sie war sich für manches eben einfach zu gut, das alberne Flirten, das Tratschen, das von einer Zukunft Träumen, die außerhalb jeglicher realer Normen lag.

Helene aber war noch nicht mit dem zweiten Lehrjahr fertig, da hatte sie schon einen echten Verehrer, den Sohn einer guten Kundin, einen Gymnasiasten, der nur einfach mit Stubs angeredet werden wollte, nicht mit Gerold von Stein, wie er eigentlich hieß. Helene kannte ihn vom Atelier. Seit er zu der Wandergruppe gestoßen war. Warum denn eigentlich? Welche Verbindung hatte er? Hatte er ihre Nähe gesucht? Ihre Nähe? Seit er dabei war, erschien er öfter im Atelier als zuvor, vielleicht auch bemerkte sie ihn jetzt erst? Er drängte sich in Helenes Gedanken, tauchte dort auf am Abend, wenn sie müde hinüberglitt in ihre Träume. Am Tag, viele Male, sie begann sich so zu verhalten, als ob er jederzeit neben ihr stehen könnte und sie beobachten würde. Wenn er seine Mutter begleitete, dann blieb es bei kleinen, wie zufälligen Berührungen der Finger, im Vorübergehen, bei einem tiefen Blick, Auge in Auge versenkt, einem Zucken der Lippen, so als ob sie sprechen wollten, oder vielleicht küssen?

Er wartete auf Helene im Schatten der gegenüberliegenden Häuser, noch im November, begleitete sie dann nach Hause. Und im Frühling ließ sie ihn wissen, dass es am Wochenende wieder in den Odenwald gehe.

Johanna bemerkte wohl das Spiel der beiden und sorgte sich um die Schwester.

„Ob das seiner Mutter recht ist?“

„Die weiß doch gar nichts davon.“

„Ob es unserer Mutter recht wäre?“

„Die wird auch nichts davon erfahren, wenn du es ihr nicht verrätst.“

Johanna presste die Lippen aufeinander.

„Er wird dich niemals heiraten, Helene, nie und nimmer wird er das können oder gar dürfen. Sei bloß vorsichtig.“

„Was soll das denn heißen?“

„Du weißt doch, was die Männer wollen. Alle wollen das. Und du weißt auch ganz genau, wo das hinführt. Wir sehen das schließlich seit Jahren. Ich finde es grässlich, dass der Vater die Mutter nicht endlich in Ruhe lässt.“

„Glaubst du denn, dass es die Mutter nicht vielleicht auch will?“

„Immer noch mehr Kinder?“

„Nein, ich meine das andere.“

Die beiden sahen einander stumm an, denn was benannt werden müsste, war doch für sie beide unaussprechbar. Darüber spricht man nicht, hieß das Motto.

Helene und Stubs gingen bald Hand in Hand. Beim nächsten Ausflug lag Stubs Kopf in Helenes Schoß und sie beugte sich über ihn, streichelte sein Gesicht, wuschelte durch sein Haar. Die Tage wurden länger, die Luft duftete im Wald und auf den Wiesen, es wurde heiß, man war so träge beim Wandern, Helene und Stubs blieben weit hinter der Gruppe zurück. Als es bei schon anbrechender Dunkelheit zurückging, hatte Stubs den Arm um Helene gelegt, er flüsterte ihr etwas ins Ohr, oder küsste er ihr Ohr oder hatte sie eben nicht das Gesicht ihm zugedreht und hatten sich nicht ihre Lippen berührt? Das war am Sonntag, den 28. Juni, Helene würde es nicht vergessen. Niemals, denn Stubs hatte ihr an diesem Tag einen Ring an den Finger gesteckt. Ein kleines Herz mit einer Gravur: ein S und ein H ineinander verschlungen. Jedoch dieser Tag brannte sich ohnehin in das Gedächtnis der Menschheit ein. Das österreichische Thronfolgerpaar wurde an jenem Tag von einem serbischen Attentäter ermordet und daraufhin nahmen die europäischen Länder Aufstellung, um sich in die Schlachten des Ersten Weltkriegs zu stürzen.

 

Stubs meldete sich mit den ersten Freiwilligen zum Dienst für das Vaterland. Die Ehre seiner Familie gebot es ihm. Er schrieb Helene Briefe, schickte Karten und sie trafen sich bei jedem seiner Heimaturlaube, bis er verwundet wurde und in der Zeit seiner Genesung die Freundin seiner ältesten Schwester, eine gewisse Adelheid Hattenberg, die Tochter des Kommerzienrates Hattenberg, ihm Gedichte vorlas, ihn stützte, als er seine ersten Schritte mit dem geschienten Bein versuchte, und überhaupt nicht mehr von seiner Seite wich, und die Eltern der beiden sie schließlich mit sanftem Druck vor den Traualtar lenkten. Das zahlte sich aus für alle Beteiligten, denn der seelisch und körperlich schwer beschädigte Gerold von Stein wurde von seinem Schwiegervater mit einem gut bezahlten und nicht sehr arbeitsintensiven Posten in den Mannheimer Chemiewerken dafür belohnt, die schon über 30-jährige Adelheid zur Ehefrau und Mutter eines kräftigen Sohnes zu machen. Helene blieb ein Ring und die Erinnerung an das Gefühl auf ihrer Haut, wenn Stubs sie berührt hatte, den Duft seiner Haare, den Geschmack seiner Lippen, das Kribbeln an ihrem ganzen Körper, wenn sein Blick und ihr Blick ineinander tauchten. Ihre Tränen wusste nur Johanna zu deuten und sie behielt ihr Wissen für sich: Ein Liebesbeweis unter Schwestern. Helene war unendlich dankbar dafür. Sie bewahrte ihre Dankbarkeit auf und wartete geduldig auf einen Moment, wo auch sie der Schwester einen Liebesdienst würde erweisen können. So einfach ist das allerdings nicht. Die Liebe ist kein Handel. Sie ist sehr eigenwillig, selten geht sie einen Weg hin und wieder zurück. Was sie Gutes bewirkt, kann nicht gespiegelt werden. Es verwandelt den Geliebten und befähigt ihn, auch zu lieben, aber er wird anders lieben oder sogar möglicherweise ein anderes Ziel suchen für seine Gefühle. Niemals kann der Geliebte für den Liebenden sein, was dieser ihm ist. Helene ist Johanna dankbar, aber sie liebt die kleine Paula. An sie verschwendet sie ihr kostbar und selten gewordenes Lächeln. Ihr singt sie mit ihrer warmen weichen Stimme Lieder, erzählt ihr Märchen und Geschichten, zeigt ihr, wie man Knopflöcher versäumt, Knöpfe annäht, wie man einen Hefeteig zubereitet, wie man ein Blumenkränzchen windet, es sich aufs Haar drückt, dass man aussieht wie eine Elfe. Helene wacht über Paula wie einst über das Richardle und lange Zeit braucht sie kein weiteres Liebesobjekt.