Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick

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Die Urenkelin

Irgendwann zwischen dem

3.10.1997 (Richards Todestag)

und 20.1.2020 (heute)

Richard findet schnell und problemlos ins Rauchereck. Man winkt ihm schon von Ferne: „Komm zu uns herüber, hier gehörst du hin.“

Männer und Frauen jeden Alters sitzen und stehen beieinander. Sie halten den Glimmstengel zwischen ihren Zeigefingern und Mittelfingern, manche auch so wie beim Kommiss, die Glut dem Handrücken zugedreht, eingeklemmt zwischen Mittelfinger- und Daumennagel. Die dort mit der Zigarettenspitze, das ist doch ... Marlene? Hinter dem Dunst der Zigarette changiert ihr Gesicht, ist jung, ist alt, ist unschuldig, neugierig, traurig, enttäuscht, lockt lasziv. Direkt neben ihr sitzt auf einem schweren Samtsessel ein dicker Mann mit selbstgefälligem Grinsen, aber aus den Augen blitzt es eher verschmitzt als maliziös und gleich darauf ist das Lächeln verflogen, Zigarrenrauch vernebelt ihn, es scheint, als ob seiner prallen Silhouette Luft entweicht und seine Haare verwandeln sich, werden voller, dunkelblond ...

„Na, was ist, willst du eine rauchen?“

Richard nickt.

„Du bist neu hier?“

Er nickt wieder.

„Bist du überrascht?“

„Ich habe den Eindruck, es ist gar nicht so viel anders als früher ...“

„Früher, später, diese Kategorien gibt es hier nicht. Genauso wenig gibt es Nähe und Ferne. Wir sind immer überall. Wenn wir es wollen. Oder jederzeit an einem beliebigen Ort und zugleich anderswo, jeder von uns. Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick.“

„Sind auch die schon hier, die eigentlich noch nicht ...“

Der andere nickt.

„Irgendwo immer.“

„Sind wir auch selber mehrfach hier? Können wir uns selbst begegnen?“

„Du bist neugierig. Hast du dich schon lange auf diesen Augenblick vorbereitet?“

„Immer wieder einmal.“

„Jetzt hast du erst einmal einen Wunsch frei.“

„Hinunterschauen.“

Der andere lacht: „Es ist nicht unten, wir sind nicht oben, wir sind mittendrin.“

Richard dreht sich langsam um, wendet sich ab von den anderen Rauchern, sieht nah oder fern, er wüsste es nicht zu sagen, eine ältere Frau an einem Schreibtisch sitzen. Er deutet mit dem Finger auf sie.

„Du willst wissen, wer das ist und was sie tut? Das ist Beate, deine Tochter. Sie schreibt gerade an ihrem neuen Roman.“

Richard kann über die Schulter der Frau auf den Bildschirm schauen und schnell fast gleichzeitig alles lesen, was sie schreibt.

Er nickt und grinst.

„Sie schreibt von mir.“

„Nicht nur das. Sie schreibt die Geschichten, die du damals aufgeschrieben hast, und da lag eine Zukunft für dich drin ...“

Richard lächelt. Es tut nicht weh und es tut nicht gut. Es ist einfach so, wie es ist.

Nach dem Triumph bei den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin, wo er oben stand mit den anderen Trompetern, er war 13, breitbeinig und siegesgewiss, blieb ihm etwa ein Jahr, um sich endlich angekommen zu fühlen in der Rolle, die seine Mutter für ihn vorgesehen hatte: Er war ein strahlender Held. Einer, dem etwas gelungen war. Ein Jahr später hatte das Schicksal ihm eine andere Rolle zugedacht.

„Er ist ein Krüppel und er wird es bleiben. Ein Hinkebein, ein Verlierer.“

Das hörte er den Vater sagen, als er wenige Tage nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus am Abend vor der Küchentür stand und durch den schmalen Spalt hineinspickelte. Da der Vater gleich darauf zu seinem Taschentuch griff und sich heftig schnäuzte, glaubte Richard zu wissen, dass er geweint hatte. Der Vater hatte über seinen Sohn, den Krüppel, geweint.

Ein Felgaufschwung! Er selbst hatte auf den 2,60-m-Wettkampfhöhe der Reckstange bestanden, seit Berlin fühlte er sich wie Richard Löwenherz, stark, unbesiegbar. Dann abgerutscht, ungut aufgekommen, das Bein verdreht. Erste Operation, zwei Wochen liegen, zweite Operation, drei Wochen liegen, Mobilisation mit zwei Krücken, dritte Operation, eine „kleine“, wie man ihm versicherte, eine weitere Woche im Krankenhaus, dann Entlassung mit Krücken. Zuerst zog er ein bei der Großmutter, weil sie inzwischen im Erdgeschoss wohnte. Zwei Wochen später durfte er wieder hinauf in sein eigenes Zimmer unterm Dach. Er konnte kaum gehen mit dem steifen Bein, hatte zugenommen, hatte keine Lust mehr auf lateinische Vokabeln und das Nibelungenlied. Im Geschichtsunterricht wurde wieder und wieder die Demütigung des Versailler Vertrages breitgetreten und der Revanchismus beschworen, die Notwendigkeit, sich aus der Knebelung fremdbestimmter Friedensverträge zu befreien. In Erdkunde die „Volk-ohne-Raum“-Ideologie erläutert. Er hasste Cäsar, Erbsen blieben ihm im Hals stecken, wenn er an den Augustiner Abt aus Brünn und seine Samenkreuzungen dachte. Das Mittelalter mit seinem verdammten Minnedienst konnte ihm gestohlen bleiben, einzig Schillers Dramen vermochten es noch, seine Aufmerksamkeit an sich zu ziehen, trotzdem wurden seine Zensuren immer schlechter. An Tagen, an denen er keinen Deutschunterricht hatte, ging er gar nicht erst zur Schule, lag stattdessen im Bett und las. Nur seinem Deutschlehrer hörte er noch zu, ihm gab er keine frechen Antworten. Der hatte den Mut, manchmal vom Lehrplan abzuweichen und wirklich Interessantes aufs Tapet zu bringen. Kerle wie den Karl Mohr, mit dem man sich identifizieren konnte, zum Beispiel. Wenn der Oberstudienrat Körner von Schiller sprach, dann war er nicht der Weimarer Dichterfürst, dann war er ein junger aufsässiger Deserteur, der vor seinem Vater und dem König floh, um seine Seele zu retten. Wie die Auflehnung sich breitmachte in seinem Kopf und seinem Herzen. Wie er darum kämpfte, dass seine „Räuber“ aufgeführt werden konnten, hier in Mannheim. Eines Tages bestellte der Dr. Körner Richard dann zu sich und redete ihm ins Gewissen, ermahnte ihn ernsthaft, dass seine Versetzung gefährdet sei, wenn er so weitermache.

„Deine Noten fordern meine mathematischen Fähigkeiten heraus. Zweimal Mangelhaft im Hauptfach, wie wäre das auszugleichen? Eine Drei in Deutsch reicht nicht und mehr hast du im Augenblick nicht verdient.“

Er unterbreitete Richard ein Angebot. Mit einer zusätzlichen Fleißarbeit könnte er seine Note bei ihm verbessern, könnte ein Gut erreichen, mit dem das zusätzliche Mangelhaft in Latein ausgeglichen werden sollte. In Sport würde seine alte Note übertragen, das Gut im Sport könnte zusammen mit einem

Gut – in Physik vielleicht, da habe er ja wenigstens die beiden Praktika mit gutem Erfolg absolviert – die andere mangelhafte Note abfangen. Richard empfand eine Art Verpflichtung, auf dieses Angebot einzugehen. Dr. Körner schien seine Situation zu verstehen und seine stille Rebellion anzuerkennen. So begann Richard die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben. Vom Urgroßvater Walker erzählte er, dem Lotsen, vom Großvater Sömmer, dem Musiker, vom Urgroßvater Klumpp, dem Goldsucher, vom Vater, der Heizer gewesen war an Bord der SMS „Prinz Adalbert“. Doktor Körner behielt das Heft und rettete ihm mit seiner guten Zensur den Arsch. Er versprach Richard darüber hinaus, dass er dafür sorgen wolle, den Text zu veröffentlichen.

„Du hast Talent zu erzählen. Sprache, das ist dein Stoff. Bleib dran. Darin sehe ich deine Zukunft.“

Aber dann, dann war das Heft mit allem, was der Körner in seinem Schreibtisch hatte, konfisziert und vernichtet worden, als man ihn staatsfeindlicher Umtriebe verdächtigte, weil er ein Sozi war, insgeheim. Hätte die Schulbehörde das geahnt, hätte er schon lange vorher seine Stellung eingebüßt. Ein Glück für seine Schüler, ein Glück für Richard, dass das nicht passierte. Der arme Körner landete schließlich bei der Organisation Todt und musste irgendwie überlebt haben, denn Ende der 50er-Jahre kam ein Luftpostbrief aus Amerika. Immerhin Herr Körner hatte dort eine neue Existenz gegründet, verdiente sein Brot als Farmhelfer in Iowa und arbeitete am Abend seine Vergangenheit auf, schrieb Briefe nach Deutschland, um sein Heimweh erträglich zu machen, vielleicht, oder weil er nicht mit offenen Rechnungen im Gepäck sterben wollte. Hatte eine Frau geheiratet und eine Tochter bekommen, die dem Vater versprach, diese Briefe nach seinem Tod abzuschicken und die ihr Versprechen hielt. Das Schreiben irrte eine Weile bei der Mannheimer Post hin und her, bevor es bei Tante Johanna landete und diese gab es ihm bei einem seiner Besuche, das musste schon in den 60er-Jahren gewesen sein. Er war längst in einem anderen Leben gelandet. Es war ein gutes Leben zu dieser Zeit und er hatte keinen Grund, den unerfüllten Möglichkeiten nachzujammern. Oder hatte er es doch einmal getan? Hatte er ihr davon erzählt? Seiner Tochter? Ihr ein Versprechen abgerungen? Er konnte sich nicht erinnern.

„Bist du ein Geschichtenerzähler?“

Richard seufzt. Er würde seufzen, wenn er noch dort wäre. Er nickt. Aber er hat nicht den Eindruck, dass das jemanden interessiert.

Da liest er es auf dem Bildschirm: „Er konnte erzählen, ausführlich und detailversessen bis zur Schmerzgrenze des Zuhörers.“

Es ist vorbei und doch nicht. Wie lange wird sich noch irgendjemand erinnern?

Die „anderen“ Großeltern

Antons Vater Bertold stammte aus dem Murgtal, die Mutter aus Bruchsal, der Stadt mit dem schönen Barockschloss und dem Gefängnis. Sie war die Tochter des örtlichen Henkers, hatte rote Haare und eine flinke Zunge. Aus ihren grünen Augen blitzte es immer, man wurde das Gefühl nie los, auf einem Pulverfass zu sitzen mit ihr, gleich würde sie hochgehen, sich an irgendetwas stoßen, sich aufplustern zu einer wütenden Reaktion. Ob der Beruf ihres Vaters, ihr Aussehen oder ihr Wesen sie an den Rand der Gesellschaft getrieben hatten, ist bis heute schwer zu sagen. Ihre hartnäckigen Versuche, dabei zu sein, wenn sich die jungen Leute aus der Nachbarschaft trafen, um zu tanzen, oder sich gemeinsam aufmachten in die Kraichgauer Weinberge, um in den goldenen Herbstnachmittagen der Septemberwochenenden den ersten neuen, leicht bitzelnden Wein zu kosten, waren der Einsicht geschuldet, dass sie diesen Kontakt brauchte, dass sie eigentlich dazugehören wollte, dass sie wie andere junge Mädchen darauf aus war, einen zu finden, der sie zur Frau nähme. Es schien hoffnungslos, bis einer kam, der auch nicht dazugehörte, ein Fremder, der anders sprach und anders angezogen war. Er sah sie direkt an, nahm keinen Umweg über die blonden anschmiegsamen Kichererbsen oder irgendeine reiche Weinbauerntochter, er holte SIE zum Tanzen auf die Holzplanken, die man auf der Burg Ravensburg unter die alten Kastanienbäume gelegt hatte, damit es schön knallte, wenn man bei der Polka mit den Fersen aufstampfte. Im abnehmenden Licht setzten sie sich in einer Tanzpause auf die Mauer und sahen einander in die Augen, nachdem sie sich vollgetrunken hatten mit der Schönheit der umliegenden Rebenhänge. Wo kommt er denn her, will sie wissen, was macht er, womit verdient er sein Geld?

 

Er ist nur zu Besuch hier in Bruchsal bei seiner Patentante, kommt eigentlich von weither, von Amerika, da lebt er schon einige Jahre.

Und warum lebt er in Amerika und warum ist er jetzt heute hier?

Ursprünglich stammt er aus dem Murgtal, ist der ledige Sohn einer Bauerstochter, die von ihrem Vater aus dem Haus gejagt worden war, als sie ihn erwartete, die dann unterkam in Gernsbach in einem großen Haus, bei einer feinen Familie, einem Juden, der ein Menschenfreund war und sie sogar in seine Küche ließ, ihr erlaubte, das für sich und ihr Kind mitzunehmen, was nicht aufgegessen wurde. Sie lebten ganz gut, bis seine Mutter starb. Er war gerade 14 geworden und dem zunehmend komplizierten Leben noch kaum gewachsen. Schließlich kam er unter bei den Flößern im Kinzigtal, lernte mit der Axt und dem Löffelbohrer, sämtlichen Flößerhaken und Krempen umzugehen und schlief mal da und dort, wohin einer ihn mitnahm, manchmal einfach nur in einer der kleinen Tiroler Heuhütten. Das Flößen ist eine verflucht gefährliche Sache und er wäre darin stecken geblieben, immer nur die Drecksarbeit zu machen. Die einträglichen Positionen blieben in der Hand weniger Familien, dazu gehörte er nicht. Deshalb ging er mit, als einer seiner Kumpels ihm vom Gold erzählte, das man in Amerika finden konnte und das einen armen Mann dann über Nacht reich macht.

Lina hörte ihm gebannt zu, dem Fremden. Als er die Stadt beschrieb, in der er jetzt wohnte, die Forty Mile hieß und an einem wunderschönen Fluss gelegen war, in der es ein Theater und Restaurants, sogar eine Bücherei gab und vor allem Gesetze, die das Zusammenleben der Menschen dort sicherten, leuchteten ihre Augen. Jetzt war er zurückgekommen, um sich eine Frau zu suchen. Die Patin hatte ihm in all ihren Briefen die Bruchsaler Mädchen angepriesen. Wie tüchtig sie seien und wie schön. Ihm stand nicht der Sinn nach einer Indianerin, er wollte jemanden neben sich haben, mit dem er sich in seiner Muttersprache unterhalten konnte und der wusste, wovon er sprach, wenn er „Weihnachtsbaum“ und „Butterbackes“ sagte.

Sie waren sich schon an diesem Abend einig. Waren verlobt, bevor sie hätten ein Liebespaar werden können.

Lina packte ihre Sachen und stand bereit, als Bertold einige Tage später im Morgengrauen zum Haus kam, das sie ihm beschrieben hatte, um sie abzuholen, da wusste er noch nicht einmal ihren Nachnamen. Die Tochter des Henkers sah hier ihre Chance, alles hinter sich zu lassen, was sie einengte und verbitterte. Den Vater und seinen Ruf, den Blick auf ihre ungute Haarfarbe, das Gezeter über ihren Widerspruchsgeist. Noch leuchteten die Augen des Fremden, wenn er sie ansah, das musste man nutzen.

Drei Tage waren sie unterwegs mit verschiedenen Kutschen, bevor sie in Bremerhaven ankamen. Lina hatte Hunger und Durst, aber sie freute sich darauf, bald eine verheiratete Frau zu sein und weg von allem, was sie zu Hause ihr Leben lang beschämt und enttäuscht hatte. Der Kapitän ihres Schiffes würde sie trauen, das hatte Bertold ihr erklärt, und so fand eine kleine Feier auf dem Schiff statt. Mit salbungsvollen Worten, einem Abschnitt aus der Bibel und einem Glas Schnaps hinterher wurde aus Lina Reinhard Lina Klumpp. Bertold übergab dem Kapitän dafür einen Großteil seiner Ersparnisse, in der Gewissheit, dass er dieses Loch im Beutel drüben überm Teich bald wieder würde füllen können.

Das Schiff lief aus und steuerte auf die englische Südküste zu. Im Kanal allerdings wurde es in einen Sturm hineingetrieben, man sah nur das tobende Wasser ringsum, die schäumenden Riesenwellen schlugen übers Deck, keiner der Passagiere durfte seine Kabine verlassen. In Linas Kabine lagen in mehrstöckigen schmalen Kojen 16 Frauen, wenn sie sich nicht um die Eimer drängelten, in die sie sich erbrachen, die sie einander wegrissen oder auch zuschoben, denn es gab dort die einen und die anderen wie überall auf der Welt und immer im Leben: diejenigen, die neidisch das eigene Wohl in den Vordergrund schieben und die, die sich auch umsehen nach denjenigen, die neben ihnen stehen und deren Bedürfnisse anerkennen. Lina hatte genug von Schiffsreisen.

Als sie mit Verzögerung nach vier Tagen und Nächten, in denen sie sich in der Hölle gewähnt hatte, in Plymouth ankamen, erklärte Lina ihrem neuen Ehemann – das war er vorerst nur auf einem Papier –, sie gehe von Bord und mit dem nächsten Schiff zurück nach Hause.

Vielleicht deshalb, weil er sie ja so sehr hatte haben wollen und noch nicht gehabt hatte, weil er sich mit Leib und Seele nach ihr sehnte und genau wusste, dass sie die Richtige für ihn war, die einzige Richtige, die es jemals für ihn geben würde, und weil er sie eben für immer haben wollte, ging er zurück mit ihr und blieb. Zog ein in eine kleine Stube unterm Dach in das Haus des Henkers, der längst schon ein Taglöhner geworden war, einer, den man jederzeit rufen konnte, wenn etwas repariert werden musste.

Bertolds Schwiegervater war ein anständiger und grundgütiger Zeitgenosse. Er nahm ihn mit auf seine Einsätze und half ihm, eine Reputation als geschickter Mann fürs Grobe und Feine aufzubauen. Lina und Bertold bekamen nacheinander sechs Kinder. Nur zwei davon wurden erwachsen. Die bösen Nachbarn behaupteten, Lina habe sich am Geschrei der Säuglinge so sehr gestört, dass sie versucht habe, sie mit Schnapswickeln ruhigzustellen. Nur Sohn Anton und seine Schwester Karoline hätten diese Rosskur ausgehalten und somit die Feuertaufe fürs Weiterleben bestanden.

Anton war ein braves, aufgewecktes Kerlchen, geschickt mit den Händen, folgsam und bedächtig. Er schlug sowohl dem geduldigen und sanftmütigen Vater als auch dem umgänglichen Großvater nach. Er las gerne und hatte eine schöne Singstimme. Die einzige Lehrstelle, die sich für ihn fand, als er seine Schulzeit beendete, war in der Schreinerei vom Gefängnis. Dort lernte auch er wieder mit Holz und den zu seiner Bearbeitung geeigneten Werkzeugen, der Stich-, Kapp- und Kreissäge, dem Hammer, der Feile und sogar mit dem Hobel umzugehen. Er lernte Tisch- und Stuhlbeine zu drechseln, Leim und Schellack mit einem Pinsel aufzutragen, wo sie gebraucht wurden, gerade so dick und so flächig wie nötig. Er war anstellig, fleißig, zuverlässig. Hatte außerdem eine gut leserliche Handschrift und ein außergewöhnliches Gespür für Orthografie und Grammatik. Das kam vom vielen Lesen. Wann immer er Zeit dafür hatte, hielt er sich ein Buch vor die Nase und verschwand in fernen Welten. Er wusste mehr über die Goldgräberstädte in Amerika und Kanada als sein Vater. Das Abtauchen in erfundene Wirklichkeiten brauchte er, denn es fiel ihm schwer mitanzusehen, wie man zuweilen mit den Gefängnisinsassen umsprang. Wenn einer nicht spurte, dann brachte man ihm die Flötentöne bei, wie es die breitschultrigen Wärter mit den kantigen Kieferknochen nannten. Die Häftlinge wurden gestoßen, getreten, in den Bauch geboxt und alle wandten das Gesicht ab, wollten nichts gesehen haben. Das verletzte Antons Gerechtigkeitsgefühl, es machte ihn krank zu sehen, wie sich jeder Nicht-Gefangene das Recht herausnahm, die Einsitzenden wie ein Stück Dreck zu behandeln. Hätte man nicht erst einmal ihre Geschichte anhören müssen, hätte man sich nicht erst einmal ein Bild machen müssen, wie es dazu gekommen war, dass sie gestohlen oder betrogen hatten? Auch den Mördern war es manchmal möglich, eine plausible Erklärung für ihr Verbrechen zu geben. Hätte man sich nicht erst einmal dafür interessieren müssen, bevor man sich dem Urteilsspruch der Justiz einfach nur anschloss? Schuldig. Verloren. Unmensch. Abschaum.

Anton wollte, er konnte das nicht ein Leben lang weitermachen. Er würde daran zugrunde gehen. So kam ihm zugute, dass er sich frei und ungebunden fühlte, als er erfuhr, dass der deutsche Kaiser zunehmend aufrüstete und sein Lieblingskind, die Kriegsmarine, mit Nachdruck ausbaute. Anton hatte sich zu der Zeit mit einem Häftling angefreundet, der kurz vor der Entlassung stand und ihm zuflüsterte, wohin er vorhabe zu gehen, ans Meer, hinauf in den Norden, wo die großen Werften jeden brauchen konnten, der ein bisschen mit Holz und Werkzeugen umgehen könne, denn alles andere lerne man vor Ort.

Das eine ergab das andere. Nach drei Jahren schwerer Arbeit auf den Werften, wo er wirklich schuften lernte, bis die Haut in Fetzen von seinen Händen riss, wo er außerdem genug Geld verdiente, um sich eine schöne Gitarre und eine echt silberne Mundharmonika zu kaufen, heuerte Anton auf der SMS „Prinz Adalbert“ an, einem großen Kreuzer der Kaiserlichen Marine. Die Baukosten dieses stattlichen Schiffes hatten zehn Jahre zuvor rund 16 Millionen Goldmark betragen. Es war eine Ehre für Anton, nun dem kaiserlichen Heer anzugehören, die Matrosenuniform stand ihm gut, wenn er als Heizer auch nur selten irgendjemanden damit beeindrucken konnte. Trotzdem wuchs seine Beliebtheit in der Mannschaft stetig, sicherlich auch, weil er so schön Gitarre spielen konnte, dazu mit seiner warmen Baritonstimme in jeder Stimmung die richtigen Lieder sang, dazwischen sehnsuchtsvolle Melodien aus der Mundharmonika saugte und ansonsten nur auffiel durch ein hohes Maß an Verlässlichkeit und Pflichtbewusstsein. Anton schaufelte Kohlen im Bauch des Schiffes, als die „Prinz Adalbert“ die Minenkreuzer Nautilus und Albatross beim Legen einer Minensperre unterstützte. Er schwitzte im Bauch des Schiffes, als es nach Kriegsbeginn vor der baltischen Küste operierte, vom britischen U-Boot E9 torpediert und beschädigt wurde, aber wieder freikam und nach Kiel zurückkehren konnte. Nicht durch den Beschuss, sondern durch ein unglückliches Hantieren beim notdürftigen Versorgen der lecken Außenwand, hatte Anton sich eine tiefe Fleischwunde am rechten Oberschenkel zugezogen, so dass er beim erneuten Auslaufen des Schiffes nicht mehr mit an Bord war. Es wurde ihm das Eiserne Kreuz verliehen und dazu wurde eine entsprechende Nachricht in der lokalen Zeitung eingerückt. Sein Vater klebte den Zeitungsausschnitt von hinten auf einen rechteckigen Glasquader, den er von nun an als Briefbeschwerer verwendete, den der Sohn später in seinen eigenen Haushalt übernahm, den Antons Tochter schließlich nach dem Tod des Vaters zu ihren Preziosen in ein hölzernes Kästchen legte.

Anton befand sich also in Bruchsal auf Heimaturlaub, als die „Prinz Adalbert“ am 23. Oktober 1915, wieder im baltischen Teil der Ostsee, erneut von einem britischen U-Boot aus beschossen wurde. Dieses Mal wurde das Munitionsmagazin getroffen. Die Explosion riss das stolze Schiff entzwei, nur drei der 675 Mann Besatzung wurden gerettet. Eigentlich vier, denn Anton hatte sich immer noch zugehörig gefühlt. Er war außer sich, als er vom Schicksal seines Schiffes hörte, er weinte still in sein Kopfkissen, stundenlang verweigerte er die Nahrung, schlug mit beiden Fäusten an die Wand seines Zimmers, bis er den Schmerz der blutenden Risse spürte, bis er sich von seinem Vater einfangen und in sein Bett bringen ließ. Die Mutter kippte ein ganzes Fläschchen Baldrian in einen Schnaps und der Vater wendete nach langer Zeit wieder einmal einen Griff an, den er einstmals gelernt hatte zur Verteidigung im Fall einer Gefängnisrevolte, so zwangen die beiden ihren Sohn, den 192 cm langen und muskulösen Marinematrosen in sein Bett und hielten ihn fest, bis er in einen unruhigen zehnstündigen Schlaf absacken konnte. Als der Krieg zu Ende war, hatte für Anton längst ein neues Leben begonnen. Er landete auf dem Posten eines Grenzaufsehers in der Waldshuter Gegend, begann wieder Gitarre zu spielen, zog am Wochenende die Uniform aus und ging von Dorf zu Dorf, spielte und sang, nahm auch die Mundharmonika aus der Hosentasche und entlockte ihr die klagenden Melodien von einst. Zu allem, was man hörte aus Berlin, aus Hamburg, aus Kiel nickte er nur ein kleines bisschen mit dem Kopf. Er befand sich in einer Art Zwischenreich, war nicht tot, nicht lebendig, inzwischen Mitte 20 und ahnte, dass er etwas ganz Bestimmtes brauchte, um wieder an die Zukunft glauben zu können.