Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick

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Neujahr

1919

Johanna hat die glitzernden Perlenohrringe eingesteckt. Sie trägt ein wunderschönes von Helene entworfenes wadenlanges Kleid, schwarzer Tüll über einem weißen Crêpe-de-Chine-Unterrock, die blonden Haare mit Eigelb gespült. Sie hat einen Beau-Jour, denkt die Mutter. Auch Helene, Gott sei Dank, lächelt zumindest jetzt für das Foto, obwohl ihre Augen ganz verhangen sind. Diese ungute Sache mit dem jungen Mann, den sie sich so sehr in den Kopf gesetzt hat, schwebt immer noch wie eine dunkle Wolke über ihr.

Die Kleinen sind im Bett oder jedenfalls in ihren Zimmern. Paul kommt erst später nach der Silvestergala, dann soll noch ein Freund von Johanna erscheinen. Willi zappelt herum. Er wirkt immer so, als ob er die anderen beiden suchen müsste. Sie waren halt immer wie zusammengewachsen, der Karl, der Willi und das Richardle. Mit seinen 17 Jahren ist der Willi nun kein Bub mehr und noch kein Mann. Da sitzt er, mittendrin und lacht über die zum Teil doch schon sehr anzüglichen Scherze, man hat einfach zu viel Wein getrunken; kaum zu glauben, wo der herkommt, man war es jetzt so lange nicht mehr gewöhnt. Mein Gott, dass wir wieder aufatmen können, dass auch der Bertel heil aus dem Krieg zurückgekommen ist, wo immer er wohl war, er sagt es ja nicht, er kann es nicht sagen, jedoch es halte jemand eine mächtige Hand über ihn, so drückt er es immer aus, wenn die Mutter ihm weinend die Wange streichelt zum Abschied, nachdem er wieder einmal vorbeigeschaut hat, aber nur kurz und wieder verschwindet nach Berlin in dieses Babylon! Der Kaiser fort, überall Aufruhr, nur nicht hier, hier in meinen vier Wänden. Wilhelmine atmet auf.

Das Vorbeischauen ist das übliche Beziehungsmuster geworden in dieser Familie. Wenn sie nicht die vier Kleinen hätte! Die sind noch ganz bei mir, hier unter meinen Fittichen. Bei Sofies Geburt war Wilhelmine fast schon 40 Jahre alt. Es war trotzdem eine gute, eine leichte Geburt und gleich konnte sie sich über das Kindchen freuen, seine Pflege übernehmen ohne fremde Hilfe, es stillen, baden, wickeln, es auf dem Arm hin- und herschaukeln in den ersten Wochen, bis Sofies schreckliche Bauchkrämpfe vorüber waren und das Kindchen so richtig auf dieser Welt angekommen war. Jetzt ist ihre Jüngste immerhin schon fünf. Eine süße quirlige Prinzessin mit sehr viel Selbstbewusstsein, der Liebling ihres Vaters, er schaut in sie hinein wie in einen Spiegel. Dabei ist sie ganz bestimmt nicht so musikalisch wie die 15-jährige Paula oder gar wie Helene, die sogar in der Schule immer eine Eins gehabt hat in Musik, immer! Walter, der elfjährige Gymnasiast, auf dem besten Weg zum Professor. In Mathematik und Latein eine glatte Eins. Wo haben sie das nur her, meine Kinder? Und Hans, der groß gewachsene siebenjährige Hans, der ein bisschen dem Bertel ähnelt, so ernsthaft ist er, auch charmant mit seinen Grübchen in den Wangen und diesem Blick, den slawischen Schlitzaugen seines Vaters, aber blau sind sie, so grünblau wie meine, Wilhelmine schmunzelt stolz. Überall ist er sofort zu erkennen mit seinen flachsblonden Haaren. Wenn das so bleibt, dann wird er wohl ein Herzensbrecher werden, eines Tages.

Ach ja, es ist leichter geworden, mein Leben, denkt Wilhelmine dankbar. Der Paul hat mit seiner Gesundheit zu tun, längst hat er nicht mehr so viel Energie wie früher. Seine Leidenschaft verwandelt sich allmählich in eine sanfte innige Zärtlichkeit. Bald sind wir 50. Dann sind wir ganz und gar auf der anderen Seite des Flusses angekommen, wie man so schön zu sagen pflegt, weil man diese Dinge ja nicht anspricht. Sie gehören in die Dunkelheit der Nächte.

Bertel also aus dem Haus und der Willi hat gerade seine Lehre angefangen, kommt nur noch zum Schlafen nach Hause und hat ein Angebot für einen Platz im Lehrlingsheim. Lebt dort zusammen mit gleichaltrigen Burschen, da kann er sich messen und orientieren, das braucht er jetzt mehr als den elterlichen Schutz. Auch Johanna und Helene nur noch zum Schlafen hier. Vier verköstigen sich selbst, vier muss ich noch ernähren.

Wilhelmine wird aus ihren Gedanken gerissen durch ein stürmisches Klingeln an der Eingangstür. Kurz darauf erscheint Johanna Hand in Hand mit einem sehr hübschen jungen Kerl, der direkt auf Wilhelmine zugeht:

„Mein Name ist Willi Gilles“, sagt er. „Ist denn auch Ihr Mann da, Frau Sömmer? Ich möchte mit ihm sprechen.“

Da weiß Wilhelmine Bescheid. Sie freut sich, oh, sie freut sich so sehr. Es wird eine Hochzeit geben, bald, das sieht man in seinen Augen. Da ist Ungeduld und noch etwas, was Wilhelmine sehr gut kennt. Ein bestimmter Hunger nach Nähe ist da. Es wird ein Brautpaar geben und bestimmt ganz bald auch ein Enkelkind. Ein kleines Kindchen in ihren Armen. Eins zum Liebhaben, das sie nicht stillen muss, für das sie nachts nicht immer wieder aus dem Bett aufstehen muss, über das sie nicht wachen muss, wenn es fiebert, hustet, sich erbricht. Nur liebhaben darf sie es. Wie ist das Leben gut zu ihr! Was ist das für ein wunderbares neues Jahr, und auch ein neues Jahrzehnt, das hell und froh vor ihr liegt. Sie kann es kaum abwarten, ihr Glück mit Paul zu teilen.

Der Zollinspektor

1920

Die Oper Carmen hatte für Anton ein Leben lang eine besondere Bedeutung. Lioba Winter eine Carmen? Sicher nicht. Sie war ein ganz normales Mädchen, die Tochter eines Bodenseefischers, tätig als Hilfe im Haushalt des Stühlinger Wein- und Spirituosenhändlers Salzmann. Lioba liebte Musik, Antons Baritonstimme hatte es ihr angetan, als sie mit anderen jungen Leuten in Meersburg in den Weinbergen unterwegs waren und einander begegneten. Anton und Lioba waren einander schnell einig zu heiraten, sobald der Krieg zu Ende wäre. Aber erst einmal wurde Lioba schwanger und der kleine Hugo wurde geboren. Anton hätte sie gerne vor der Geburt geheiratet, so dass das Kind schon seinen Namen gehabt hätte. Da druckste sie herum, sie will in ihrer schönen Tracht zum Altar gehen, so wie ihre Mutter und ihre Großmutter und ihre Schwester und da passt sie jetzt doch nicht hinein ... Ja, ja, das sah Anton ein, es wäre sicherlich schnell zu regeln, der Hugo Winter würde am Tag ihrer Hochzeit ein Hugo Klumpp werden und dann könnte alles seinen Gang nehmen. Der Mensch denkt, Gott lenkt, das blieb Antons Spruch, immer wenn er Hugos Geschichte erzählte. Warum hatte ausgerechnet er, der fadengerade, fast treudoofe Grenzer Klumpp Dienst in jener unglückseligen Sturmnacht, als man das Schiff seines zukünftigen Schwiegervaters bergen musste und ihn dazu rief, weil es voll war mit Schweizer Uhren, kleinen, großen, aus Holz, aus Metall, kaum verpackt, sie quollen den Zöllnern entgegen und Antons Kollegen starrten stumm auf die Bescherung, ihr Blick wanderte zum alten Winter und seinen Söhnen, dann zu Anton. Es wurde nichts geredet.

Schließlich fand Anton seine Sprache, seine Haltung, sein Pflichtgefühl wieder. „Ich muss das melden.“

Das war’s. Lioba verzieh ihm nicht. Eine Heirat kam nicht mehr in Frage. Obwohl er sich korrekt verhalten hatte, empfahl man ihm eine Versetzung, so landete er in Mannheim beim Warenzoll. Das Heimweh nach dem Kleinen zermürbte sein Herz. Viele Male hatte er das Gefühl, er müsste wie der Sergeant Don José Zoll Zoll sein lassen und zurückgehen an den See, es drauf ankommen lassen, ob man ihn dort aufnehmen würde, sich Arbeit suchen und Lioba wieder zurückzugewinnen, so hätte er dabei sein können, wenn sein Sohn lachen, laufen und sprechen lernte. Aber das war Oper, nicht Wirklichkeit.

Dann traf er an einem Wochenende auf eine fröhliche Gruppe junger Leute, die sich am Bahnhof zusammenfanden, um in den Odenwald zu fahren, wo sie wandern wollten. Statt in Heidelberg den Zug zu verlassen, was er vorgehabt hatte, blieb er bei ihnen sitzen, stieg erst mit ihnen aus und wanderte mit ihnen durch den Wald, die Bänder flatterten von seiner Klampfe, seinen Hut hatte er in den Nacken geschoben, seine dunklen Haare quollen darunter hervor, eine Locke fiel ihm ins Gesicht, er sah verwegen aus. Mitten im Odenwald sang er von St. Pauli und der Reeperbahn, vom Los des Matrosen, immer wieder Abschied nehmen und diejenigen, die er liebte, zurücklassen zu müssen. Dabei ging es ihm vor allem darum, die Aufmerksamkeit einer jungen Frau mit einem traurigen Gesicht, trotzig geschürzten Lippen, dicken kastanienbrauen Haaren und langen gelenkigen Fingern auf sich zu ziehen, deren Blick, das bemerkte er wohl, immer wieder auf ihn fiel und länger und länger auf ihm verweilte und die ihn am Abend, als sie sich in Mannheim voneinander verabschiedeten, zögerlich anlächelte, zuerst mit geschlossenen Lippen, dann blitzten sogar ihre schönen weißen Zähne hervor. Sie verschwand, bevor er sie hätte fragen können, wo sie wohnte. Er wusste nur, dass sie Helene hieß, dass sie gerade die Meisterprüfung als Schneiderin bestanden hatte, aber erst mit 24 würde sie auch die Anerkennung der Kammer erhalten, so lange müsste sie warten und als Verkäuferin arbeiten. Sie hatte eine Stimme wie Samt und Seide, sang jedes seiner Lieder mit, mühelos fand sie eine zweite Stimme, über der Melodie, unter der Melodie, so etwas hatte er noch nie erlebt. Solch ein Zusammenklang! Einer im anderen geborgen, einer um den anderen herumverschlungen, verbunden, dann sich schwebend wieder entfernend, aber doch immer einer nicht ohne den anderen komplett. Er wusste, er musste sie wiedersehen und er würde sie finden, auch wenn er alle Läden Mannheims nach ihr absuchen müsste.

Aus Kindern werden Leute

1929

Paula und Walter waren auf dem Sprung in eine eigene Zukunft, die mehr bedeutete als nur ein Entwurf, als der Vater starb. Sofie 17 und auf der Handelsschule.

Johanna immer noch bei der Sofietante im Atelier Wawrina beschäftigt, in dem es inzwischen weniger und weniger zu tun gab, leider. Zunächst hatte der Krieg den Menschen Zurückhaltung auferlegt, welche Frau brauchte denn dringend ein neues schickes Kleid, wenn in den Schützengräben die Männer starben? Dann wurde bei Schmoller oder Wronker Damenkonfektion angeboten, in mehreren Größen der gleiche Schnitt, das gefiel den Damen, da konnten sie sich die passende Größe aussuchen, anprobieren ohne Kaufverpflichtung und sich fühlen wie in Amerika, wo man als normal gewachsene Frau schon lange nicht mehr zu einer Schneiderin ging, bei der man ewig auf die Fertigstellung seiner Kleider hätte warten müssen, die man dann vielleicht doch nicht mochte, weil sie mit der Vorstellung, die man gehabt hatte, so gar nicht übereinstimmten. Die Sofietante und Johanna zusammen mit einem Lehrling im ersten und einem weiteren Lehrling im zweiten Jahr also hielten im Atelier „Wawrina Nachfolger“ die Fahne hoch, wer wusste wie lange noch. Helene, inzwischen Mutter von zwei Kindern, hatte sich in ihrer Wohnung im zweiten Stock in der Böckstraße sieben ein Schneideratelier eingerichtet und beschäftigte ebenfalls ein Lehrmädchen. Sie hatte sich auf Brautkleider und Abendroben spezialisiert, ihre Modelle, Modifikationen gekaufter Schnitte, stattete sie mit raffinierten Details aus und verwandelte sie in traumhafte Einzelstücke. Einmal hatte sie sich sogar mit Kolleginnen zusammengetan, einen Saal im Bürgerkeller gemietet und Paula und ihre Freundinnen führten die schönsten Modelle der letzten Saison vor, gerade so wie es einstmals Helene, Johanna und einige der gut gebauten jungen Schneiderinnen bei Wawrina gemacht hatten. Stubs stand damals am Eingang, begrüßte die Gäste und seine Mutter fiel fast in Ohnmacht, als sie auf ihn traf. Er lachte über ihre Entrüstung und schwor Helene tausend Eide, wie sehr er sie liebe bis in alle Ewigkeit hinein, die Mutter könne nie und nimmer etwas dagegen unternehmen, das sei ja lachhaft, einfach nur kalte Luft.

 

Ja, alles längst vorbei! Nun musste Johanna ihrer Schwester Helene manchmal nächtelang bei der termingerechten Fertigstellung ihrer Aufträge helfen, weil Helene immer wieder von Migräne und Gelenkschmerzen geplagt wurde. Dann half ihr nur eines, sie verzog sich ins dunkle Schlafzimmer und schlief den ganzen Tag und die Nacht. Ihre Mutter holte die Kinder zu sich, ließ sie im Hof unter ihren Augen spielen und kochte ihnen ihre Lieblingsgerichte. Richard war ein lieber, ruhiger Bub, der sich stundenlang mit den Katzen beschäftigte, kleine Rinnen, Hügel und Brücken baute für seine Murmeln, in einer schönen Zigarrenkiste, die die Lenetante ihm geschenkt hatte, Insekten sammelte und beobachtete, wer es mit wem aushielt, wer wen bedrohte, fraß, erwürgte und wie lange diese Duelle dauerten. Abends ging er von Wohnung zu Wohnung, von der Großmutter hinüber zu Tante Johanna, dann zurück zur Mutter und wenn Tante Paula da war, um nach der Familie zu schauen, bettelte er sie an, ob sie ihn mitnähme in ihren „Hühnerstall“, wie Walter die Wohnung von Paula und ihren Freundinnen bezeichnete. Aber Richard blieb auf jeden Fall da, wenn Walter auf der Bildfläche erschien, wenn Hans dazu stieß und wenn die beiden im Hof mit ihm Ball spielten. Manchmal auch hießen sie ihn, sich zur Kugel rund zu machen, und dann war er der Ball, den sie einander zuwarfen. Dabei quietschte er so laut, dass sich alle Hoffenster nacheinander öffneten, schließlich auch das Omale rausschaute und einen schrillen Schrei ausstieß: Nein! Nur das nicht! Nur den Richard nicht in Gefahr bringen! Das darf nicht sein, das ist ein besonders schweres Tabu! Es wäre schlimmer als das Schlimmste, was uns allen passieren könnte! Helene würde uns umbringen, wenn ihrem Richard etwas zustöße!

Nach dem Tod des Vaters begann wahrscheinlich bei Walter das Über-die-Stränge-Schlagen. Trinken, Rauchen, Wetten, Pokern. Ein Vater, auch wenn er nie alles von seinen Kindern weiß, ist eine Art Gewissen, eine moralische Instanz. Allein durch seine Existenz oder durch die Erinnerung an all die innigen Momente der Verbundenheit mit ihm, das Leuchten in seinen Augen, wenn man etwas gut gemacht hat, die Traurigkeit, wenn man etwas richtig versiebt hat, durch Mangel an Rückgrat und Charakter, durch Leichtsinn oder durch dieses teuflische Begehren in einer jungen Seele, wenn man einfach nur ausprobieren will, wie weit man gehen kann.

Drei Tage nach Walters 21. Geburtstag war Paul Sömmer, der Musiker, gestorben. War längere Zeit davor schon hinfällig gewesen, von mehreren Schlaganfällen gezeichnet. Walters Lehre beim Anwaltsbüro Lanzmann Kreisler und Söhne – Fachleute für Steuerfragen – hatte er da schon abgeschlossen. Mit einem hervorragenden Zeugnis erhielt er das Angebot einer finanziellen Unterstützung für weitere zwölf Monate, um sich auf einer privaten Fachschule fortbilden zu lassen. Wohnen oder schlafen und essen sollte er nach wie vor bei der Mutter und den jüngeren Geschwistern, zumal Paula gerade mit drei Freundinnen zusammen eine Wohnung in der Lenaustraße in Mannheim-Neckarstadt gemietet hatte, oben unterm Dach, um die Selbständigkeit auszuprobieren. Das sind halt die 20er-Jahre, die jungen Frauen sind heute anders als früher, dachte Wilhelmine, weil sie eben immer alles verstehen wollte, was ihre Kinder taten.

Walter war befreundet mit dem jungen Lanzmann, er poussierte ein bisschen mit seiner Schwester, jedenfalls gingen sie zusammen ins Kino, zum Tanzen, ganz manierlich.

„Mutter, da ist nichts dabei!“

Sicher war nichts dabei. Walter beherrschte die Kunst des Flirtens mit 21 so gut wie der jeweilig begehrteste jugendliche Liebhaber am Theater. Er hatte diese besondere Zurückhaltung im Umgang mit Mädchen. Verstohlene Blicke, ein Aufspannen der Augenbrauen, ein winziges Zucken in den Mundwinkeln, dann ein schneller Griff, um aus dem Mantel zu helfen, die Tür aufzureißen, gerade rechtzeitig, zurückzutreten, sich hinter das Mädchen zu stellen, so dass sie sein Rasierwasser riechen konnte und vielleicht sogar die Wärme seines Atems an ihrem Ohr spürte, weil die Bewegungen einander entgegengekommen waren, ihre und seine, ganz unvorhergesehen, man musste „Oh, Pardon“ sagen und beschämt schauen, dass man so nah an die Verehrte, Bewunderte herangetreten war, denn man wollte ihr doch nicht zu nahe treten, allenfalls ein bisschen näher kommen, wenn’s denn auch willkommen wäre, dessen versicherte er sich mit einem Fragen in den Augen und schließlich einem kessen Zwinkern, einer klitzekleinen Drehung des Kopfes. Walter hatte eine leise Stimme, ein bisschen rauchig, mit Timbre. Der Klang seiner Sätze war immer melodiös, immer freundlich. Er fand Formulierungen, die ein Nein oder gar ein Niemals klingen ließen wie ein Ja auf immer und ewig und überall. Man konnte keinen Streit mit ihm kriegen. Man konnte ihn nicht brüskieren, beleidigen, zurückweisen. Sein Lächeln, sein Zwinkern, der kleine Dreh seines Kopfes verwandelten alles ins Spielerische, nahmen dem Ernsten das Endgültige und ließen es verfließen ins Vage, Nebelhafte, Flüchtige.

Für Walter hatte der Vater ursprünglich eine Karriere als Musiker vorgesehen gehabt. Vor langer Zeit. Weil keiner so gut Klavier spielte wie er. Alles konnte er spielen, Weihnachtslieder, Kirchenlieder, Arien aus den bekannten Opernaufführungen der Saison, Melodien aus den Lieblingsrevuen seiner Schwestern, die frechen Schlager der neuen Stars am Berliner Musikhimmel, „Veronika, der Lenz ist da“ oder „Mein kleiner grüner Kaktus“.

„Walter, spiel doch mal“, bettelten seine Schwestern.

„Was soll ich spielen?“, erwiderte er grinsend.

Da begannen sie etwas zu summen, wippten mit den Fußspitzen dazu oder wiegten sich in den Hüften. Manchmal pfiffen sie auch und klatschten, aber nie lange, denn er wusste im Handumdrehen, was sie meinten und nahm die Melodienfetzen auf, verlegte sie in die Mitte des Klaviers, so dass jeder mühelos einstimmte. Aber Noten lesen konnte er nicht. Brauchte er doch nicht, wozu auch? Und das hatte den Vater sehr geschmerzt. Dass die vielleicht stärkste musikalische Begabung unter seinen Kindern mit so viel Leichtsinn und einem solchen Mangel an Fleiß und Ehrgeiz verbunden war. Und Sturheit. Es war Walters Art, sich jedem Einwand zu entziehen, indem er sein charmantes Lächeln aufsetzte, mit dem Kopf nickte und sich dann einfach verzog, einfach verschwand, dem Zugriff entwand wie ein glitschiger Fisch, ein weicher Körper ohne Anhalt und Profil, was Paul zum Kochen gebracht hatte.

Wenn Hans nicht gewesen wäre, der helle heitere Bub, der jüngste von Pauls Söhnen! Auch er war durchaus musikalisch, konnte schön und richtig singen, schon als Fünfjähriger spielte er Schumanns wilden Reiter flinkfingrig vom Blatt, ohne auch nur einmal mit den Augen nach unten zu spickeln.

Eines Tages erschien er beim Vater und sagte, er wolle eine eigene Geige haben, eine, die ihm gehöre, nur ihm. Paul ging auf diese Bitte ein, im Hinterkopf dachte er, Kinderwünsche sind ja doch so flüchtig wie ein lauer Sommerwind. Spätestens in vier Wochen hängt er das Instrument wieder zurück an meine Wand. Es dauerte dann doch länger, bis sein jüngster Sohn ihm die Geige wieder zurückbrachte. Als Paul sie genau ansah, bemerkte er kleine Ritzen im Holz. Hans hatte sich Markierungen für seine Finger gemacht, damit er die Töne schneller greifen konnte. Aber selbst das hatte ihn nicht mit der Geige auf immer und ewig verbinden können, wie er es sich wohl gewünscht hätte.

„Ich gebe sie dir zurück und möchte jetzt eine Trompete ausprobieren“, sagte Hans. Da war er acht. Der Vater empfahl ihm, zunächst ein Kornett zu versuchen, da es sich besser greifen lasse. Kurz darauf erschien sein Sohn wieder mit ernster Miene in seinem Studierzimmer.

„Es hat sich gezeigt, dass die Trompete das richtige Instrument für mich ist. Ich brauche jetzt einen guten Lehrer.“

„Den kriegst du, Bub, den werde ich dir suchen, das ist leicht, das verspreche ich dir, das machen wir.“

Für Paul war das eine Offenbarung, die allen Ärger, den er mit Walter je hatte aushalten müssen, wegwischte wie nie geschehen. Und wenigstens die letzten Jahre seines Lebens hatte er sich an den Fortschritten von Hans erfreuen können.

Mit 15 wurde Hans bereits zum Theaterorchester hinzugenommen, wenn man die Kapazität erweitern musste, zur Matthäuspassion, zur Neunten von Beethoven, zur 1812-Ouvertüre wieder mit dem Kornett oder auch, wenn im Winter Krankheitsausfall bestand, aber auch zum Beispiel, wenn einer der Herren Opernregisseure die verrückte Idee hatte, eine Trompete auf einem hohen wackeligen Gerüst zu platzieren, um sich einen Namen zu machen im Feuilleton und in den Zirkeln der musikverrückten Mannheimer Gesellschaft.

„Ja, das ist mein Neffe“, konnte die Lenetante dann sagen, wenn sie die Theaterkritik aufgeschlagen auf die Theke legte: „Akrobatisches Talent aus dem Mannheimer Orchestergraben begeistert das Opernpublikum“ stand da in fetten Lettern.

Wie nebenher nahm Lene Walker die Huldigungen ihrer Kunden entgegen beim Verkauf von Zigarren, Zigaretten, Zigarillos und Pfeifentabak, Schnapsfläschchen und Abziehbildern, Magazinen und Zeitungen aller Couleurs; sie führte inzwischen auch durchaus solche, die man nur mit einem Zwinkern der Lider erhielt, erst, wenn alle anderen Kunden den Laden verlassen hatten und sie sie verstohlen aus der untersten Schublade, die sie danach wieder mit einem Schlüssel sicherte, den sie immer an einer langen Kette um den Hals trug, hervorgeholt hatte. Sie war ja nicht prüde, sie war vor allem Geschäftsfrau und im Gegensatz zu ihrer Schwester Sofie wirtschaftete sie immer noch oder vielmehr wieder so erfolgreich, dass sie auch weiterhin ihre Schwester Wilhelmine bei der Aufzucht ihrer vielen Kinder unterstützen konnte, besonders nachdem diese Witwe geworden war.

Als der Vater starb, hatte Paula gerade die Hauswirtschaftsschule abgeschlossen und außerdem einen Kurs für Stenografie und Schreibmaschine erfolgreich absolviert gehabt, denn die Lenetante unterstützte nur ausschließlich dieses Projekt, weil sie in anderen keine Zukunft sah für ein Mädchen. Danach hatte sie im Kaufhaus Schmoller auf dem Büro ihre erste Anstellung bekommen, die es ihr ermöglichte, die anteilige Miete in der Lenaustraße zu bezahlen, denn für ihre Kleidung sorgte die Sofietante. Die Lenetante wollte sich daraufhin nicht lumpen lassen, sie ließ ihre Verbindungen zum Theater spielen und vermittelte Paula als Aufsichtsperson für den Kinderchor, der bei der derzeitigen Carmen-Inszenierung eingesetzt wurde und die Nerven des Chorleiters so sehr strapazierte, dass er sich bei der Lenetante ausheulen musste. Ein Zubrot für Paula, eine Unterhaltung, eine Erfahrung. Lene Walker stellte sich vor, dass ihre Nichte, so intelligent und charmant wie sie war, sich ausgezeichnet ausnehmen würde an der Seite eines Chefs, dem sie eine unentbehrliche Assistentin werden könnte. Die Stelle als Stenotypistin bei Schmoller war als Sprungbrett gedacht, denn vor Paula lag eine glänzendere Zukunft, daran glaubten alle. Sie war nicht nur hübsch, sie hatte diese unnachahmliche Anmut, diese Herzlichkeit, das Strahlen von innen raus, dem keiner widerstehen könnte.

 

Wilhelmine Sömmer freute sich natürlich sehr, dass ihre Tochter Paula so gelobt wurde von allen, noch mehr allerdings beruhigte sie die Tatsache, dass Paula sich im Glanz dieses Lobs nicht zu ihrem Nachteil zu verändern schien, wie man hätte befürchten können. Sie ging hindurch und blieb, wer sie immer gewesen war. Der angeheiratete Onkel Willi Gilles, Johannas Ehemann, beschäftigt im Finanzamt und dort bereits schon einige Stufen aufgestiegen, nahm nicht geringen Anteil an der Entwicklung der jungen Schwägerin. Er wollte sich umhören nach einem Posten mit Aussichten und hatte zur Bekräftigung seiner Bereitschaft in letzter Zeit öfter mal ein Gespräch mit Paula vereinbart, das partout weder in der Böckstraße sieben noch in seiner und Johannas Wohnung in der Böckstraße zehn hätte stattfinden können, zu dem man sich vielmehr in einer jener Kneipen hatte treffen müssen, von denen aus Paula nicht allein hätte nach Hause gehen können, sondern eines männlichen Schutzes bedurfte. Der Schwager musste tatsächlich zur Bekräftigung dieses Schutzes auch ab und zu den Arm um sie legen. Um die Schultern, manchmal auch um die Taille. Paula wurde das immer unheimlicher, aber sie wusste nicht recht, mit wem sie darüber hätte sprechen sollen. Deshalb behielt sie ihr Unbehagen vorerst für sich.

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