Der Grenadier und der stille Tod

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3

Lautes Gerede und der verführerische Duft von Kohl, Zwiebeln und würziger Brühe schlugen Madeleine entgegen, als sie die Tür zur »Tulpe« öffnete. Sie hätte jetzt auch etwas vertragen können. Um vier in der Früh war sie von zu Hause aufgebrochen, hatte vorher nur schnell noch einen in Wassermilch getunkten Kanten Brot hinuntergeschlungen. Jetzt war es Mittag, ihr knurrte der Magen.

Die Oberhäusserin hatte behauptet, in der »Tulpe« gebe es den besten Braten in der Stadt. Spezialität des Hauses sei der mit Thymian abgeriebene und in Rotwein eingelegte Hasenrücken, je nach Jahreszeit immer mit einem anderen Gemüse, gelbe Rüben, Sellerie, Pilze, Topinambur, dazu Nüsse, Mandeln, Kapern, Trüffel, Krebse. Die Gäste kämen nur deshalb. Sogar der allergnädigste Markgraf habe schon danach gefragt und seinen Hofkoch angewiesen, die Delikatesse zu besorgen. Er sei, habe Seine Durchlaucht später ausrichten lassen, von der Zubereitung der Speise derart entzückt gewesen, dass er demnächst gar einen persönlichen Besuch des Wirtshauses erwäge, schon allein wegen dessen Namen. Habe doch Markgraf Carl Wilhelm, sein verehrter Herr Großvater und Gründer der Stadt, die kostbaren Tulpen über alles geliebt, für teuer Geld aus den Niederlanden einführen und sie tausendfach malen lassen. Da könne es ja gar nicht anders sein, als dass das Essen dort vorzüglich wäre. Der Tulpenwirt, hatte die Oberhäusserin unter dem Grinsen der umstehenden Marktweiber weitererzählt, habe sich daraufhin sofort einen brandneuen Rock und neue Schuhe anfertigen lassen und vor dem Spiegel so lange Bücklinge geübt, bis ihm die Hex in den Rücken geschossen und er ein paar Tage lang wie eine windschiefe Birke herumgekraucht sei.

An dem Tisch neben dem Durchlass zu Küche und Hinterhof hatte sich eine Gruppe Offiziere breitgemacht. Als Madeleine beim Vorbeigehen mit der Kiepe versehentlich den Arm eines Uniformierten streifte, schnauzte der sie sofort an, was ihr einfalle. Sie erkannte in ihm den schmallippigen Befehlshaber vom Richtplatz und entschuldigte sich. Aber der Kommandant hörte es nicht oder wollte es nicht hören. Er musterte sie kalt von oben herab. Was für ein anmaßendes Scheusal. Madeleine beschloss, diesen Menschen nicht zu mögen.

»Komm, setz dich, Madeleine, ich hab mich schon g’wundert, wo du bleibsch.«

Der Tulpenwirt räumte das Tischle an der Tür frei und stellte eine Schüssel mit dampfendem Eintopf hin, dazu Brot und ein Glas verdünnten Weins. »Jetzt ess erscht mal was, ich seh dir doch an der Nasenspitze an, dass du Hunger hasch.« Der Wirt musste sie kein zweites Mal bitten.

Mit der Suppe wurde ihr warm, auch im Raum war es warm, und die Küchenmagd, die dicke Theres, wischte sich unablässig den Schweiß von der Stirn, während sie Zwiebeln würfelte, Salz unter den Rotkohl knetete, das Gemüse abschmeckte und schließlich ein mit Speck umwickeltes Bratenstück aus dem Sud hob und in Scheiben schnitt. Der berühmte Hase? Aus der Speisestube schallte metallen hart die Stimme eines der Militärler an Madeleines Ohr.

»Ich versichere Ihnen, meine Herren, dass ich das jedem Rekruten vom ersten Tag an einbläue: Huren oder Enthaltsamkeit! Etwas anderes gibt es nicht. An Heiraten ist nicht zu denken. Das geht erst, wenn der Soldat vielleicht Premier-Lieutenant oder Major ist. Lässt er dann im Kampf sein Leben, nun gut, dann ist für Witwe und Kinder wahrscheinlich ausreichend gesorgt, damit die Familie nicht der Staatskasse zur Last fällt.«

Der Sprecher schnaubte grimmig, und Madeleine, die nicht sicher war, ob sie richtig verstanden hatte, weil der Mann für sie zu schnell sprach und es überdies laut im Raum war, beugte sich vor, um zu sehen, wer geredet hatte. Natürlich, der schmallippige Offizier. Der, den sie sich entschlossen hatte, nicht zu mögen.

»Und trotzdem greifen Unzucht und Disziplinlosigkeit immer weiter um sich«, ereiferte sich ein zweiter Mann, den Madeleine von ihrem Platz aus nicht sehen konnte. »Die Weibsleut sind die Schlimmsten, heucheln Moral und Anstand, aber schmeißen sich jedem Kerl an die Brust. Ich komme gerade aus Frankfurt. Da ist doch auch erst vor drei Tagen so ein gottloses Frauenzimmer hingerichtet worden. Eine gewisse Susanna Margaretha Brandt. Auch wegen Kindsmord. Die Gerichte sind viel zu milde in solchen Dingen. Die Hinrichtung mit dem Schwert schreckt nicht ab. Man sollte die Dirnen wieder der Folter unterziehen, ertränken, wie früher. Das würde sie zur Raison bringen.«

E li omni?, entrüstete sich Madeleine, was ist denn mit den Männern, was ist mit denen? Monsieur tat ja geradeso, als hätten diese mit der ganzen Chose nichts zu tun. Es war doch Matthieu gewesen, der hinter Jeanne herrannte wie der Teufel hinter der armen Seele, und dann war der Freundin der Leib dick geworden, niemand hatte etwas gemerkt. Winters ließ sich unter der Kleidung viel verbergen. Aber sie hatte sich bald gedacht, dass da irgendetwas nicht stimmte, und Jeanne gefragt, ob sie krank sei. Nein, nein, wiegelte die Freundin ab, das sei vom gestockten Blut. »Das geht weg, wenn die Sach wiederkommt.«

Aber der Jeanne ihre Sach war nicht wiedergekommen. Stattdessen bekam sie Krämpfe, im Frühjahr, mitten auf dem Feld, und unvermutet schoss das Kind aus ihr heraus und plumpste auf den Acker. Ein Mädchen. Nur gut, dass sie dabei gewesen war und ein paar Frauen rufen konnte, die sich mit so etwas auskannten. Aber sie mussten mit Engelszungen auf die Freundin einreden, damit diese das Kindchen in den Arm nahm, der Pëchitto die Brust gab und was man halt so tut nach einer Geburt. Und die ganze Zeit hatte Jeanne geheult, sie habe das doch nicht gewusst.

»Das würde sie mit Sicherheit zur Raison bringen«, bestätigte der schmallippige Kommandant die Worte des Vorredners, als eine sonore Stimme ihn unterbrach. Madeleine musste sich anstrengen, um die Person zu verstehen.

»Sie erlauben, aber wenn man Sie so reden hört, könnte man meinen, dass wir Männer Unschuldslämmer oder lauter Heilige wären«, sagte der Unbekannte. »Aber Hand aufs Herz, meine Herren, wer von Ihnen hat denn in jungen Jahren Enthaltsamkeit geübt? Sie, Herr Major? Oder Sie? Oder Sie?« Der Mahnende schwieg, vermutlich wanderte sein Blick in der Tischrunde von einem zum anderen. Dann vernahm Madeleine sein belustigtes Kichern.

»Sie hatten doch bestimmt alle Ihre kleinen Liebeleien? Nachbars Töchterchen, die Magd des Bäckers …«

»Geh, hören Sie auf«, fiel einer dem Unbekannten ins Wort, der Stimme nach zu urteilen derselbe, der die überhandnehmende Unzucht beklagte. »Die Weiber wissen doch genau, wie sie uns rumkriegen, hinterlistig und raffiniert, wie sie sind. Dagegen kommt doch kein Mann an. Meiner Meinung nach müssen Kirche und Staat rigoros durchgreifen, soll unsere Gesellschaft nicht zugrunde gehen. Ich plädiere dafür, dass ab einem gewissen Alter die Geschlechter strikt voneinander getrennt werden. Kein Beisammensein von unverheirateten Frauen und Männern im selben Raum, keine gemeinsamen Spaziergänge ohne Aufsicht. Tanzveranstaltungen und sonstige vorgebliche Vergnügungen gehören verboten. Nur auf diese Weise lassen sich uneheliche Kinder und in der Folge davon die massenhaften Kindstötungen vermeiden.«

»Massenhaft?«, höhnte der Vorredner, »ich höre immer ›massenhaft‹. Sie tun ja geradeso, als würde jeden Tag irgendwo im Land ein Neugeborenes umgebracht. Das ist ja nun nicht der Fall. Im Übrigen, verraten Sie mir, wie Sie es bewerkstelligen wollen, dass sich junge Männer und Frauen im Alltag nicht begegnen?«

Der andere wollte etwas erwidern, aber der unbequeme Mahner kam jetzt richtig in Fahrt und ließ sich nicht unterbrechen.

»Nein, meine Herren, das Problem ist ein anderes. Das Problem sind unsere Gesetze.«

Er pausierte kurz, räusperte sich und sprach dann schnell weiter, bevor ihm jemand ins Wort fallen konnte.

»Sie werden mir doch zustimmen, dass es die Aufgabe des Staates ist, für das Wohlergehen seiner Bewohner zu sorgen, nicht wahr? Aber was tut der Staat? Er hat sich der Moralauffassung der Kirche untergeordnet, predigt ein seltsames Gebot der Keuschheit und hat Heirats- oder besser gesagt Nicht-Heiratsregeln und Unzuchtsgesetze erlassen, die der Natur des Menschen spotten. Kein Mann, keine Frau ist imstande, solch widernatürliche Bestimmungen einzuhalten. Und so stehen wir vor der beklagenswerten Tatsache, dass die Natur ihren Lauf nimmt und Frauen, die dem Fürsten wertvolle Untertanen schenken, schenken könnten, meine Herren, im Namen dieser Vorschriften rücksichtslos einem fragwürdigen Anstandsbegriff geopfert werden. Eine hingerichtete Frau kann aber nun mal keine Kinder mehr gebären, und dem Fürsten entgehen auf diese Weise Tausende von zukünftigen Bürgern, Dienern, Knechten und Mägden. Damit muss Schluss sein. Die Gesellschaft muss umdenken. Wir brauchen Accouchierhäuser, wo Frauen gebären dürfen, ohne den Namen des Schwängerers oder ihren eigenen nennen zu müssen. Wir müssen unsere Fürsten an die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ›Landesvater‹ erinnern, damit sie sich, wie bei Waisenkindern, als wirkliche und fürsorgliche Väter zeigen und sich der unehelichen Kinder in Liebe annehmen. Und wir brauchen Säuglingsklappen. Andernorts gibt es das bereits, ich habe diese Einrichtungen in Italien gesehen, in Hospitälern und Klöstern, und mich von ihrem Segen für Mutter und Kind überzeugen können –«

Aufgebracht fuhr der Befürworter der strikten Geschlechtertrennung dem Sprechenden in die Parade:

»Damit sich die Weiber ihrer Verantwortung entledigen können! Das würde denen so passen. Mein Großvater, und ich versichere Ihnen, meine Herren, mein Großvater war ein Menschenfreund – er hat von so einer Lade erzählt, die seinerzeit, anno 1710, glaube ich, zur Vermeidung von Kindsmord in Hamburg aufgestellt wurde. Und wissen Sie, was passiert ist?«, posaunte er triumphierend über den Tisch. »Die Huren warfen ihre Bälger weg wie verschimmeltes Brot und freuten sich danach ihres Lebens. Das Ding musste abgebaut werden, denn jeden Abend lag so ein armes Kindchen in der Stellage.«

 

»Überall Sodom und Gomorrha, …«, knurrte der schmallippige Militärkommandant.

»Sag ich ja«, schimpfte der andere. »Es regieren Wollust und Liederlichkeit. Und überall schießen aufwieglerische Elemente mit neumodischen Ansichten wie Pilze aus dem Boden, befürworten gar, stellen Sie sich das vor, den vorehelichen Beischlaf. Wohin soll das führen? Solche Leute wollen den Untergang des Staates …«

»Aber, Verehrtester, jetzt übertreiben Sie schon wieder«, warf die sonore Stimme ein, »vor ein paar Jahren hat selbst der Preußenkönig ein Edikt erlassen, wonach Schwängerungen außerhalb der Ehe nicht mehr geächtet werden dürfen und daher auch nicht zu bestrafen sind. Sie werden doch einem solch brillanten Staatsmann nicht Verantwortungslosigkeit und Unvernunft vorwerfen wollen –«

»Jetzt reicht’s«, unterbrach ein Vierter die Streitenden, »genug disputiert. Sie sind dabei, mir den Appetit zu verderben. Haben Sie keinen Respekt vor diesem himmlischen Hasen, den der Wirt uns serviert hat? Schämen Sie sich!«

»Ich weiß nicht«, hörte Madeleine eine Stimme, die sie nicht einordnen konnte, »ich finde, das Fleisch schmeckt heute anders als sonst, finden Sie nicht auch? Also nicht schlecht, meine ich, aber anders.«

4

Der Besuch in der »Tulpe« hatte sich gelohnt. Nicht nur wegen der warmen Mahlzeit. Guthschneider, der Wirt, nahm ihr auch die Hälfte des Honigs ab und einen kleinen Sack Nüsse.

»Welsche Nüsse, sagen wir hier, weil sie von euch da unten kommen«, belehrte er Madeleine, und ob sie ihm nicht auch irgendwann Grumbiire bringen könne. »Erdäpfel, Kartoffeln«, setzte er ein wenig fahrig hinzu, weil Madeleine das Wort Grumbiire nicht verstand und im Speiseraum ein Gast nach ihm rief, dem er mit einem Wink zu verstehen gab, dass er sofort bei ihm sei. Wie denn ihre Leute in Palmbach zu Grumbiire sagten, wollte er dann aber doch noch wissen.

»Trifulles«, erwiderte Madeleine, nachdem sie begriffen hatte, was er meinte, »manche sagen auch Pataques.«

»Sie passen doch zum Braten?«

»Aber ja, sie passen zu allem. Wir essen sie jeden Tag, mit ausgelassenem Speck, mit Fleisch und Kraut, in Suppen, zusammen mit Makkaroni.« Sie versprach, ihm welche zu bringen, und wollte sich verabschieden. Doch der Wirt hatte noch eine Bitte: Ob sie kurz bei der Medicinalratswitwe Wilde im Inneren Cirkel vorbeigehen könne? Eine feine Dame. Er habe ihr vom Palmbacher Honig vorgeschwärmt, und die Rätin wolle die Köstlichkeit probieren.

Madeleine konnte. Natürlich.

»Grumbiire«, wiederholte sie auf dem Weg zum Cirkel. Das Wort gefiel Madeleine, es war genauso schön wie »numme net huddle«. Grumbiire halt.

Als die Waldenser vor mehr als siebzig Jahren ins Württembergische kamen, hätten nur wenige Deutsche gewusst, was Trifulles sind, hatte die Nonno erzählt. »Es wollte nicht in ihre Gehirne hinein, dass bettelarme Flüchtlinge wie wir auch etwas Gutes besaßen.«

»Sì, sì«, hatte sie beteuert, als sie Madeleines skeptisches Gesicht sah. »Genauso misstrauisch, wie du jetzt schaust, sind auch die Grünwettersbacher um unsere Felder herumgeschlichen. Und dann haben diese Ignoranten doch tatsächlich die Blüten und Blätter gegessen und sich gewundert, dass ihnen speiübel wurde. Die dachten, wir wollten sie vergiften.«

In Erinnerung daran hatte die Nonno ein bisschen gehässig ihre Lippen geschürzt.

»Manchmal, méou baboch, manchmal hätte ich diese Leute mit ihren strohgelben Haaren wirklich gern umgebracht. Sie spuckten vor uns aus, wenn wir vorbeigingen, tuschelten hinter unserem Rücken, und die Kinder schmissen mit faulen Äpfeln.«

Aber sie sei zu stolz gewesen, sich etwas anmerken zu lassen. Sie habe sich zusammengerissen und immer ein freundliches Gesicht gezeigt.

»Doch hat meine Freundlichkeit etwas genutzt, frage ich dich. Obwohl wir jetzt schon so lange hier leben, habe ich das Gefühl, sie mögen uns immer noch nicht, die Deutschen. Als ob es unsere Schuld ist, dass wir die Patrìo verlassen mussten. Ich bin nicht freiwillig hierhergekommen, ich wäre lieber daheim in La Balme geblieben, dort ist es schöner als hier, das kann ich dir sagen.«

»Vielleicht hättet Ihr Deutsch sprechen lernen sollen, Nonno, anstatt immer nur Patouà zu reden«, hatte Madeleine schüchtern einzuwenden gewagt, aber da hatte die Großmutter sie stolz aus ihren schwarzen Augen angefunkelt.

»Man muss wissen, wohin man gehört, méou baboch.«

Wenigstens haben sich die Deutschen mit den Trifulles, mit den Grumbiire, angefreundet, das ist doch schon etwas, dachte Madeleine.

Sie hatte nur mit einer kurzen Visite bei der Rätin gerechnet, doch die Witwe bat sie in die gute Stube und hieß die Köchin heiße Milch bringen.

»Du bist Waldenserin, habe ich gehört. Mein Mann, der selige Medicinalrat, hat in jungen Jahre eure Gegend bereist und viel erzählt. Es muss schön dort sein.«

»Ich weiß es nicht«, stotterte Madeleine verlegen, »ich bin in Palmbach geboren.«

Einen Moment blickte Witwe Wilde irritiert.

»Aber ja, du hast recht, du kannst das Land deiner Väter ja gar nicht kennen.« Sie wechselte das Thema und kam auf das Geschehen am Vormittag zu sprechen. »Ich kann so etwas nicht mit ansehen, das junge Mädchen dauert mich. Die Todesstrafe ist doch keine Lösung. Die Frauen brauchen Hilfe, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.«

»Das hat vorhin in der ›Tulpe‹ auch ein Mann gesagt«, bejahte Madeleine eifrig, schluckte aber schnell die Worte hinunter, die ihr noch auf der Zunge lagen. Nicht, dass die Medicinalrätin sie für vorlaut hielt.

»Die letzte Magd, die ich hatte«, fuhr Frau Wilde fort, ohne auf Madeleines Einwurf zu achten, »ist bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Armes Ding, kein Vater für das Kleine und von den Eltern auf die Straße gesetzt. Sie hätte bei mir bleiben können.«

Die Medicinalrätin unterbrach sich, musterte Madeleine prüfend, schien zu überlegen.

»Du bist ungefähr so groß wie sie. Das Kleid, das ich ihr am Anfang habe machen lassen, hängt noch in ihrer alten Kammer. Ich würde es dir gern geben.«

Im Nebenzimmer schlug silberhell eine Uhr halb fünf, Madeleine sprang auf. Sie hatte völlig die Zeit vergessen, während die Witwe redete, sie nach ihrer Familie fragte, nach Palmbach, nach ihrer Religion.

»Komm wieder, sobald du das nächste Mal in der Stadt bist«, bat Frau Wilde, als sie schon an der Tür war. »Ich bräuchte jemanden zum Ordnen der Bücher und Papiere meines verstorbenen Mannes, die er seinerzeit aus Paris mitgebracht hat. Als Waldenserin ist dein Französisch sicher besser als meins. Du kannst doch lesen, n’est-ce pas?«

Als Madeleine das Haus der Medicinalratswitwe verließ, schneite es noch immer, sogar heftiger als am Morgen auf dem Richtplatz. Mindestens drei Stunden bräuchte sie bei diesem Wetter bis nach Palmbach, darüber würde es Nacht werden. Aber die Kiepe trug sich jetzt so leicht wie ein Sack Daunen. Der bauchige Honigtopf war fast bis auf den Boden leer, Frau Wilde hatte ihr die restlichen Nüsse abgekauft, die Kreuzer im Geldbeutel klimperten, und obendrein hatte sie ein Kleid geschenkt bekommen. Die Maïre würde ihr verzeihen.

Der Schnee dämpfte die Geräusche der Stadt, verschluckte die Schritte der Passanten, erst im letzten Augenblick hörte Madeleine ein Fuhrwerk an sich vorbeirumpeln. Der Wagenlenker zeterte lauthals, weil er hatte ausweichen müssen.

Der sicherste Weg nach Hause führte durch die Lange Straße zum Durlacher Thor am östlichen Ende der Stadt und danach über Gottesau und Wolfartsweier zur Zollstation vor Grünwettersbach. Von dort bis nach Palmbach war es zwar auch nicht gerade ein Katzensprung, aber wäre sie erst einmal dort, würde es sich dann doch schon wie zu Hause anfühlen.

Hinterher fragte sich Madeleine, warum sie ausgerechnet heute, wo es ohnehin schon spät war, diesen Umweg gemacht hatte. Ohne nachzudenken war sie vorhin in die Kronengasse eingebogen und befand sich mit einem Mal in Klein-Carlsruhe, in diesem verschrienen Dörfle, das Carlsruher fürchteten wie der Teufel das Weihwasser.

Die ersten Häuser in der Gasse hatten sich noch in nichts von den anderen in der Residenz unterschieden. Doch nach ein paar Schritten wurde es einsam. Links und rechts des Wegs lagen Gemüsegärten und kahle Felder, und dann tauchten unvermittelt die ersten Baracken des Dörfle auf. Jetzt wurde Madeleine doch mulmig zumute. In einem der Hauseingänge stand eine Frau, die sie giftig anglotzte. Vorsichtshalber wechselte Madeleine die Straßenseite.

Nicht für geschenkt hätte sie in den Bruchbuden wohnen wollen, die sich nun dicht an dicht reihten. Dachziegel klapperten lose im Wind, geborstene Fenster waren mit Stroh und Lumpen zugestopft, eine Tür hing schief in den Angeln. Von überallher kamen Kinder angerannt, johlend, mit laufenden Nasen, die Haut über den Wangenknochen rot und rissig vor Kälte. Wie ein Lauffeuer musste es sich herumgesprochen haben, dass eine Außerstädtische durchs Dörfle ging, noch dazu allein und in einem seltsam kurzen Rock, unter dem Knöchel und Waden hervorschauten. Kinder waren überall gleich, auch in Palmbach rotteten sie sich zusammen, wenn, was selten genug vorkam, Fremde auf der Durchreise das Dorf besuchten, sprachen sie an, wollten wissen, wer sie waren, woher sie kamen und wohin sie wollten. Einmal hatte Madeleine sogar gesehen, wie Antoine, der größere ihrer zwei Brüder, einen Unbekannten angeschnorrt hatte, als sei er am Verhungern. Die Lektion, die sie dem Fraïre danach erteilt hatte, würde dieser sein Lebtag nicht mehr vergessen. Auch wenn sie alles andere als reich waren, Bettelei hatten Waldenser nicht nötig.

Je weiter sie vordrang, desto elender wurden die Behausungen, desto matschiger der Boden unter ihren Füßen. Alles, was Madeleine jemals über diese Ansiedlung am Rande der markgräflichen Residenz Schlimmes gehört hatte, schien sich zu bewahrheiten. Wie leichtsinnig von ihr, hier durchzugehen! Wie war sie nur auf diese blödsinnige Idee gekommen? Sie könnte überfallen werden, beraubt, erschlagen. Doch dann fiel ihr die Buttermeierin ein, die ihr erzählt hatte, dass sie auch hier wohnte. Sie mochte die Buttermeierin. Es war eine besonnene Frau, die nachdachte, bevor sie sprach. Anders als die Oberhäusserin, die ständig prahlte, in einer ordentlichen Straße mit ordentlichen Leuten zu wohnen, sich aber über alles und jeden das Maul zerriss.

Wenn die Buttermeierin im Dörfle wohnte, war die Gegend vielleicht doch nicht so gefährlich, wie die Leute behaupteten.

Die Kronengasse mündete in eine etwas breitere Querstraße. Die Durlacher Thorstraße, vermutete Madeleine. Sie blickte sich um. Links dürfte es hoch zum Durlacher Thor gehen, sie wendete sich nach rechts zum Rüppurrer Thor. Irgendwo hier musste Catharina Würbsin gelebt haben. In dem Haus mit dem morschen Hoftor? Oder dort, wo eben ein Soldat herauskam? Der Kindsvater?

Warum nur hatte die junge Frau ihr Neugeborenes erschlagen?

Aus Scham, aus Verzweiflung und Hilflosigkeit? Hatte sie Angst vor den Eltern gehabt, vor dem Gerede der Nachbarn? Und der Schwängerer, hatte er davon gewusst? Was hätte Jeanne gemacht, wenn sie allein auf dem Feld gewesen wäre, als das Kind kam? Es in der Furche liegen gelassen und Erde darüber geschaufelt oder in den Tann geworfen?

Zweimal hatte Madeleine Dirnen am Schandpfahl gesehen, angekettet wie Vieh. Männer, Frauen, Kinder, alle machten sie sich einen Spaß daraus, die armen Weiber, die sich nicht wehren konnten, zu verspotten, anzuspucken, mit Dreck, Kot und faulem Obst zu bewerfen. »Strafe muss sein«, hatte die Oberhäusserin gehechelt.

Auch Jeanne war bestraft worden. Sie hatte Geld an das für Palmbach zuständige Oberamt in Neuenbürg zahlen müssen, und an einem Sonntag hieß Pfarrer Henri Doll sie in der Kirche aufs Armesünderbänkchen hocken, um dann geschlagene zwei Stunden gegen Laster und Triebhaftigkeit zu predigen. Er hatte leise und mitfühlend begonnen, doch als ein paar Gemeindemitglieder murrten, hob er besänftigend die Hände und verschärfte seinen Ton, beschwor in immer wortgewaltigeren Bildern den Zorn Gottes herauf und verstieg sich schließlich zu einem solchen Donnerwetter, dass am Ende alle Gläubigen, selbst die, die anfänglich gemeckert hatten, weil der Pfarrer ihnen zu nachgiebig gewesen war, die Köpfe einzogen und krampfhaft auf ihre Schuhe stierten. Schließlich war es Sindic Brun gewesen, der den sonntäglichen Frieden rettete, indem er in einer winzigen Pause, in der Doll Atem holen musste, ein mutiges »Aleluià« anstimmte, worauf Jeannes Matthieu nach vorn trat, verschämt seine Finger vor dem Bauch knetete und nach Beendigung des Lieds der versammelten Palmbacher Gemeinde mit hochrotem Kopf verkündete, er bereue sein Vergehen, seine Pécca, er bitte um Verzeihung und heirate die Kindsmutter. Sì, ouì, hier und jetzt, sofort und auf der Stelle. Ob sie es auch wolle, danach wurde Jeanne nicht gefragt.

 

Das sei ja auch nur recht und billig, hatte die Maïre hinterher spitz bemerkt. Nicht alle Kerle seien so manierlich. »Und dir, méou fillho, sage ich: Hüte dich vor den Männern, vor allem jetzt, wo du so oft runter in die Residenz zum Markt musst. Ich wollte, du müsstest es nicht. Aber ich schaffe es nicht mehr mit meinen Knien, und wer außer dir soll’s sonst machen? Deine Schwestern sind noch zu klein.«

Mit einem Mal hielt es Madeleine nicht mehr aus zwischen diesen elenden Klein-Carlsruher Baracken, hinter deren Fenstern sie Blicke zu verfolgen schienen, Flüche, Verwünschungen. Sie wollte nur noch fort, weg von hier. Als sie am Rüppurrer Thor ankam, atmete sie erleichtert auf. Ob sie es denn weit habe, fragte der Wachthabende mitfühlend, während er den Korb inspizierte und den Zoll kassierte.

»Bis nach Palmbach.«

»Ach herrje«, sagte er, »na dann, bonne route!«

Kamen ihr außerhalb der Stadt anfänglich noch einige Fuhrwerke entgegen, auch späte Fußgänger, die es eilig hatten, zurück in die Residenz zu kommen, wurde es bald still und einsam um sie.

Ich bin der einzige Mensch auf der ganzen weiten Welt!

Madeleine lachte gequält. Leise begann sie zu singen, es war mehr ein Piepsen. Der Wind verwehte die Worte, Flocken wirbelten ihr ins Gesicht, sie schloss die Augen zu schmalen Schlitzen. Über Durlach dunkelte der Himmel, in einer halben oder dreiviertel Stunde würde es tiefste Nacht sein, nur der Schnee sein fahles Licht verbreiten. Schlagartig fühlte sie sich müde. Das war zu viel gewesen heute, die Hinrichtung, das Hickhack der Offiziere, der Besuch bei der Medicinalratswitwe, die so freundlich zu ihr gewesen war und zugleich so vornehm, dass Madeleine vor lauter Vornehmheit nicht wusste, wo sie hinschauen sollte. Und dann zum Schluss noch das Dörfle.

Soldaten dürfen nicht heiraten.

Jetzt, wo alles still um sie herum war, stieß ihr die Bemerkung der Buttermeierin auf wie Sauerbier.

Aber er hatte ihr doch gefallen, von Anfang an hatte er ihr gefallen.

Es war über sie gekommen wie ein Sommergewitter, sie war machtlos dagegen gewesen.

So etwas war ihr noch nie passiert, nicht in Palmbach und in keinem der anderen Waldenserdörfer in deutschen Landen, wohin sie von Zeit zu Zeit zu einem Fest oder einem Familientreffen wanderten. Die jungen Männer dort waren alle langweilig wie Schafsböcke und spielten sich dabei auf wie die Gockel. Jeannes Matthieu genauso wie Jacques aus dem benachbarten Untermutschelbach. Hatte der doch wirklich beim letzten Erntedankfest geglaubt, er könne sie küssen. Na, dem hatte sie’s aber gezeigt.

Der Soldat dagegen, der hatte etwas Besonderes an sich.

Selbstsicher war er, schien genau zu wissen, was er wollte, und welcher Waldenser hatte schon so herrlich blonde Haare?

»Du bist nicht von hier, ich hab dich vorher noch nie gesehen«, hatte der Soldat gesagt, als er im Spätherbst zum ersten Mal bei ihr Nüsse kaufte. »Sobringer mein Name«, hatte er sich vorgestellt, »Sobringer. Grenadier im badischen Leibregiment«, und ihr dabei Äuglein gemacht, wie ihr noch nie jemand Augen gemacht hatte. Und wie elegant er aussah in seiner Uniform! Die feinen Beinkleider, die seitlich geknöpften Gamaschen, die polierten schwarzen Schuhe, dazu ein feiner blauer Rock.

Nachdem er gegangen war, hatte sie ihm noch lange hinterhergeschaut. Ob sie ihn wiedersehen würde?

Sie sah ihn wieder, schon am nächsten Markttag.

»Da ist sie ja, meine Schöne.«

Meine Schöne!

Und dann ließ er es sich nicht nehmen, sie nach Schließung des Markts ein Stück weit zu begleiten, noch bis hinters Durlacher Thor, wo die Wächter ihm vertraulich auf die Schultern klopften und ihn passieren ließen, als seien sie alte Freunde.

»Und hier muss ich dich jetzt verlassen, meine Schöne, so leid es mir tut«, entschuldigte er sich am Abzweig nach Gottesau. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, küsste sie sanft hinterm Ohr, streifte ihre Lippen, ein Hauch, ein Kribbeln, ein Duft himmlischer Ewigkeit.

»Und versprich mir, dass du keinen anderen angucken tust.«

Sie versprach es, sie wusste ja jetzt schon, dass sie nie mehr im Leben einen anderen angucken würde.

Wenn sie an den Tagen danach an ihn dachte, klopfte ihr das Herz wie verrückt. Und sie dachte unablässig an ihn. Auf dem Weg zum Markt und wieder zurück und nachts, wenn sie in ihrer Bettstatt lag und dem kleinen Fraïre neben sich, dem zuletzt geborenen Brüderchen, eine Ninna nanna sang, denn der Pëchit hatte einen unruhigen Schlaf und boxte ihr ständig seine Füßchen in die Rippen.

Zum Jahreswechsel war es ungewöhnlich warm gewesen. Die Oberhäusserin hatte aufgekratzt vor sich hin geträllert, die Buttermeierin Zuckerbrot in der Pfanne gebacken und generös verteilt, Hausfrauen und Mägde, die einkaufen gekommen waren, ließen sich Zeit und schwätzten. Nur der Soldat kam nicht.

»Komm, lach a bissle, Madeleine, die Sonn scheint, ’s Lebe isch schön«, munterte die Meierin sie auf und schenkte ihr das letzte Stück vom süßen Brot. »Für dich, für dein lange Heimweg.«

Und dann stand er plötzlich vor ihr. Gerade als sie in der kleinen baufälligen reformierten Kreuzgassenkirche, in der Madeleine drinnen ständig Angst hatte, das Gebälk stürze über ihr zusammen, noch ein schnelles Vaterunser, ein Notre páire dâ sèel, beten wollte, bevor sie sich auf den Nachhauseweg machte.

»Ich hab auf dich gewartet«, sagte er und griff nach ihren Händen.

Da hätte sie Nein sagen sollen. Heute wusste sie es.

Aber an diesem Nachmittag vor zwei Wochen hatte alles in ihr Ja geschrien. Ja, ja, ja, sì, sì, sì. Die Knie drohten ihr nachzugeben. Die Buttermeierin hatte recht: Die Sonne schien, das Leben war schön, der Grenadier war gekommen.

Er spazierte mit ihr zum Schlossplatz, zeigte ihr ein schmiedeeisernes Tor, das sie noch nie zuvor gesehen hatte, ein Tor wie aus einem Märchen. Als sie in den Hardtwald hineinwanderten, nahm er ihre Hand. Irgendwann hatte sie die Orientierung verloren. Aber er war ja bei ihr.

Am Rand einer Lichtung lag ein umgestürzter Baum.

»Extra für uns.« Sobringer legte beide Arme um sie. Die Sonne wärmte, und außer dem Rascheln von altem Laub, wenn vielleicht eine Maus oder ein Vögelchen hindurchhuschte, war nichts zu vernehmen.

Irgendwann schreckte sie hoch. Die Luft hatte abgekühlt, der Abend kroch hinter den Wipfeln hervor.

»Ich muss gehen«, flüsterte sie.

»Aber ja«, sagte er, half ihr, Kleidung und Haar zu richten, und brachte sie zum Durlacher Thor. Es war gar nicht so weit, wie sie gedacht hatte. Und dann, allein mit sich, hatte Panik sie ergriffen. Was sollte sie der Maïre sagen, wo sie die ganze Zeit über gewesen sei? Überhaupt die Maïre, sie würde ihr sofort ansehen, was geschehen war. Die Maïre konnte Gedanken lesen.

Und jetzt war es heute wieder so spät.

Vor ihr raschelte es im Unterholz. Etwas knackte. Unwillkürlich blieb Madeleine stehen, starrte in die Nacht, die sich übers Land gelegt hatte. Ein Tier? Gab es Wölfe in der Region? Oder Räuber? Waren letzte Woche nicht zwei Frauen auf dem Weg nach Durlach überfallen worden? Wie lange war sie überhaupt schon unterwegs? Zwei Stunden? Zweieinhalb? Befand sie sich überhaupt auf dem richtigen Weg? Hatte sie einen Abzweig übersehen?