Der Grenadier und der stille Tod

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Der rote Friedrich nickte. »Die Würbsin hat auch vom Satan geredet«, posaunte er in die Runde. »Nur dass bei ihr der Böse ein kleines schwarzes Männle im grünen Rock gewesen ist. Es hat ihr angeblich eingeflüstert, sie soll das Kind noch vor dem ersten Hahnschrei mit der Rübe erschlagen.«

Lauer glotzte ihn ungläubig an. »Woher weißt du das?«

»Von einem der Hofräte, der beim Verhör im Oberamt mit dabei war. Ich kenne ihn gut, verkehre manchmal bei ihm zu Hause«, prahlte Friedrich, rief Johanna und hielt ihr den schon wieder leeren Krug entgegen.

»Du willst uns wohl verdursten lassen?«

Er zwickte sie in die Wange. »Zur Strafe bekomm ich einen Kuss und dann: allez hopp, mein liebes Kind, Wein und Karten, aber schnell, wenn ich bitten darf.«

»Karten und Wein sofort. Zum Küssen komm ich, wenn ich Zeit hab, sonsch lohnt sich’s ja net.« Sie wedelte ihm mit der Schürze vor dem Gesicht herum, und alle außer Simon johlten vergnügt, der rote Friedrich schlug sich wiehernd auf die Schenkel.

»War das erschlagene Kind eigentlich ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte Heinrich Abele in das Gegröle hinein.

»Ein Mädchen.« Der rote Friedrich schien alles zu wissen. Aber Simon reichte es jetzt. Dieser Lackel von Friedrich, der immer den Possenreißer spielen musste, und dann der Klugscheißer Abele. Den hatte er besonders gefressen. Aufgebracht leerte Simon sein Glas Wein und goss sich sofort nach. Satan, Rübe, Mädchen, Junge. Was sollte dieses ganze Gewäsch? Die Sache war zu Ende, warum schon wieder davon anfangen? Ja, gut, er hatte die kleine Würbsin gekannt. Das blieb bei einer Einquartierung nicht aus, dass man den Töchtern des Hauses begegnete und, wenn man nicht gerade ein Stoffel war, hin und wieder ein paar freundliche Worte mit den jungen Dingern wechselte. Hätte jeder andere genauso getan. Ihre Eltern hatten es ihm ja auch leicht gemacht. Jeden Sonntag Arme Ritter und andere süße Küchle von der Mutter, und der Vater hatte ihn zu Branntwein oder Obschtler eingeladen, manchmal auch zu beidem. Daheim in Landeck gab es so was Gutes nicht, da gab’s nur Topinambur, der einem die Löcher im Hemd zusammenzog und den Magen umdrehte. Ein Gesöff wie Medizin. Aber selbst damit hatte der Vater gegeizt. Und dann war das Maidli ja auch nicht das hässlichste gewesen. Nur die Zahnlücke, oben in der Mitte, wenn Catharina den Mund aufmachte, da klaffte immer ein schwarzes Loch. Aber nachts in der dunklen Kammer sah man das ja nicht.

Und es war ja auch lustig gewesen mit ihr. Eine Zeit lang wenigstens, bis sie ihm diesen Bams unterjubelte. Zuerst den einen, der Gott sei Dank sofort starb, und dann gleich darauf den zweiten. Da hörte für ihn der Spaß aber auf. Die wollte ihn nur krallen. Von wem auch immer dieses Balg war, von ihm nicht. Das konnte gar nicht sein. Denn wenn sein Bruder auch ein Blödian war, eines hatte der ihm beigebracht: Wie man aufpassen musste bei den Weibern. Kurz vor dem entscheidenden Schuss sozusagen geordnet den Rückzug antreten. Und dieses Manöver beherrschte er perfekt.

Natürlich hatte er Mitleid mit ihr gehabt, er war ja kein Unmensch, und in einer schwachen Stunde hatte er Catharina tatsächlich das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Es wurde ihm jetzt noch blümerant, wenn er nur daran dachte. Das hatte wohl am alten Würbs seinem Branntwein gelegen. Wie hatte er sich nur so breitschlagen lassen können! Heiraten! Aber Gott sei’s getrommelt und gepfiffen, sein Vorgesetzter hatte ihn vor dem Schlimmsten bewahrt, nachdem er von dem Malheur erfuhr. »Was glaubt Er denn, wer Er ist?«, hatte der Major ihn zusammengestaucht, dass ihm Hören und Sehen verging. »Glaubt Er denn, unser durchlauchtigster Fürst macht bei Ihm eine Ausnahme? Nein und noch mal nein! Der markgräflich-badische Soldat setzt seine Manneskraft in der Schlacht ein. Ausschließlich in der Schlacht. Dass Er sich das gefälligst hinter die Ohren schreibt, und wenn es Ihn noch so sehr sonst wo juckt, hat Er verstanden?«

Es juckte ihn ständig, jeden Tag, aber er schwieg, stand stramm, ließ die Tirade über sich ergehen, Major von Sandberg war sein Retter. So hatte er sich also überwunden und schweren Herzens zehn Batzen von seinem mageren Sold abgezwackt, damit die doofe Kuh ihren dicken Bauch aus der Welt schaffte. Und was hatte die gemacht? Nichts, rein gar nichts. Weitergejammert und sich wahrscheinlich bei einem dieser welschen Händler, diesen raffinierten Bauchladenkrämern, ein Seidentüchlein gekauft. Selbst schuld, dass sie nimmer lebt.

»Hört endlich auf, ihr tratscht wie die Marktweiber«, schimpfte er mit schwerer Zunge, »ich hab gedacht, wir wollten spielen«, und er feuerte das Kartenblatt, das Johanna gebracht hatte, über den Tisch. Schwungvoll fächerte sich der Stapel auf.

»Apropos Markt.« Heinrich Abele musterte ihn abschätzend. »Die Katze kann das Mausen nicht lassen, gell? Da hab ich dich doch neulich auf dem Markt schon wieder mit so ’nem Madämchen schöntun sehen.«

Simon fuhr hoch, krachend fiel sein Stuhl um. Was spionierte dieser neunmalkluge Professor hinter ihm her? Nur weil der arrogante Pinsel Bücher las, hielt er sich für was Besseres. Einen Augenblick schwankte Simon, musste sich an der Tischplatte festhalten. Dann stürzte er sich auf den Herausforderer.

»Du Sauhund …«

Seine Faust traf Abeles Nase. Er zog den Degen, fühlte sich aber sofort bei den Armen gepackt. Doch er riss sich los und drosch umso erbitterter auf den Lackaff ein, Stühle kippten, Johanna kam gelaufen, kreischte, zeterte, bis der Wirt endlich einen Kübel Abwaschwasser über die Streithähne schüttete.

Mit dem Uniformärmel wischte sich Heinrich Abele das Blut aus dem Gesicht, kroch auf allen vieren zum Tisch, um sich daran hochzuziehen, und ließ sich dann auf die Bank fallen. Johanna legte ihm einen nassen Lappen in den Nacken.

»Das wirst du mir büßen, Freundchen«, murmelte Abele und spuckte einen Zahn aus. »Ich schwör’s dir, das wirst du mir büßen.«

7

Freitag, den 24ten Januarij 1772

Kein Auge hatte Madeleine in den Nächten seit jenem unseligen Freitag vor einer Woche, als das bedauernswerte Mädchen aus dem Dörfle hingerichtet worden war, zugemacht. Auch jetzt drehte sie sich wieder in ihrer Bettlade ruhelos von einer Seite zur anderen, und natürlich wachte prompt der pëchit Fraïre neben ihr auf und fing zu greinen an. Plärrkind! Seufzend erhob sie sich, drehte ein Stück Leinen zum Nuckel, tunkte ihn in Honigwasser und schob ihn dem Brüderchen in den Mund. Gierig begann der Junge zu schmatzen, ein paarmal noch schluchzte er tief auf, dann verlor er das Schnullertuch und schlief wieder ein, ohne dass die Maïre und die Geschwister aufgewacht wären. Aufatmend kroch Madeleine zurück unter die Decke. Sie rieb ihre Eisklotzfüße aneinander, starrte zum Plafond und horchte in sich hinein. Ab wann merkte man, dass man ein Kind im Leib trug? Wen sollte sie fragen? Jeanne? Aber die Freundin würde es womöglich weitererzählen, und dann könnte es der Maïre und der Nonno zu Ohren kommen.

Die Medicinalratswitwe!, fiel Madeleine plötzlich ein. Warum nicht? Frau Wilde hatte ihrer vorherigen Magd helfen wollen, vielleicht konnte auch sie sich ihr anvertrauen.

Sie zog sich die Wolldecke bis zur Nasenspitze und linste durchs Fenster nach draußen in die Düsternis. Zwei volle Markttage hatte sie wegen des Wetters ausfallen lassen müssen, der Weg wäre zu gefährlich gewesen. Aber seit gestern war die Straße wieder frei, heute würde sie gehen.

Es war noch stockfinster, als sie kurz nach vier vor die Haustür trat. Bis zum Abzweig, wo links der Weg hinunter nach Ettlingen führte, schloss sich ihr, unentwegt schwatzend, die Bariol vom Nebenhaus an. Madeleine achtete nicht auf sie, gab nur hin und wieder ein Sì oder No von sich, einmal ganz in Gedanken ein französisches Oui, dachte an die arme Magd der Medicinalrätin, an die tote Catharina Würbsin und an Jeanne, die nun ein Kind hatte und einen Vater dazu, doch sie bezweifelte, dass die Freundin glücklich war. Sie sah nicht so aus. Endlich verabschiedete sich die Bariol, dann war Madeleine mit sich, ihrem schweren Honigkorb und den quälenden Gedanken allein.

Sie mied die viel begangene Strecke Richtung Durlach. Unterwegs träfe sie jede Menge Tagelöhnerinnen und Händlerinnen aus den benachbarten Dörfern, wahrscheinlich auch die Batzenhöferin mit ihrem großen Buckel und den vielen Lachfältchen. Eigentlich mochte Madeleine die Bäuerin, ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie leidlich Deutsch sprach, besser jedenfalls als die meisten Palmbacher Waldenser. Die Batzenhöferin konnte erzählen wie sonst kaum jemand, Geschichten von Liebesleid und Liebesglück, von Drachen, Riesen und Nixen im Mummelsee, Märchen und Legenden, die sie von ihrer Großmutter hatte. »Die mit genauso ’nem Buckel gesegnet war wie ich. Bei Regen konnt ich mich drunterstelle und wurd net nass«, behauptete die Bäuerin tiefernst und freute sich über die ungläubigen Gesichter der Kinder und die belustigten der Erwachsenen. Madeleine wurde nie müde, ihr zuzuhören, doch heute war ihr nicht danach zumute. Sie entschied sich für den unbequemeren, dafür weniger belebten Weg durch den Grünwettersbacher Wald.

»Notre páire dâ sèel …«, fing sie im Rhythmus ihrer Schritte zu beten an. »Notre páire dâ sèel, que toun noum sie santifia … s’ la voû plai, Buondìou, mach, dass ich meine Sach wieder krieg, und dann, ich versprech’s, guter Gott, will ich mich nie mehr mit dem Soldat treffen, nie mehr.«

Hinter der Kurve lag Wolfartsweier, vereinzelt flackerten Lichter in den Häusern. Weiter wand sich der Weg, anfangs noch über freies Land, dann bergab durch dichten Wald. Das winternackte Geäst knarzte, krächzend erwachte ein erster Rabe.

 

Auch Carlsruhe lag noch im Dunkeln, als Madeleine am Rüppurrer Thor ankam. Die Wachthabenden palaverten mit einem Händler, umrundeten seine Holzfuhre, zählten, prüften, schrieben beim Schein der Talgkerze etwas in ein dickes Buch, palaverten wieder. Sie musste sich gedulden.

»Honig«, erklärte sie dem Zollwächter, als sie schließlich an der Reihe war, öffnete auf seine Order hin die Kiepe und nahm den dicken Korkstöpsel vom Behälter.

»Und was ist das hier?«

»Grumbiire.«

Sie war stolz, dass sie das Wort behalten hatte. »Aber die sind nicht für den Verkauf. Ich will sie jemandem schenken.«

Der Mann griff in den Korb und holte eine der Knollen heraus, drehte sie in der Hand, roch daran. »Ich hab so was noch nie gegessen.« Er blinzelte ihr frech zu. »Willst du mich nicht mal bekochen?«

Madeleine erschrak. Die Maïre hatte recht, in der Stadt musste man höllisch aufpassen. Sie wand sich verlegen. »Bei uns dürfen nur Männer Trifulles kochen, ein alter Brauch bei den Waldensern«, behauptete sie und staunte, wie leicht ihr eine solch idiotische Lüge über die Lippen gekommen war, ihre Stimme hatte nicht einmal gezittert.

Tut mir leid, Buondìou, verzeih, eine Notlüge, es ging nicht anders, und sie schickte einen entschuldigenden Blick in den Himmel. Der Wachthabende grinste und steckte die Knolle ein.

»Na gut, dann werd ich sie mir halt selber kochen.«

»In Salzwasser«, rief Madeleine noch und machte sich schleunigst aus dem Staub.

Sie bemerkte den Straßenfeger erst im letzten Moment. Seit jenem Tag, als er ihr geholfen hatte, den Korb zu packen, war er ihr nicht mehr über den Weg gelaufen.

Sie hatte sich noch bedanken wollen, damals, wollte ihm ein paar Nüsse schenken, auch Maronen. Aber da war er, als sie sich umdrehte, schon fort gewesen. Vergeblich hatte sie hinter ihm hergerufen. Die Oberhäusserin gackerte anzüglich. »Na, da haschte dir abba en schöne Verehrer ang’lacht«, höhnte sie. Madeleine lief rot an. Dumme Ziege! Sie kannte diesen Menschen doch gar nicht, hatte ihn noch nie zuvor gesehen, was sollte diese Bemerkung?

Sie wollte eine patzige Antwort geben, aber auf Deutsch fehlten ihr die Worte, was sie nur umso wütender machte. Nie würde sie hierhergehören, nie. Immer blieb sie ausgeschlossen. Verstand nichts und wusste sich nicht auszudrücken. Und wer war schuld daran? Die Maïre und die Nonno, alle diese Alten in Palmbach, die sich weigerten, die neue Sprache zu lernen. Und Pfarrer Doll, der mitmachte und auf Französisch predigte, nur um es sich mit seinen Schäfchen nicht zu verscherzen. Madeleine ballte die Hand zur Faust und wollte gehen, als die Buttermeierin sie am Arm fasste.

»Hör nicht auf die alte Scharteke, Madeleine, die ist nur neidisch, dass sie nimmer so jung und hübsch ist wie du. Und wunder dich net wegen dem Ignatz, der isch halt so, der hilft, wo er kann. Unter uns g’sagt, auch wenn er net redet, ischer doch tausend Mal besser wie der Soldat, der dir da in letzter Zeit schöne Augen macht.«

Sie hatte nicht gewusst, wo sie hingucken sollte, ihr Gesicht begann zu glühen, sie verabschiedete sich schleunigst.

Wenn die Buttermeierin wüsste, was im Hardtwald passiert war.

Vielleicht war ja gar nichts passiert. Aber wenn doch?

Madeleine verlangsamte ihren Schritt. Nein, sie wollte diesen Ignatz nicht überholen, sie müsste ihn dann grüßen, und womöglich würde er sich dann noch einbilden, sie wolle etwas von ihm.

Im gleichmäßigen Rhythmus kehrte er sorgfältig den Dreck vor sich her, säuberte die Gosse, fegte an den Hauswänden entlang, sogar in den Eingängen, was doch eigentlich die Bewohner selbst tun sollten. »Der hilft, wo er kann.« Mit dem Schäufele las der Straßenfeger die Pferdeäpfel auf und warf sie in den dafür vorgesehenen Kasten. Ein Kind, vielleicht acht oder zehn Jahre alt, half ihm. Bestimmt sein kleiner Bruder oder ein Nachbarsbub.

»Da ist sie ja, meine Schöne. Seit Tagen steh ich schon hier und warte, aber jetzt hab ich dich. Jetzt entkommst du mir nimmer.«

Hände umfassten von hinten ihre Taille, krochen unter ihr Schultertuch, suchten den Weg zu ihrer Brust. Kalte Lippen küssten ihren Nacken.

In der ersten Überraschung war sie versucht, sich den Caresses, den Liebkosungen und schmeichelnden Worten des Grenadiers hinzugeben. Dann aber schämte sie sich. Was fiel diesem Sobringer ein? Mitten auf der Straße, gerade jetzt, wo alles zur Arbeit ging! Die Leute schauten schon. Selbst der Junge vom Straßenkehrer. Er hatte nur ein gesundes Auge, das linke war verwachsen. Aber er guckte.

Empört wehrte sie die Umarmung des Soldaten ab. Doch der ließ sie nicht los, drängte sie in ein Seitensträßchen und dort in eine offen stehende Toreinfahrt.

»Ich hab so Sehnsucht nach meiner Schönen gehabt«, hauchte er ihr ins Ohr und presste sie mitsamt ihrem Korb gegen die Hauswand. Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Sì, sì, klopfte ihr Herz. Sein Uniformrock roch frisch nach Seifenlauge. Als er sie auf den Mund küssen wollte, kratzten Bartstoppeln über ihre Wange. Sie drehte den Kopf zur Seite.

»Bitte nicht, nicht hier, das geht doch nicht.«

»Was hast du denn? Neulich warst du nicht so zimperlich.«

Er hielt sie fest, presste sich gegen sie, wieder suchten seine Lippen ihren Hals, den Mund. Im Haus klapperte etwas, drinnen in der Parterrewohnung rief eine Frau nach einem Fränzle. Madeleine geriet in Panik.

»Hör auf, lass mich los!«

»Wieso denn, meine Schöne? Das letzte Mal hast du’s doch auch gewollt. Warum zierst du dich jetzt?«

Vergiss nicht, wer wir sind und von woher wir kommen, hörte sie im Kopf die energische Stimme der Nonno, sah die Maïre nicken.

»Versteh doch, meine Leute, ich bin doch keine von euch, ich bin Waldenserin.«

»Mir doch wurscht, was du bist, Waldenserin, Hugenottin, lutherisch, jüdisch, katholisch. Du brichst mir das Herz, wenn du mich zurückweist. Willst du, dass ich an gebrochenem Herzen sterbe? Willst du das?«

Wieder versuchte der Grenadier, sie zu küssen, wieder wich sie ihm aus. Irgendwo schlug eine Tür.

»Ich darf keinen heiraten, der nicht Waldenser ist«, stieß sie hervor.

»Heiraten?«

Er ließ sie los. »Wer redet denn von Heiraten? Da haben wir uns mal ein bissel vergnügt, und du redest von Heiraten. Seid ihr denn alle gleich, ihr Weiber?« Sobringer war laut geworden, seine Augen funkelten böse.

»Aber was, wenn was passiert ist?«, stotterte Madeleine.

»Was soll das heißen: ›wenn was passiert ist‹?« Jetzt brüllte er. »Erst den kleinen Finger nehmen und dann die ganze Hand wollen. Genau wie dieses Aas von Catharina, du bist genauso eine Hure wie sie …«

»Catharina? Catharina Würbsin?« Madeleine schrie auf, schlug aber sofort die Hand vor den Mund. »Aber was ist, wenn ich schwanger bin?«, flüsterte sie.

Sobringers Hand klatschte hart auf ihre Wange.

Laut kläffend kam ein Hund aus dem Hof gesaust, gleich dahinter ein Mann mit einer Forke.

»Haut bloß ab, in meim Haus wird net g’schtritte. Raus mit euch, raus!«

Madeleine stolperte, die Finger in die Trageriemen der Kiepe verhakt, aus dem Durchgang. Die Häuser der Gasse verschwammen, die Gärten gegenüber, Bäume, Sträucher, Zäune, Ställe, Misthaufen, ein paar pickende Hühner. Alles wurde unwirklich, das dämmrige Morgenlicht, der schwarze Köter, der zähnefletschend das Hoftor bewachte, der Grenadier Sobringer in seinem schönen blauen Rock. Er stapfte davon und schaute sich nicht mehr um. Tränen liefen Madeleine übers Gesicht, in den Ohren ein Brausen. Das Einzige, an was sie denken konnte, war: der Honig. Hoffentlich ist dem Honig nichts passiert, ich muss zum Markt damit. Hoffentlich ist der Krug nicht kaputt, der Deckel nicht verrutscht, hoffentlich …

Und die Trifulles! Sie wollte doch zum Tulpenwirt und ihm die Grumbiire geben. Und zur Medicinalratswitwe, für die sie, als die Maïre und die Nonno außer Haus waren, Zuckernüsse gebrannt hatte. Zum Dank für das Kleid. Aber Madeleine rührte sich nicht von der Stelle.

»Warum heulsch du denn?« Der Bub des Straßenfegers zupfte sie am Ärmel, verschreckt zuckte sie zusammen. Ignatz mit seiner Karre stand hinter ihm, mitten auf dem Weg, und schaute dem Grenadier nach. Seltsame Laute kamen aus seinem Mund. Als knurrte und grunzte ein Tier. Dazwischen Keuchen, leise Schreie. Unwillkürlich trat Madeleine einen Schritt zurück. Doch schon verstummte der Straßenfeger und blickte zu ihr.

Sie musste entsetzlich aussehen, völlig aufgelöst.

Er holte aus der Tasche seiner Joppe ein Sacktuch, schüttelte es, um ihr zu zeigen, dass es sauber war, gab es ihr und verschwand wortlos hinter seiner Karre, so wie er damals auf dem Markt ohne Gruß davongelaufen war. Hatte er ihr »Danke« gehört? Sie trocknete sich die Tränen, putzte die Nase. Das Kind beobachtete sie neugierig. Man konnte meinen, es habe noch nie einen erwachsenen Menschen weinen gesehen.

Ob der Kleine schon mal Honig gegessen hat?

»Komm her«, sagte sie und zwang sich zur Ruhe.

Sie setzte den Korb auf einem Mäuerchen ab, öffnete ihn, vergewisserte sich, dass der Honigbehälter noch fest verzurrt war, und nahm vorsichtig den Deckel ab. Er klebte verdächtig fest an der Öffnung des Gefäßes, aber sie hatte Glück gehabt, es war nichts ausgelaufen.

»Magst du was davon?«

Der Junge linste mit seinem einen Auge hinein, nickte begeistert. Sie füllte ihm einen der kleinen Krüge voll, die sie normalerweise gegen einen Obolus abgab, wenn Kundinnen ohne eigene Töpfchen am Stand erschienen. Zu Hause würde sie sagen, einer sei ihr zerbrochen.

»Und du, möchtest du auch?«, fragte sie Ignatz, der noch immer an seinem Wagen stand und dem Soldaten hinterherschaute. Aber der Straßenkehrer reagierte nicht.

»Er hört dich net«, erklärte der Junge, steckte seinen Zeigefinger in den Honig und leckte ihn genüsslich ab. »Er hört gar nix. Spreche kann er au net.«

»Er hört mich nicht?« Madeleine riss ungläubig die Augen auf. Der Straßenkehrer hatte sie gar nicht gehört? Deshalb also. Jetzt verstand sie, was die Buttermeierin meinte, als sie sagte: »auch wenn er net redet …«

»Und wie heißt er?«, fragte sie unnötigerweise.

»Ignatz. Sein Name kann er schreibe. Wenn du ihm ein Zettel mit seim Name drauf zeigsch …« Der Junge unterbrach sich. »Kannst du denn überhaupt schreiben?«, erkundigte er sich und versuchte, fein und ordentlich zu reden.

»Nicht gut.«

Würde das Kind begreifen, wenn sie erzählte, dass in der Palmbacher Schule Französisch unterrichtet wurde und sie Deutsch nur vom Hörensagen gelernt hatte?

»Und du? Kannst du schreiben?«, fragte sie ausweichend.

»Au nur mein Name. Chrischtoph. Die Großmutter hat’s mir gezeigt.«

Wieder tunkte der Junge seinen Finger in das Töpfle, redete aber weiter: »Sie kann den Lehrer nicht bezahlen. Auch der Ignatz war nie in einer Schule. Wer nicht hört und nicht spricht, kann net in die Schul, sagen die Leut. Sie sagen, dass so jemand net ganz richtig im Kopf isch. Aber das stimmt nicht, der Ignatz weiß alles. Er hat mir die Sterne am Himmel gezeigt und wie ich Fische in der Alb fangen kann, wie man sie ausnimmt und Feuer macht, um sie zu braten …«

Madeleine hörte nur noch mit halbem Ohr auf Christoph. Sie füllte einen zweiten kleinen Krug mit Honig, putzte die klebrigen Finger an Ignatz’ Sacktuch ab und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann ging sie hinüber zu dem Straßenfeger und berührte ihn am Arm.

»Für dich«, sagte sie und reichte ihm Tuch und Honig. »Und du hörst wirklich gar nichts? Keinen Ton?«

Dieses Mal flüchtete er nicht. Seine Augen folgten der Bewegung ihres Mundes, ihrer Augen. Als Christoph kam und ihm zunickte, lächelte er vorsichtig, tippte mit einer Hand an sein rechtes Ohr, dann an seine Lippen, drehte die Finger kurz, als drehe er einen Schlüssel im Schloss, und zuckte die Schultern. Eine Erklärung? Noch während Madeleine überlegte, fasste Ignatz sie am Arm, zeigte die Straße hinunter, wohin der Grenadier verschwunden war, wandte sich wieder ihr zu und deutete, für sie völlig überraschend, mit der Hand eine leichte Wölbung über der Stelle ihres Kleides an, unter der sich ihr Bauch verbarg. Er berührte den Stoff nicht, seine Finger hielten Abstand, nur die Augenbrauen hatte er fragend hochgezogen.

Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und sie erneut zu schluchzen anfing.

 

Was fällt diesem Kerl ein? Ein Mädchen zu fragen, ob sie ein Kind im Leib trug! Sie fauchte ihn an, doch mitten im Satz brach sie ab. Er hörte sie ja nicht.

Als wolle er Abbitte leisten, reichte er ihr sein Tuch ein zweites Mal, unwillig riss sie es wieder an sich. Dann nestelte sie am Deckelverschluss, packte sich den Korb auf den Rücken und rannte davon. Die Kiepe schlenkerte hin und her.

Dort, wo das Gässchen endete, öffneten sich ein winziger Platz und dahinter der Totenacker der reformierten Kirche. Hastig, als würde sie verfolgt, suchte Madeleine die Eingangstür zum kleinen Gotteshaus und schlüpfte in den schummrigen Gebetsraum. Gegen eine Wand gelehnt, schloss sie die Augen. Sie wollte niemanden sehen, weder den vermaledeiten Sobringer noch diesen unverschämten Kehrichtbauer und auch nicht den einäugigen Bub. Obwohl – der hatte ihr ja nichts getan.

Trotzdem!

Und dann war sie auch noch so dumm gewesen und hatte den beiden Honig geschenkt! Und zwei Töpfchen dazu! Als ob sie mit Geld um sich schmeißen könnte. Sie ärgerte sich über sich selbst, spürte ihr Herz bis in die Kehle klopfen. Mei-ne Schö-ne, mei-ne Schö-ne, hämmerte es gehässig.

Sie zitterte, suchte nach einem der Stühle, die Alten und Kranken vorbehalten waren, setzte sich. Doch die Stimme in ihr hörte nicht auf: Mei-ne Schö-ne, ich hab so Sehnsucht nach dir gehabt.

Bis Madeleine plötzlich ein Gedanke durch den Kopf fuhr: Und so was kann der Straßenkehrer nicht sagen? »Meine Schöne«? Auch nicht »bitte« und »danke«, »ja« und »nein«? Wie ist das, wenn man keine Sprache hat?

Sie hatte drei, Patouà, Französisch und Deutsch, und sie redete den ganzen Tag. Mit Gott, mit der Maïre und mit Jeanne. Oder mit den Frauen auf dem Markt. Und wenn sie dachte, dachte sie in Wörtern und Sätzen.

Kann man ohne Wörter denken?

Madeleine schaute sich um, sah eine schwarz gekleidete junge Frau, die vor sich hin murmelte. »… sei seiner Seele gnädig«, verstand sie. Ein kaputtes Fenster schlug auf und zu, durch die dünnen, lehmverputzten Wände der Kirche drang der Lärm von der Langen Straße herein. Karren und Kutschen ratterten vorüber, eine Peitsche knallte. Kinder kreischten. Ein Mann pries seine Waren an. »Citronen, Canneel, Muskat«, schallte es an ihr Ohr. Die Welt war voller Geräusche, es piepste und brummte und summte, Vögel zwitscherten, Hunde bellten, Betrunkene grölten, und dann war da das Rauschen des Regens, das Säuseln das Winds, das Plätschern des Wetterbachs …

Und das alles hörte dieser Ignatz nicht?

Weiß er, dass Citronen Citronen heißen und Bäume Bäume sind? Buchen, Eichen, Birken? Kennt er die Namen der Früchte auf dem Markt? Weiß er, wie die Stadt heißt, in der er lebt? Wie kann er reagieren, wenn man ihn ruft? Christoph sagt, die Leute nennen ihn einen Idioten, einen Schwachkopf.

Aber dieser Mensch ohne Worte hat mich gefragt: Bekommst du ein Kind? Seine Augen, seine Hand, seine Miene haben gefragt. Er hört nicht und spricht nicht und hat doch sofort begriffen. Als habe er in ihr Inneres geschaut.

Gab es so etwas? Oder sah man ihr den dicken Leib schon an? Sie atmete schwer, ein unbändiger Groll packte sie.

Dieser Schuft von Sobringer, ce salaud! Zwei Kinder hat er der armen Würbsin gemacht. Zwei! Und auf so einen bin ich reingefallen. Lieber Gott, Buondìou, du musst mir verzeihen …

… sie brauchte den Lieben Gott ziemlich oft in letzter Zeit. Hoffentlich überforderte sie Ihn nicht, …

… aber diesem Hund wünsche ich die Pest an den Hals, Reißen in den Gliedern, Cholera, die Blattern und abgehackte Beine. »Ich glaub, ich bring ihn um«, wisperte sie hinter vorgehaltener Hand, damit Gott wenigstens das nicht hörte.

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