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Existiert der Neoliberalismus überhaupt?

Die wirklich faszinierenden Schlachten der Geistesgeschichte finden zumeist dann statt, wenn jemand in die Offensive geht und behauptet, ein bedeutender Gegenstand existiere in Wirklichkeit gar nicht. Auf einer kurzen Liste solcher Streitobjekte fänden sich das geozentrische Weltbild, Gott, der Stein der Weisen, Atome, das Vakuum, das göttliche Recht der Könige, das Perpetuum mobile, die Evolution, ein formal vollständiges axiomatisches System, der Äther, der Klimawandel, die Gesellschaft und das menschliche Bewusstsein. Wie in Kapitel 1 bemerkt, liegt gerade eine Phase hinter uns, in der gewichtige Stimmen beharrlich die Existenz einer orthodoxen neoklassischen Lehre bestritten haben. Nichts bringt die Gemüter so in Wallung wie die Behauptung, man habe sich um nichts und wieder nichts gestritten. Was immer schlussendlich das Ergebnis ist, solche Einsprüche markieren meist kritische Momente, die das Denken aus selbstzufriedenem Trott aufscheuchen und eine theoretisch wie empirisch fruchtbare Phase eröffnen. Nach Möglichkeit gelingt diese auch bei unserer Annäherung an den Begriff »Neoliberalismus«. Das erfordert allerdings ein Minimum an Intellectual History.

Beginnen wir mit dem offenkundigen Phänomen, dass die meisten als Neoliberale bezeichneten Personen dieses Etikett von sich weisen und darüber hinaus bestreiten, dass der Neoliberalismus als einheitliche Lehre überhaupt existiert. Für sie ist »Neoliberalismus« ähnlich wie »Faschismus« oder »Gleichheit« nur ein Kampfbegriff, mit dem ihre Gegner gerne um sich werfen. Manche gehen noch weiter und beziehen eine nominalistische Position: Wenn »wir« es ablehnen, uns neoliberal zu nennen, dann hat auch niemand anders das Recht dazu. Neuerdings erklären zudem linke Autoren, das neoliberale Denken sei derart unbeständig und diffus, dass es sich einer Analyse entziehe.

Die nominalistische Position lässt sich rasch abhandeln. Wie gezeigt wurde, nannten sich die betreffenden Personen während eines kurzen Zeitraums von den Dreißiger- bis zu den früher Fünfzigerjahren sehr wohl »Neoliberale«, nahmen davon jedoch plötzlich Abstand.16 Anfangs wetteiferten mehrere Figuren wie etwa Alexander Rüstow sogar um den Ruhm der Urheberschaft an dem Begriff.17 Andere erkannten ihn schlicht als gebräuchlich an. Milton Friedman, um eines von vielen einschlägigen Beispielen zu nennen, schrieb 1951 in der norwegischen Zeitschrift Farmand:

»Eine neue Ideologie […] muss vordringlich auf eine wirksame Begrenzung der Macht des Staates zielen, bis ins Kleinste in die Unternehmungen des Individuums einzugreifen. Gleichzeitig ist vollkommen klar, dass dem Staat positive Funktionen zufallen. Die Lehre, die mitunter als Neoliberalismus bezeichnet worden ist und die sich mehr oder weniger gleichzeitig in vielen Teilen der Welt entwickelt hat […] ist genau eine solche Lehre. […] Doch während man im 19. Jahrhundert das geeignete Mittel zu diesem Zweck im Laissez-faire sah, betrachtet der Neoliberalismus den Wettbewerb als wegweisend.«18

Noch 1961, in einer Vorarbeit zu Kapitalismus und Freiheit, liebäugelte Friedman mit einer Variante des Terminus:

»Dass dem Begriff Liberalismus diese zwei ganz unterschiedlichen Bedeutungen beigelegt werden, erschwert die passende Bezeichnung der Prinzipien, über die ich sprechen werde. Um diese Schwierigkeit zu lösen, werde ich das Wort Liberalismus im ursprünglichen Sinn verwenden. Der Liberalismus des 20. Jahrhunderts, wie ich ihn genannt habe, ist mittlerweile orthodox, ja reaktionär geworden. Folglich können wir die Auffassungen, die ich darlegen werde, heute ebenso gut den ›neuen Liberalismus‹ nennen, was eine attraktivere Bezeichnung ist als ›Liberalismus des 19. Jahrhunderts‹«.19

Die Unhaltbarkeit der nominalistischen Position dürfte auf der Hand liegen: Der Begriff wurde und wird bisweilen auch heute von Linken wie Rechten sinnvoll gebraucht, und er bezeichnet auch weitgehend dieselben Personen und Institutionen – die Mitglieder der Mont Pèlerin Society und ihre engen Verbündeten. In einer ersten Annäherung wird uns die MPS als Kriterium dienen: Jede ihr näher verbundene Idee oder Person nennen wir neoliberal. Im Lauf der Untersuchung können wir den Blickwinkel dann auf die äußeren Umlaufbahnen des NDK erweitern.

Die heillose Verwirrung über die Existenz des Neoliberalismus rührt daher, dass Außenstehende ihn häufig mit libertären Auffassungen oder dem klassischen Liberalismus verwechseln, was wiederum zumindest teilweise der Tatsache geschuldet ist, dass seine Wortführer ihn vielfach selbst mit anderen Positionen vermengt haben. Friedrich Hayek behauptete zum Beispiel notorisch, seine Auffassungen ließen sich in einer geraden Linie bis zu klassischen Liberalen wie David Hume und Adam Smith zurückverfolgen.20 Bedenkt man außerdem, dass Hayek in Mont Pèlerin »die Herausgabe jedweden öffentlichen Manifestes«21 ablehnte, dann wird ein koordinierter Versuch erkennbar, im Zuge einer Art Détentepolitik die Grenzen zwischen politischen Strömungen zu verwischen. Deutlich zeigt sich dies zum Beispiel in einem Gespräch, das die konservative Zeitschrift Reason mit Friedman führte:

REASON: Sie greifen Ihrem Selbstverständnis nach auf den Liberalismus des 19. Jahrhunderts zurück, aber Sie wurden dabei nie zum Begründer eines Systems wie Rand oder Rothbard …

FRIEDMAN: Genau, ich verwende lieber den Begriff liberal als libertär.

REASON: Gelegentlich verwenden Sie aber das Wort libertär.

FRIEDMAN: Ja, das tue ich.

REASON: Als Zugeständnis an den allgemeinen Sprachgebrauch?

FRIEDMAN: Richtig. Denn liberal wird heute oft ganz falsch verstanden […] Meine Philosophie ist eindeutig libertär. Doch libertär ist kein klar definierter Begriff. Es gibt viele Varianten: eine anarchistische, die jedwede Regierung ablehnt. Eine andere, die die Regierung einschränken will. […] Ich wäre gern ein Libertärer, der jede Regierung ablehnt.

REASON: Warum sind Sie es dann nicht?

FRIEDMAN: Weil ich das nicht für eine praktikable Gesellschaftsstruktur halte.22

Kein Wunder, dass Nichteingeweihte so verwirrt sind, wenn man von vielen Neoliberalen selbst als bekennender Sympathisant nur mit großer Mühe eine klare Antwort bekommt. Und je mehr man ihre Schriften studiert, umso schlimmer wird es häufig noch. Es wäre zum Beispiel eine langwierige und undankbare Aufgabe, in Friedmans Werk tatsächlich libertäre politische Vorschläge zu finden – was wirkliche Libertäre mitunter auch beklagen. Sie müssen über Aussagen wie die folgende hinweglesen: »Man kann ein hohes Maß an gesellschaftlicher wie auch wirtschaftlicher Freiheit ohne jegliche politische Freiheit haben.«23 Die lautstarke Dämonisierung eines Popanzes namens »die Regierung« ist mitnichten dasselbe wie die Ablehnung »des Staates« schlechthin.24 Der reife Neoliberalismus findet am minimalistischen Nachtwächterstaat der klassisch liberalen Tradition kein Gefallen: Sein Hauptmerkmal sind vielmehr Vorschläge und Programme für die Beeinflussung, Übernahme und Transformation eines starken Staates, der die vollkommene, dem eigentümlichen neoliberalen Idealbild der reinen Freiheit verpflichtete Gesellschaft durchsetzen soll. Der Neoliberalismus wurde ein »konstruktivistisches« Projekt, so vehement Hayek diesen Begriff auch ablehnte.25 Dass er beinahe das genaue Gegenteil des libertären Anarchismus darstellt, wurde lange Zeit übersehen, wird heute jedoch in Kreisen, die sich mit politischer Ökonomie befassen, zunehmend anerkannt.26 Insofern ist »Neoliberalismus« nicht nur der historisch korrekte Name für eine bestimmte Strömung in der politischen Theorie, sondern auch der Sache nach treffend: Die frühen Neoliberalen distanzierten sich zumeist ausdrücklich vom klassisch liberalen Gedanken des Laissez-faire, der ihnen überholt schien.27 Sie suchten nach einer neuen, weniger kontemplativen Orientierung. Spätere MPS-Mitglieder wie James M. Buchanan gaben zumindest in den geschlossenen Veranstaltungen der Organisation noch freimütiger zu, dass der Staat Anziehungskraft auf die Neoliberalen ausübte:

»Manche unserer Mitglieder können sich eine lebensfähige Gesellschaft ohne Staat vorstellen. […] Für die meisten von uns jedoch ist eine gesellschaftliche Ordnung ohne Staat nicht ohne Weiteres denkbar, zumindest in keinerlei normativ erstrebenswertem Sinne. […] Wir kommen nicht darum herum, auf unser Verhältnis zum Staat durch ein anderes Fenster zu blicken, um eine bekannte Metapher Nietzsches zu bemühen. […] Der Mensch ist ein Sklave des Staates und er muss dies auch bleiben. Doch es ist von allergrößter Bedeutung, zu begreifen, dass zehn Prozent Sklaverei etwas anderes sind als fünfzig Prozent Sklaverei.«28

Wer den Neoliberalismus genauer begreifen will, stößt auf mindestens zwei große Hindernisse: den Nebel, in den die Neoliberalen den Begriff und verwandte Gedankengebäude zugunsten eines Zusammengehens mit anderen konservativen Strömungen tauchen, und die Tatsache, dass sich seine Grundsätze in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewandelt haben. Die rund zehn Gebote des Neoliberalismus wurden nicht vollständig und makellos 1947 am Mont Pèlerin empfangen, wo sich die MPS erstmals versammelte, und sie sind auch nicht aus einigen »Hayek’schen Enzykliken«, wie Jamie Peck so treffend formulierte, herzuleiten. Selbst wenn wir uns auf die MPS beschränken würden – was zu eng gefasst wäre –, müssten wir mindestens drei Sekten oder Unterfraktionen berücksichtigen, die sich in ihr rasch herausbildeten: eine an der österreichisch geprägten Rechtstheorie Hayeks orientierte, die Chicago School der neoklassischen Wirtschaftstheorie und den deutschen Ordoliberalismus.29 Hayek räumte dies Mitte der Achtzigerjahre selbst ein, als er vor der »dauernde[n] Gefahr, daß die ›Mont Pèlerin Society‹ in einen Friedman’schen und einen Hayek’schen Flügel gespalten werden könnte«, warnte.30 Dem neutralen Beobachter bot sich ein Bild anhaltender Spannungen, aber auch gegenseitiger Befruchtung. Man braucht schon ein dickes Nachschlagewerk, um den Überblick zu behalten; auch dies dürfte den bloß neugierigen Außenstehenden abschrecken.

 

Was den Neoliberalismus angesichts dieser die Gefahr einer Spaltung bergenden Zentrifugalkräfte zusammengehalten hat, ist eine begründete Frage. David Harvey vertritt die marxistische Position, er sei schlicht ein Klassenprojekt, das sich hinter diversen Spielarten einer Rhetorik des »freien Marktes« verberge. Die Ideen an sich sind ihm zufolge deutlich weniger wichtig als die simple Funktion, dem Interesse des Finanzkapitals und globaler Eliten an einer Umverteilung des Reichtums von unten nach oben zu dienen. Ähnlich wie Harvey vertreten auch Michael Howard und John King eine historisch-materialistische Lesart, die die »Bedeutung der Widersprüche in den maßgeblichen Institutionen der Nachkriegsära sowie die daraus resultierenden Krisen der Siebzigerjahre betont«.31 Daniel Stedman Jones unterteilt den Neoliberalismus anhand der jeweils vorherrschenden Politik in drei Phasen: die Vorgeschichte bis zum ersten Treffen in Mont Pèlerin, eine zweite, von der monetaristischen Kritik am Neokeynesianismus bestimmte Phase bis zum Machtantritt Reagans und Thatchers und eine dritte Phase seit den Achtzigerjahren.32 Jamie Peck misst den Ideen als solchen mehr Gewicht bei: Die Fragmentierung des Neoliberalismus sei zwar real, werde aber durch die gemeinsame Verpflichtung auf ein unrealistisch-utopisches Freiheitsverständnis kompensiert. Allerdings ließ die erfolgreiche Infiltration des Staates laut Peck eine Bandbreite divergierender Theoriebausteine deutlich werden: »Erst mit der Übernahme der Staatsmacht konnte immanente Kritik zu einer scharfen Selbstkritik werden.«33 Peter-Wim Zuidhof deutet die Fragmentierung als Teil eines bewussten rhetorischen Programms, das dem Begriff »Markt« jede klare Bedeutung nehmen soll.34 Ohne die Stärken dieser Erklärungen zu bestreiten, lassen sich allerdings auch einige schlichte Beobachtungen über die Struktur der MPS und ihrer Satellitenorganisationen anstellen.

Die MPS entwickelte sich meiner Ansicht nach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem ungemein erfolgreichen Gebilde, das die Ausarbeitung einer handlungsorientierten politischen Theorie jenseits der herkömmlichen Strukturen von Parteien und akademischen Institutionen ermöglichte. Vielleicht wird man sie eines Tages als ein neues Phänomen in der Wissenssoziologie des 20. Jahrhunderts studieren. Zumindest bot sie einen neuartigen Rahmen, der die theoretischen Auflösungstendenzen bremste und die drei Fraktionen in produktiver Spannung zueinander hielt. Hayek vertrat 1946 eine Vision der MPS als »Mittelweg zwischen wissenschaftlicher Vereinigung und politischer Gesellschaft«35, doch sie wurde weit mehr als das. Wir verfolgen den Neoliberalismus hier vor allem deshalb anhand der MPS, weil sie Teil einer eigentümlichen, in den Vierzigerjahren vielleicht beispiellosen Struktur des intellektuellen Diskurses ist, in der Forschung und Praxis nach dem Vorbild einer russischen Schachtelpuppe ineinanderstecken. Ziel war es, eine funktionale hierarchische Elite straff organisierter politischer Intellektueller hervorzubringen; wie Hayek an Bertrand de Jouvenel schrieb: »Manchmal frage ich mich, ob es anstatt des Kapitalismus nicht vielmehr der (als Demokratie bezeichnete) starke egalitäre Zug in Amerika ist, der die Entwicklung einer kulturellen Elite derart behindert.«36 In der MPS erkannten die Neoliberalen ein effektives, von lokalen Bedingungen unabhängiges Mittel zur Neuerrichtung einer Hierarchie. Dieser auf mehreren Ebenen, Phasen und Sektoren aufbauende Versuch, die politische Fähigkeit zur Entwicklung, Kritik und Verbreitung von Ideen zu erlangen, wird im Folgenden als »Denkkollektiv« bezeichnet.

Das Neoliberale Denkkollektiv unterschied sich in seiner Struktur deutlich von den anderen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um geistigen Einfluss ringenden »unsichtbaren Akademien«. Anders als die meisten Intellektuellen der Fünfzigerjahre erkannte die MPS den entscheidenden Hebel für ihre Bestrebungen nicht in den Universitäten, den akademischen Berufen oder der Mobilisierung von Interessengruppen – alle drei waren aus ihrer Sicht zu staatshörig. Die ersten Neoliberalen fühlten sich mit einer gewissen Berechtigung von den geistigen Schaltstellen im Westen weitgehend abgeschnitten. So entstand die MPS als ein geschlossener, privater Debattierclub, dessen Mitglieder sorgfältig ausgewählt wurden (zunächst vor allem von Hayek, später durch ein nichtöffentliches Ernennungsverfahren) und der sich bewusst abseits der Öffentlichkeit hielt. Es ging um die Schaffung eines besonderen Raums, in dem politisch ähnlich Gesinnte über die Konturen einer zukünftigen, vom klassischen Liberalismus abweichenden Bewegung debattieren konnten, ohne für ihre oftmals utopischen Vorschläge Spott zu ernten oder in den Ruf einer fünften Kolonne machtvoller dubioser Interessengruppen der Nachkriegsgesellschaft zu geraten. Selbst der Name der Gesellschaft wurde gewählt, weil er relativ nichtssagend war – er verriet Außenstehenden wenig über substanzielle Inhalte.37 Viele Mitglieder gehörten diversen Fakultäten an, aber da dies keine Voraussetzung für die Mitgliedschaft war, konnten der MPS auch einflussreiche Kapitalisten beitreten, sodass sie nicht nur aus Intellektuellen bestand.

Als nächstgrößere Puppe, die dem Denkkollektiv als ein öffentliches Gesicht diente – aber ihre Verbindungen zur MPS nur selten öffentlich zugab –, lassen sich bestimmte, bereits vor 1980 von den Neoliberalen eroberte akademische Einrichtungen betrachten: die wirtschaftswissenschaftliche und die juristische Fakultät der University of Chicago, die London School of Economics, das Institut universitaire des hautes études internationales (Genf), die University of St. Andrews (Schottland), wirtschaftswissenschaftliche Institute in Freiburg, die Virginia School und die George Mason University. Eine weitere Puppe bildeten die für Bildungsarbeit und die Verbreitung neoliberaler Doktrinen zuständigen Stiftungen; anfangs zählten dazu etwa der Volker Fund, die Earhart Foundation, die Relm Foundation, das Lilly Endowment, die John M. Olin Foundation, die Bradley Foundation und die Foundation for Economic Education. Schon aus steuerlichen Gründen und zur Wahrung eines Anscheins von Neutralität wurden sie oft als gemeinnützige oder karitative Einrichtungen gegründet.38 Mitunter versorgten sie nicht nur treue Anhänger mit gutdotierten Jobs, sondern erfüllten auch wichtige organisatorische Funktionen: Der Volker Fund führte beispielsweise ein umfangreiches »Adressbuch« sympathisierender neoliberaler Intellektueller, das bis 1956 auf 1841 Namen angewachsen war.39 Die nächste Ebene bestand aus breit ausgerichteten Denkfabriken (Institute for Economic Affairs, American Enterprise Institute, Schweizerisches Institut für Auslandforschung, Hoover Institution an der Stanford University) und Satellitenorganisationen wie der Federalist Society, in denen Neoliberale wirkten, die teilweise zugleich angesehene Akademiker aus unterschiedlichen Disziplinen waren. Die Denkfabriken wiederum versteckten sich häufig hinter spezialisierten Ablegern, die bei Bedarf zügig Positionspapiere für sympathisierende Politiker ausarbeiten konnten und in Nachrichten- wie Meinungsmedien präsent waren.40

Um ihre Botschaften rund um den Globus effektiv zu verbreiten, schufen die Neoliberalen sogar eine Art »Mutter aller Think-Tanks«: Die 1981 von Antony Fisher gegründete Atlas Economic Research Foundation sollte MPS-nahe Gruppen in diversen Ländern beim Aufbau von Denkfabriken unterstützen. Laut eigenen Angaben war sie an der Gründung eines Drittels aller »marktorientierten« Think-Tanks auf der Welt beteiligt, darunter das Fraser Institute (Kanada), das venezolanische Centro de Divulgación del Conocimiento Económico para la Libertad (CEDICE), das Centar za slobodno tržište (Belgrad), das Liberty Institute (Rumänien) und Unirule (Peking).41 Die Stiftung diente unter anderem als Geldwaschanlage, die Spenden von Konzernen wie Philip Morris und Exxon an stärker spezialisierte Think-Tanks weiterleitete. Zur effektiveren Verbreitung der Arbeitsergebnisse der inneren Puppen schuf das Denkkollektiv später außerdem eine journalistische Ebene, mit der etwa Rupert Murdochs News Corporation,42 die Bertelsmann AG und ein breites Spektrum an Blogs und Social-Networking-Webseiten verbunden sind.

Gegenüber Sponsoren haben die Betreiber der russischen Schachtelpuppe offen zugegeben, dass es sich bei diesen Institutionen um ein integriertes System zur Produktion politischer Ideen handelt. Richard Fink zum Beispiel, der maßgeblich daran beteiligt war, die George Mason University durch direkte Beziehungen zur Koch Foundation (deren Präsident er später wurde) zu einem neoliberalen Vorposten auszubauen, teilte potenziellen Förderern mit,

»die Umsetzung von Ideen in Taten erfordere die Entwicklung geistiger Rohstoffe, ihre Verwandlung in spezifische politische Handelsartikel und die Vermarktung und Distribution dieser Produkte an die Bürger resp. Verbraucher. Förderern empfahl Fink, entlang der gesamten Produktionskette in den Wandel zu investieren: in Wissenschaftler und Universitätsprogramme, die den geistigen Rahmen für gesellschaftliche Transformationen entwickeln, in Think-Tanks, die wissenschaftliche Ideen in politische Vorschläge übersetzen, und in Implementierungsgruppen, die diese Vorschläge auf den politischen Markt und schließlich an die Verbraucher bringen.«43

Ungeachtet der Rhetorik von Märkten und Verbrauchern handelte es sich in Wirklichkeit um eine vertikal integrierte Reihe von Operationen, deren Konturen schließlich in den Achtzigerjahren deutlich wurden. Die Ebene der Think-Tanks wuchs Hand in Hand mit der internationalen Präsenz der MPS, wie Abb. 2.1 zeigt. Solche Indikatoren lassen erahnen, wie viel Vorarbeit das NDK leistete, bevor seinem von Fink beschriebenen Projekt in den Achtzigerjahren der Durchbruch gelang.

Abb. 2.1: Zunahme von MPS-nahen Think-Tanks


Quelle: Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft

Je weiter wir in die Gegenwart vorrücken, umso mehr äußere Schichten weist die Schachtelpuppe auf. So stehen etwa hinter vermeintlichen Graswurzelbewegungen, die punktuelle – oftmals religiös ausgerichtete – Kampagnen durchführen, mitunter in Wirklichkeit sogenannte Astroturf-Organisationen (dt. »Kunstrasen«).44 Der Anschein spontaner Organisation ist dabei oft genauso wichtig wie die konkrete politische Aufgabe der jeweiligen Astroturf-Kampagne. Dass die einer bestimmten Ebene zugeordneten Akteure mehrere Rollen gleichzeitig spielen und zwischen den verschiedenen Ebenen vielfältige starke Verbindungen existieren, blieb Außenstehenden meist verborgen, da ihr Blick nur selten über die einzelne Puppe hinausreichte, die sie gerade vor sich hatten. Dies förderte zugleich den Eindruck einer »spontanen Ordnung«, die Neoliberale so schätzen, auch wenn es sich oftmals um nichts dergleichen handelte. Am informellen Charakter der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen scheiterten überdies gewöhnlich die Versuche, das neoliberale Denkkollektiv als veritable Verschwörung darzustellen. Als Denkschule, die auf eine politische Massenbewegung hinarbeitete, ging es auch über eine solche hinaus, und zudem wurde es im Lauf der Zeit durch trial and error aufgebaut. Sein Erfolg ließ das Denkkollektiv bald auf eine Größe anwachsen, bei der es gar nicht mehr zu überblicken war.

 

Abb. 2.2: Gründungstreffen der MPS (1947)


Das neoliberale Gebäude der MPS beruhte auf einigen hauptsächlich europäischen und amerikanischen Grundpfeilern, umschloss allmählich eine Vielfalt wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Denkschulen und bot eine transnationale Agora, auf der Lösungen für mutmaßliche Probleme debattiert werden konnten; sein bewegliches Dach konnte etablierte Machtbeziehungen in Universitäten, Politik und Gesellschaft überspannen. Die MPS war nie provinziell, sondern bereits global orientiert, bevor »Globalisierung« ein Modewort wurde. Dies machte Max Thurn (-Valsassina) in seiner Eröffnungsrede auf dem MPS-Treffen 1964 in Semmering deutlich: »Als Mitglieder der Mont Pèlerin Society interessieren wir uns nicht für die Probleme einzelner Länder oder selbst Ländergruppen. Was uns bewegt, sind allgemeine Themen wie Freiheit und Privatinitiative.«45 Die Arbeitsteilung zwischen globaler Denkschule und lokalem politischem Handeln erwies sich rasch als Erfolg, während die auf 500 Personen begrenzte Mitgliedschaft in der MPS ein exklusives Distinktionsmerkmal für namhafte Konservative wurde. Wie sich die geografische Reichweite der Organisation entwickelte, zeigen Weltkarten für das Gründungsjahr und für 1991 (Abb. 2.2 und 2.3).

Abb. 2.3: MPS-Mitglieder (1991)


Die ungewöhnliche Struktur des Denkkollektivs erklärt teilweise, warum sich der Neoliberalismus nicht in einer Handvoll Merksätze zusammenfassen lässt. Er ist vielmehr ein (innerhalb gewisser Grenzen) pluralistisches Unternehmen, das sich von drei Hauptgegnern abzugrenzen sucht: vom klassischen Laissez-faire-Liberalismus, Sozialliberalismus und Sozialismus. Während sich der um die Errichtung von Schutzwällen zwischen Ökonomie und Politik bemühte klassische Liberalismus durch Dichotomien und Unbeweglichkeit auszeichnete, muss der Neoliberalismus als eine flexible und pragmatische Antwort auf die vorhergehende Krise des Kapitalismus, die Große Depression, verstanden werden, geleitet von äußerster Klarheit darüber, was es mit allen Mitteln zu verhindern gilt: Planwirtschaft und starke Sozialstaaten. Entgegen den bornierten Interessen einiger Industriekapitäne (auch innerhalb der MPS) begriffen neoliberale Intellektuelle, dass dieses allgemeine Ziel umfassende und langfristige Reformbemühungen erforderte, die das gesamte soziale Gewebe einschließlich der Unternehmenswelt betreffen. Anstatt lediglich als passive Sprachrohre der Kapitalisten aufzutreten, zielten die Neoliberalen auf eine gründliche Umerziehung aller Parteien, um den Tenor und Sinn von Politik zu verändern – nicht mehr und nicht weniger.46 Ihren direkten Adressaten erkannten neoliberale Intellektuelle in der zivilgesellschaftlichen Elite: Es galt vor allem, andere Intellektuelle und Meinungsführer zukünftiger Generationen für sich zu gewinnen, und das primäre Mittel dazu bestand in einer Neudefinition des gesellschaftlichen Stellenwerts von Wissen, eine Operation, die zum Leitmotiv ihrer theoretischen Tradition avancierte. Wie Hayek in seiner Adresse an das erste Treffen der MPS erklärte:

»Doch die für die Politiker unverrückbaren, von der öffentlichen Meinung diktierten Schranken der Machbarkeit dürfen für uns nicht als solche gelten. Die öffentliche Meinung zu solchen Fragen ist das Werk von Männern wie uns […], die das politische Klima geschaffen haben, in dem sich die Politiker unserer Zeit bewegen müssen […]. Ich bin mir sicher, dass die Macht etablierter Interessen gewaltig übertrieben wird, vergleicht man sie mit dem allmählichen Vordringen von Ideen.«47

Die Struktur der Schachtelpuppe wirkte wie ein Verstärker, der die Stimme jedes beliebigen Mitglieds des Denkkollektivs durch eine Reihe scheinbar eigenständiger Organisationen, Personen und Übertragungskanäle verbreiten konnte, ihr dadurch zu Widerhall und Gewicht verhalf und den Ideen zum gewünschten Zeitpunkt einen Resonanzraum bot. Man muss mit Bewunderung anerkennen, dass neoliberale Intellektuelle den politischen und organisatorischen Charakter von Wissen und Wissenschaft in der Moderne genauer begriffen haben als ihre linken Gegenspieler und dass sie somit für jeden, der sich für die Archäologie des Wissens interessiert, eine würdige zeitgenössische Herausforderung darstellen.

Natürlich sollte man den damaligen wie heutigen Neoliberalismus nicht auf die MPS und die ihr angeschlossenen Denkfabriken reduzieren – das wäre eine Karikatur der Geschichte. Meine Hervorhebung der MPS und der russischen Schachtelpuppe richtet sich gegen die Tendenz unter Linken, ihn als eine hoffnungslos diffuse, konturlose Bewegung zu betrachten. In den folgenden Kapiteln blicken wir über den begrenzten Wirkungsradius der MPS hinaus, indem wir untersuchen, wie neoliberale Vorstellungen in der Wirtschaftswissenschaft und in vielen Facetten des Alltagslebens Fuß fassen konnten. Ein weiteres Moment sind die Folgen des Wandels rechter wie linker Parteien, die in der Literatur meist deutlich mehr Berücksichtigung finden. Doch zumindest für den Zeitraum bis zu den Achtzigerjahren – als der Vormarsch neoliberaler Ansichten und somit der Erfolg der ursprünglichen Netzwerke die Zahl der selbsternannten Stammväter des Neoliberalismus rapide steigen ließ – lässt sich das MPS-Netzwerk als hinreichend präzise Chiffre für das neoliberale Denken in seiner Entstehungsphase verwenden.

In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ist die Bedeutung der MPS weniger klar. Auch wenn detaillierte Untersuchungen noch ausstehen, erscheint sie von außen betrachtet nicht mehr wie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als ein Treibhaus utopischer Entwürfe und rigoroser Debatten, die in einem nächsten Schritt an die äußeren Schichten der russischen Puppe übermittelt werden. Ein Teil des Problems besteht offenbar darin, dass die Mitgliedschaft in der MPS mit dem politischen Erfolg der Neoliberalen zu einer Art Prestigeobjekt geworden ist, das namentlich von reichen Müßiggängern mit intellektuellen Ambitionen geschätzt wird. Während sich ihre Zusammensetzung zugunsten von gewöhnlich eher in Davos oder einem exklusiven Club von Reichen anzutreffenden Personen verschob, büßte die MPS tendenziell ihre Rolle als hochdynamischer Debattierclub ein. Diese Funktion übernehmen heute offenbar eher äußere Schichten der Puppe wie bestimmte akademische Zentren und die großen etablierten Denkfabriken. Bei Einsetzen der Krise bestand zwar zunächst die Tendenz, zum alten Modell der MPS als einer Kardinalsversammlung zurückzukehren, doch wie im ersten Kapitel gezeigt, wurden dabei bestenfalls ein halbes Jahrhundert alte Lehrsätze wiedergekäut. Allerdings werden wir im sechsten Kapitel die Möglichkeit erörtern, dass die äußeren Schichten selbst ein umfassendes politisches Reaktionsmuster für schwere Krisen entwickelt haben. Trifft dies zu, dann wäre der Neoliberalismus im Angesicht der Krise nicht etwa, wie von manchen Autoren behauptet, diffuser, sondern kohärenter geworden.