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[6] Der Neoliberalismus unterwirft die Seinsweise des menschlichen Subjektes einer tiefgreifenden Veränderung. Viele Autoren haben eine hellsichtige Bemerkung zitiert, die Foucault vor drei Jahrzehnten machte: »Der Homo oeconomicus ist [im Neoliberalismus] ein Unternehmer, und zwar ein Unternehmer seiner selbst.«69 Übersehen haben sie allerdings, wie drastisch dies von der klassisch liberalen Lehre abweicht.

Der klassische Liberalismus sah in der »Arbeit« die wesentliche ursprüngliche menschliche Leistung, die das Privateigentum hervorbringt und rechtfertigt. Wie Foucault richtig erkannte, erfolgte die entscheidende neoliberale Abkehr von diesem Gedanken mit dem vom MPS-Mitglied Gary Becker geprägten Begriff des »Humankapitals«, der eine jahrhundertealte politische Denktradition untergräbt, mit der der Humanismus in Theorien des Naturrechts überführt wurde. Nicht nur dekonstruiert der Neoliberalismus jeglichen besonderen Status der menschlichen Arbeit, er löscht auch ältere auf der Arbeitswerttheorie beruhende Unterscheidungen zwischen Produktion und Konsumtion aus und reduziert den Menschen auf ein zufälliges Bündel von »Investitionen«, Qualifikationen, zeitweiligen Zugehörigkeiten (Familie, Geschlecht, »Rasse«) und fungiblen Körperteilen. Die »Regierung des Selbst« wird zur Grundlage jedweder gesellschaftlichen Ordnung, auch wenn sich seine Identität unter dem Druck ständiger prothetischer Eingriffe auflöst; dies ist eine mögliche Lesart des Begriffs der »Biomacht«. Eine Kontinuität des Individuums von einer »Entscheidung« zur nächsten braucht es unter diesem Regime nicht länger. Der Manager des Selbst wird zum neuen Geist in der Maschine.70

Die Ausbreitung des Internets ist für die Neoliberalen selbstredend ein Segen gewesen. Chatrooms, Online-Spiele, virtuelle soziale Netzwerke und elektronische Finanzgeschäfte haben selbst geistig Minderbemittelte zum Experimentieren mit der neuen neoliberalen Subjektivität ermuntert. Eine Welt, die es dem Subjekt ermöglicht, virtuell das Geschlecht zu wechseln, beliebige Eigenschaften anzunehmen, sein Sozialleben auf die Statistiken auf einer Social-Networking-Website zu reduzieren oder zu meinen, es könne sein Wesen abgetrennt vom Körper im Netz hochladen, ist ein neoliberaler Spielplatz. Die in den Massenmedien so beliebten Geschichten über IT-Milliardäre lehren unterdessen, dass man keine materiellen Gegenstände herstellen muss, um am globalen Markt der Köpfe teilzunehmen. Das ist Thema des dritten Kapitels.

Dieses Verschwinden des Subjekts hat für die neoliberale politische Theorie vielfältige Implikationen. Es bedeutet erstens, dass die altbekannte Klage über den sturen methodischen Individualismus der Wirtschaftswissenschaft das neoliberale Programm gar nicht anficht. »Individuen« sind aus neoliberaler Sicht nichts weiter als flüchtige Projekte. Dadurch konnte sich der Neoliberalismus zu einer lückenlosen Universaltheorie entwickeln: Seitdem das Individuum seine ontologische Privilegierung eingebüßt hat, kennzeichnet das strategische Vorteilsstreben des Unternehmers etwas so Winziges wie ein Gen und etwas so Großes wie den Nationalstaat gleichermaßen. Zweitens gibt es keine Klassen mehr wie in der älteren politischen Ökonomie, denn jedes Individuum ist zugleich Arbeitgeber wie -nehmer und sollte nach Möglichkeit sein eigenes Unternehmen sein; dies hat sich als ein sehr effektives Mittel zur Neutralisierung großer Teile des älteren linken Diskurses bewährt. Dabei wird eine Eigentümlichkeit der amerikanischen Rechtstradition – der Status des Unternehmens als eine juristische Person – angeführt und zu einem ontologischen Prinzip aufgeblasen. Der Regierung wird ein solcher Status hingegen abgesprochen: »Die Regierung hat keine wirtschaftliche Verantwortung. Nur Menschen haben Verantwortung, und die Regierung ist kein Mensch.«71 Drittens können Eigentumsrechte, da Eigentum nicht mehr wie in der Locke’schen Tradition auf Arbeit beruht, ohne Weiteres zugunsten bestimmter politischer Ziele geändert werden. Beobachten lässt sich dies etwa auf dem Gebiet des »geistigen Eigentums« anhand des Eigentums an den – krisenträchtigen – Algorithmen für die Konstruktion und den Handel mit obskuren Derivaten oder deutlicher noch daran, dass die Infrastruktur des Marktes selbst auf eine Ware reduziert wird: Die in der jüngeren Vergangenheit erfolgte Umwandlung von Börsen in gewinnorientierte Aktiengesellschaften war eine entscheidende neoliberale Innovation auf dem Weg zur Krise. Klassische Liberale verstanden das Eigentum als sakrosanktes Bollwerk gegen den Staat; nicht so die Neoliberalen. Viertens wird die gesamte Tradition von Theorien zerstört, die »Interessen« eine empirische Grundlage im politischen Denken zuerkannten.72

Den klassischen Liberalismus haben wir damit eindeutig hinter uns gelassen.

[7] Neoliberale preisen »Freiheit« als höchsten Wert, unterziehen den Begriff jedoch einer umfassenden Neudefinition. Da die Freiheit eines Wesens ohne jede Beständigkeit schwer zu bestimmen ist, lösen sie sich von älteren Konzeptionen des Individualismus.

Während manche Neoliberale wie Friedman jede Definition von Freiheit (über ihre Unterscheidung von Demokratie hinaus) ablehnen, haben andere wie Hayek einen Bogen zum zweiten Gebot geschlagen, indem sie sie als epistemische Tugend fassen: »der Hauptzweck der Freiheit ist, sowohl die Gelegenheit als auch den Anreiz zu bieten, um die höchstmögliche Nützung der Kenntnisse zu sichern, die ein Einzelner erreichen kann«. Wie diese seltsame Definition illustriert, hängt das Freiheitsverständnis eines Neoliberalen offenbar von seinem Marktbegriff ab. Der Teufel wird in den Details versteckt: Hayek sieht sich sogleich zu einer Unterscheidung zwischen persönlichen Freiheiten und subjektiver Freiheit genötigt, nach der erstere keine politische Freiheit umfassen. Friedman unterschied gegen Lebensende drei Arten von Freiheit – die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische –, doch von Belang war offenbar nur die wirtschaftliche. Zeitgenössische Theoretiker wie Amartya Sen versuchen bei der Bestimmung von Freiheit zu berücksichtigen, welche Wahlmöglichkeiten einer Person überhaupt gegeben sind, doch das lassen Neoliberale nicht gelten. Auch wenn sie jeglichen »Zwang« als ein Übel darstellen, blenden sie die im Hintergrund wirkenden Determinanten menschlicher Intentionen aus. Sie betrachten jeden Menschen so, als wäre er gestern erst in einer Einzelzelle geboren worden: Darin besteht das verborgene Erbe der Theorie des unternehmerischen Selbst. Praktisch besagt dieses Gebot: Kein Markt kann jemals Zwang ausüben.73

Wofür auch immer Freiheit im neoliberalen Pantheon sonst noch stehen mag, als Axiom gilt, dass sie nur »negativ« (im Sinne Isaiah Berlins) sein kann, und zwar aus einem bedeutenden Grund: Sie darf nicht vom Gebrauch des Wissens in der Gesellschaft zum Gebrauch des Wissens über die Gesellschaft erweitert werden, denn jede Reflexion darüber, warum wir eigentlich ein punktuelles, lückenhaftes Wissen passiv hinnehmen sollten, würde zu der Erkenntnis führen, wie Marktsignale bestimmte Formen von Wissen hervorbringen und andere unterdrücken. Jedes Nachdenken über solche Beschränkungen hätte eine Untersuchung der Funktionsweise von Märkten und Metareflexionen unserer Stellung in größeren Ordnungen zur Folge – wozu wir gar nicht befähigt sind, wie Neoliberale warnen. Ein derartiges Wissen würde an umfassenden, institutionellen Fragen rühren und so die Kerndoktrin vom Markt als einem überlegenen Informationsprozessor untergraben. Mit »Freiheit« lässt sich der neoliberale Coup nicht grundsätzlich ablehnen. Widerstand gegen ihr Programm ist zwecklos, erklären die Neoliberalen, denn das ihm zugrunde liegende Verständnis von Freiheit wäre höchst zweifelhaft.

[8] Das Kapital besitzt für Neoliberale ein Naturrecht auf ungehinderten grenzüberschreitenden Verkehr. (Der Arbeit bleibt ein solches Recht verwehrt.)74 Da dies in einer Welt, die nicht aus autarken Volkswirtschaften besteht, beständig Zahlungsbilanzprobleme hervorruft, haben sich Neoliberale federführend an der Entwicklung unterschiedlichster transnationaler Instrumente zur wirtschaftlichen und politischen Disziplinierung von Nationalstaaten beteiligt.75 Versuchten sie während der Auflösung des Systems von Bretton Woods zunächst, durch flexible Wechselkurse und die Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen zu einer reinen Marktdisziplin zurückzukehren, so erkannten sie mit der Zeit, dass internationale Institutionen wie die Welthandelsorganisation, die Weltbank und der IWF – von den richtigen Leuten geführt – besser geeignet sind, widerspenstigen Staaten eine neoliberale Politik aufzuzwingen. Die von frühen Neoliberalen wie Friedman und Mitarbeitern des Cato Institute vehement vertretene Forderung nach der Abschaffung globaler Institutionen nicht nur im Finanzbereich wurde folglich von anderen Neoliberalen wie Anne Krueger, Stanley Fischer und Kenneth Rogoff später abgeschwächt. Als sie selbst in diese Institutionen einzogen, nutzten sie ihren Einfluss auf Personalentscheidungen und politische Programme, um andere, auf weltweite Umstrukturierung zielende Entwürfe zu verdrängen. Die Rolle solcher transnationalen Einrichtungen bestand nunmehr in der Zementierung neoliberaler Programme und der damit verbundenen Einschränkung des politischen Handlungsspielraums nationaler Regierungen; mitunter dienten sie auch der Verdrängung einheimischer Vetternwirtschaft durch einen stärker kosmopolitischen Nepotismus. Dass zwischen Phänomenen wie dem Washington Consensus und der Ausbreitung neoliberaler Hegemonie ein organischer Zusammenhang besteht, wie Dieter Plehwe argumentiert, ist somit richtig.76 Dies betrifft auch das unter Punkt 4 angesprochene Rätsel, wie die Neoliberalen es schaffen, den starken Staat zu begrenzen und gleichzeitig zu verschleiern, dass er fortbesteht.

 

Der Anteil des neoliberalen globalisierten Finanzregimes an der Krise ist für das Denkkollektiv und Personen wie Ben Bernanke, die die Verantwortung für den Crash auf andere abladen wollen, ein heikles Thema. Weil es nicht durch ein entscheidendes Ereignis wie die Konferenz von Bretton Woods entstand, das den Zusammenhang von Theorie und Politik offensichtlich machen würde, sondern sich nach 1980 schrittweise entwickelte, rückt die Beziehung zwischen der neoliberalen Lehre und dem Wachstum von Schatten- und Offshore-Banking erst heute ins öffentliche Interesse. Beweise dafür sind naturgemäß oftmals nicht zugänglich. Der Drang in entwickelten Ländern zu Produktionsverlagerungen, der sich wechselseitig mit der Aushöhlung von Kapitalverkehrskontrollen verstärkte, folgte allerdings eindeutig der neoliberalen Doktrin, die im internationalen Freihandel nur unbegrenzte Vorteile sehen kann, sowie dem neoliberalen Projekt, das Unternehmen vom Hort der Produktionsexpertise zu einem zufälligen Bündel von Vertragsverpflichtungen umzubauen. Die Kombination der Gedanken von MPS-Mitglied Anne Krueger und MPS-Mitglied Ronald Coase brachte eine Kapitalflucht in Länder wie China, Indien und die Cayman Islands hervor. Die Rolle Chinas, das vom neoliberalen globalisierten Finanzsystem profitiert und es zugleich partiell ablehnt, bereitet dabei allen Betroffenen Kopfschmerzen.

Unbehinderte Kapitalströme sind von Neoliberalen gewöhnlich nicht als eine klare Ursache der Krise hervorgehoben worden. Kapitalverkehrskontrollen als Reaktion auf die Krise lehnen sie geschlossen ab.

[9] Neoliberale betrachten wirtschaftliche und politische Ungleichheit nicht als ein bedauerliches Nebenprodukt des Kapitalismus, sondern als notwendige und funktionale Eigenschaft ihres idealen Marktsystems. Ungleichheit gilt ihnen nicht nur als der natürliche Zustand der Marktwirtschaft, sondern auch als einer der stärksten Fortschrittsmotoren. Die Reichen sind folglich keine Parasiten, sondern ein Segen für die Menschheit – die Bevölkerung soll sie beneiden und ihnen nacheifern. Forderungen nach Gleichheit entspringen nur der Missgunst der Verlierer, oder wohlwollender formuliert: Sie sind atavistische Reste eines Gerechtigkeitsverständnisses, das aus dem modernen Denken ausgemerzt werden muss. Wie Hayek schrieb: »Es sollte freimütig zugegeben werden, daß die Marktordnung keinen engen Zusammenhang zwischen subjektivem Verdienst oder individuellen Bedürfnissen und Belohnungen zustande bringt.«77 Diese mangelnde Korrelation von Mühe und Lohn ist einer der Hauptgründe für die (fehlgeleitete) Forderung des gemeinen Volkes nach Gerechtigkeit und für das unter Punkt 5 erörterte Versäumnis demokratischer Systeme, den neoliberalen Staat gutzuheißen. »Soziale Gerechtigkeit« ist blind, weil von der Weisheit des Marktes abgeschnitten. Der weltweit massive Trend zur Einkommens- und Vermögenskonzentration seit den Neunzigerjahren folgt somit dem neoliberalen Drehbuch für einen effizienteren und dynamischeren Kapitalismus.

Auch dieses Gebot betrifft die jüngste Krise: Aus ihm folgt, dass die weithin konstatierte Verschärfung der Einkommensungleichheit in den Vereinigten Staaten seit 1980 unmöglich einen Anteil an der Krise haben kann.78 Für Neoliberale sind im Gegenteil die staatlichen Bemühungen zur Abschwächung dieses Trends, besonders die Förderung von Wohneigentum und Verbraucherkrediten, eine wesentliche Krisenursache.79 Daraus ergibt sich schließlich die bevorzugte neoliberale Erzählung über die Krise, die den US-Demokraten die Schuld gibt, indem sie die Hypothekenverbriefung durch Fannie Mae und Freddie Mac zur Ursache der Immobilienblase erklärt (vgl. Kapitel 5).

[10] Konzerne können nichts Falsches tun, und falls doch, sollte man es ihnen nicht vorwerfen. Dies ist eines der Gebiete, auf denen eine stärkere Abweichung vom klassischen Liberalismus besteht, der von Adam Smith bis Henry Simons ein tiefes Misstrauen gegenüber der Machtkonzentration bei Aktiengesellschaften und Monopolen hegte. Auch die MPS teilte dieses Misstrauen in den Fünfzigerjahren zunächst, wobei insbesondere die Ordoliberalen dem Staat starke kartellrechtliche Kompetenzen zuerkennen wollten. Die Chicagoer Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts entwickelten jedoch die später auch Abhandlungen über Unternehmer und »Innovationsmärkte« zunehmend prägende Argumentation, Monopole erzeugten keine Beeinträchtigung des Marktes, sondern seien nur ein auf das fehlgeleitete Wirken des Staates und mächtiger Interessengruppen zurückzuführendes Epiphänomen.80 Die von Sozialisten im 20. Jahrhundert vertretene Behauptung, der Kapitalismus trage den Keim seiner Verknöcherung (wenn nicht gar Selbstzerstörung) in sich, wurde entschieden zurückgewiesen. Als Neoliberale in den Siebzigerjahren die seltsame Anomalie des amerikanischen Rechts, Unternehmen als Rechtspersonen zu behandeln, zu einem philosophischen Axiom überhöhten, wurden die Antitrust-Gesetze in den Vereinigten Staaten weitgehend zurückgenommen.81 Wenn überhaupt etwas Negatives über das Großunternehmen gesagt wurde, dann dass die Trennung von Eigentum und Leitung ein Problem darstellen könnte – das durch die richtigen »Anreize« für Topmanager (umfangreiche Aktienoptionen, hohe Abfindungen, Entscheidungsfreiheit jenseits jeder Aufsicht) sowie durch marktähnliche Evaluationssysteme in der Unternehmensverwaltung mühelos zu beheben sei.82 Die moderne »Umstrukturierung des Unternehmens« (geringere vertikale Integration, Auslagerung von Versorgungsketten, sagenhafte Entlohnung von Topmanagern) ist somit selbst ein Produkt seiner neoliberalen Neudefinition.

Die entsprechende Literatur hatte insofern einen Einfluss auf die Krise, als sie Argumente gegen die unerhörte Behauptung lieferte, viele Finanzunternehmen seien Too Big to Bail (»Zu groß für eine Rettung«) und versorgten ihr höheres Management mit bedenklich üppigen Vergütungspaketen. Markterfolg spricht für sich, und jede ihn behindernde Macht muss zermalmt werden.

[11] Der – sachgerecht umgestaltete und geförderte – Markt hält stets eine Lösung für Probleme bereit, die er selbst erst hervorgebracht hat: Luftverschmutzung wird durch den Handel mit »Emissionsrechten« bekämpft; »Bildungsgutscheine« helfen gegen ein mangelhaftes öffentliches Bildungswesen; Versteigerungen sichern den Wettbewerb auf dem Markt für Mobilfunkfrequenzen;83 einkommensschwache Kranke ohne Zugang zur Krankenversicherung bekommen Anreize, der Pharmaindustrie als Versuchskaninchen für Arzneimitteltests zu dienen; die Armut in Entwicklungsländern lässt sich durch »Mikrokredite« lindern; Terrorakte entrechteter und entfremdeter Ausländer können durch eine Börse, an der auf zukünftige Anschläge spekuliert wird, genauer vorhergesagt werden.84 Richtig gestaltete Märkte wurden als besseres Verfahren propagiert, um bislang dem Staat zugedachte Aufgaben aller Art zu erledigen – von der Terminplanung in der Raumfahrt bis zur Verkehrslenkung auf Flughäfen und in Nationalparks. Bei der Gestaltung solcher neuen Märkte eröffnete sich eine Verdienstquelle für Ökonomen, die ihre Rolle als bloße Mittelsmänner, die Zwischenschritte auf dem Weg zur vollständigen Privatisierung des jeweiligen Bereichs einführten, selten offenlegten.

Faszinierend daran ist, wie dieser Grundsatz selbst im scheinbar ungünstigsten Moment verfochten wurde – nach dem Versagen der Finanzmärkte in der Weltwirtschaftskrise. Doch man muss sich vergegenwärtigen, dass der Markt im gängigen Hayek’schen Verständnis als überlegener Informationsprozessor gilt und somit jegliches Wissen nur mit Eigentümer und Preis versehen seinen maximalen Nutzen entfalten kann. Damit wurden etliche Vorschläge begründet, die zunächst vollkommen widersinnig scheinen: Einige Neoliberale behaupteten zum Beispiel tatsächlich, wenn Derivate und Verbriefungen Probleme verursachten, dann bestehe die Lösung nicht etwa in ihrer Eindämmung, sondern in umso mehr derartigen »Innovationen«.85 Eine andere Variante des Hayek’schen Credos lautete, niemand könne die Krise besser beheben als eben die Banker und Finanzmanager, die sie überhaupt erst verursacht hatten, schließlich kannten sie sich ohne Zweifel am besten mit ihr aus. Die Drehtür zwischen dem US-Finanzministerium und Goldman Sachs galt als Beweis für das Funktionieren der Marktwirtschaft, nicht für tiefverwurzelte Korruption und Interessenkonflikte.

[12] Im Namen der Befreiung vom Zugriff des Staates führt das neoliberale Programm im Ergebnis zu einer drastischen Ausweitung des Gefängnissystems. In der Mont Pèlerin Society wurde gerne ein geflügeltes Wort von Benjamin Constant zitiert: »Jenseits seiner eigentlichen Sphäre darf der Staat keine, in ihr kann er gar nicht genug Macht haben.« Mehr staatliche Macht in Gestalt der Polizei und eine starke Zunahme der Inhaftiertenzahlen sind mit dem neoliberalen Freiheitsbegriff somit bestens vereinbar. Wie das MPS-Mitglied Richard Posner erklärte: »Die Funktion strafrechtlicher Sanktionen in einer kapitalistischen Marktwirtschaft besteht darin, Menschen an der Umgehung des effizienten Markts zu hindern.«86

Dieses Gebot drückt sich auch im Unwillen zur strafrechtlichen Verfolgung vieler Hauptakteure der Krise aus. Denn im neoliberalen Verständnis existiert eine natürliche Abstufung von Rechtsarten für unterschiedliche Gesetzesbrecher: »das Strafrecht gilt primär für die Armen; die Wohlhabenden werden überwiegend durch das Deliktsrecht zur Ordnung angehalten«.87 Mit anderen Worten: Der wirtschaftliche Wettbewerb zwingt den Reichen eine natürliche Ordnung auf, weil sie viel zu verlieren haben; die Armen müssen durch einen starken Staat in Schach gehalten werden, weil sie wenig zu verlieren haben. Das Schauspiel der polizeilichen Zwangsräumung Tausender Familien, die bei der Hypothekentilgung in Verzug geraten sind, während auf der anderen Seite außer Bernard Madoff und Raj Rajaratnam (bislang) keine hohen Finanzmanager wegen der Krise ins Gefängnis gehen mussten, folgt unmittelbar aus diesem Gebot.

[13] Die Neoliberalen hatten von Anfang an mit der Schwierigkeit zu kämpfen, ihre politisch-ökonomischen Theorien zugleich als Moralkodex zur Geltung zu bringen. Auf den ersten Blick schien das Denkkollektiv vor dem Altar einer unumschränkten Gottheit niederzuknien: der »individuelle[n] Freiheit, die am angemessensten als ein Moralprinzip des politischen Handelns aufgefaßt wird. Wie alle Prinzipien der Moral muß sie als ein Wert an sich genommen werden.« Allerdings bekannte Hayek schon in seiner Ansprache an die erste Versammlung der MPS: »Ich bin der Überzeugung, dass keine Hoffnung auf ein Wiedererstarken liberaler Kräfte besteht, wenn nicht der Bruch zwischen wahrhaft liberalen und religiösen Anschauungen behoben werden kann.« Die Zusammenkunft entsprach seinem Wunsch mit einer Veranstaltung über »Liberalismus und Christentum«, auf der jedoch nur die unter der Oberfläche brodelnden Gegensätze offen hervortraten. Infolgedessen waren die Neoliberalen oftmals unempfänglich für das Transzendente, das sie mit ihren erkenntnistheoretischen Lehren über die Unzulänglichkeit des Menschen vermischten – Hayek meinte, dass wir »jenen unentbehrlichen Rahmen des […] Nicht-rationalen erhalten müssen, das die einzige Umgebung ist, in der die Vernunft sich entwickeln und erfolgreich wirken kann«.88

Klügeren Neoliberalen war bewusst, dass dies vielen ihrer konservativen Verbündeten zu dürftig schien. Wenn auch nur mit gedämpfter Stimme und in internen Publikationen versuchten sie den Neoliberalismus deshalb gelegentlich mit einer bestimmten Religion zu verbinden:

»Alles, was wir sagen können, ist, daß die Werte, die wir haben, das Ergebnis von Freiheit sind, daß insbesondere die christlichen Werte sich in Gestalt von Menschen durchsetzen mußten, die staatlichem Zwang erfolgreich Widerstand leisteten, und daß wir dem Wunsch, nach unseren eigenen moralischen Überzeugungen leben zu können, die modernen Sicherungen individueller Freiheit verdanken. Vielleicht können wir noch hinzufügen, daß nur Gesellschaften, die moralische Werte ähnlich unseren eigenen haben, als freie Gesellschaften überlebt haben, während in anderen die Freiheit untergegangen ist.«89

 

Andere MPS-Mitglieder wie Buchanan meinten, eine bestimmte Art von moralischer Ordnung könne einem neoliberalen Staat zugutekommen und durch moralische Prinzipien ließe sich die kostspielige Rentenökonomie eindämmen, mit der nichtsnutzige Versager ein reibungsloses Funktionieren des Staates behinderten.90 Die geistige Aussöhnung mit der religiösen Rechten und den »Theocons« war überaus mühsam – und erforderte große Vorsicht, denn jedes Kokettieren mit einer bestimmten Glaubensrichtung konnte die (oftmals in anderen Teilen der Welt lebenden) Anhänger anderer Religionen verprellen –, doch obwohl mit Widersprüchen befrachtet, die den Liberalismus seit der Aufklärung verfolgen, wurde das Projekt von der MPS weiterverfolgt.91

Diese dreizehn Gebote definieren in groben Zügen das Programm, zu dem das Neoliberale Denkkollektiv mit der Zeit gelangt ist. Deutlich werden sollte die starke Abweichung vom klassischen Liberalismus wie auch vom libertären Denken. Die einzelnen Gebote werden uns in den folgenden Kapiteln auch als Prüfsteine für unsere Intellectual History der Weltwirtschaftskrise dienen. Doch nach diesem Versuch, im scheinbaren Wirrwarr eine Einheit zu erkennen, sollten wir uns zunächst mit der Gegenthese befassen – dass der Neoliberalismus, was seine grundlegenden Konzepte betrifft, in der realen Praxis auseinanderfällt.