Einführung in die Tierethik

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3.Ethische Grundbegriffe

3.1Deontologische und utilitaristische Ethik

Stellen Sie sich vor, Sie stünden bei einem Spaziergang plötzlich vor einer Weiche. Schnell wird Ihnen klar, dass Sie unvermittelt in eine dramatische Situation geraten sind: Von rechts fährt ein (leerer) Zug mit hoher Geschwindigkeit auf fünf Ihnen völlig unbekannte Gleisarbeiter zu, die sich weiter links von Ihnen befinden. Sofern nichts geschieht, wird der Zug diese fünf Personen erfassen und töten, sie stehen viel zu weit weg, um von Ihnen noch rechtzeitig gewarnt zu werden. Die Weiche aber, vor der Sie stehen, versetzt Sie durch einfaches Umlegen eines Hebels in die Lage, den Zug auf ein Nebengleis umzulenken und die fünf Personen zu verschonen. Unglücklicherweise befindet sich auf diesem Nebengleich ebenfalls eine Ihnen völlig unbekannte Person, die Gleisarbeiten nachgeht. Sie haben nun die Wahl: Entweder legen Sie die Weiche nicht um, dann wird der Zug die fünf Personen erfassen und töten. Oder Sie legen die Weiche um, dann wird der Zug die eine Person auf dem Nebengleis erfassen und töten. Die Frage nun lautet: Was werden Sie tun?

Dieses Gedankenexperiment stammt in seiner Grundidee von der britischen Philosophin PHILIPPA FOOT (vgl. Foot 1967) und nennt sich Trolley-Problem (von engl. trolley, ‚Straßenbahn‘). Dieses Dilemma (ein Dilemma bezeichnet eine Situation, in der zwei Entscheidungswege offen stehen, die beide ein unerwünschtes Resultat zur Folge haben) eröffnet im Kern zwei Handlungsalternativen:

(1) Eine erste Option wäre, ein Eingreifen dadurch zu rechtfertigen, dass diese Handlung mehr Menschen nützt, als würde man die Weiche unberührt lassen. In einem Fall profitieren fünf Menschen von der Handlung, im anderen Fall ‚bloß‘ einer. Der Gesamtnutzen für die fünf Gleisarbeiter – die Rettung ihrer Leben – würde nach dieser Argumentation den Nutzen für den Einzelnen – die Rettung seines Lebens – übersteigen und die Tat moralisch rechtfertigen.

(2) Eine zweite Option wäre, zu behaupten, es sei tatsächlich irrelevant was man tue. Und zwar deshalb, weil jeder ‚gleich zähle‘ und einen unverletzlichen Eigenwert besitze, ein unveräußerliches Recht auf Leben. Und das wiederum bedeutet, dass kein Menschenleben zugunsten anderer Interessen, egal um wie viele andere Menschen es geht, geopfert werden darf. Und ein moralisches Recht legt uns die Pflicht auf, dieses Recht zu respektieren. Doch wenn es nicht möglich ist, Menschenleben zu ‚zählen‘, wie Option (1) es tut, dann ist es egal, was wir tun. Dann gibt es keine bessere und keine schlechtere Handlungsoption, egal wie viele Menschen sich in dem Szenario auf den Gleisen befinden.

Diese Unterscheidung wird noch einmal deutlicher, wenn wir das Szenario erweitern. Dies hat die US-amerikanische Philosophin JUDITH JARVIS THOMSON getan (vgl. Thomson 1976). Es ist als das ‚Dicke-Mann-Problem‘ bekannt und geht in etwa so: Angenommen, Sie stehen auf einer Brücke, die über Gleise führt, eigentlich nur, um den Ausblick zu genießen, und sehen von dort oben das Ihnen bekannte Dilemma mit dem Zug und den fünf Gleisarbeitern, die, sofern kein Wunder geschieht, von dem Zug erfasst und getötet werden. Nun stehen Sie aber nicht allein dort oben, neben Ihnen bemerken Sie einen sehr dicken Mann, der ebenfalls die Überführung zur Aussicht nutzen möchte. Ihnen wird sofort klar: Der Mann wäre dick genug, den Zug zum Entgleisen zu bringen. Sie müssten ihn allerdings von der Brücke stoßen und er würde dabei sterben. Auch hier stellt sich die Frage: Was werden Sie tun?

Diese beiden Szenarien unterscheiden sich in einem sehr bedeutungsschweren Punkt. Sollten wir die Weiche umstellen, dann deswegen, weil wir die fünf Gleisarbeiter retten möchten. Dass der einzelne Gleisarbeiter in der Folge sterben wird, ist weder unsere Absicht noch unser Ziel. Es ist wirklich bedauerlich und unerwünscht, aber unausweichlich, einfach weil es diesen einen Gleisarbeiter auf dem Nebengleis gibt. Kurz gesagt: Wir wären gezwungen, den Tod des einen Gleisarbeiters in Kauf zu nehmen.

Doch der Tod des dicken Mannes ist kein unausweichliches In-Kauf-Nehmen. Sein Tod wird vielmehr gebraucht zur Rettung der fünf Gleisarbeiter. Wenn er den Zug zum Entgleisen bringen soll und dafür mit seinem Leben zu bezahlen hat, dann ist sein Tod kausal notwendig für die Rettung. Oder anders: Der dicke Mann muss erst sterben, damit die fünf Gleisarbeiter gerettet werden können. Der Tod des dicken Mannes wird also nicht lediglich in Kauf genommen, sondern herbeigeführt. Und an einer aktiven Herbeiführung ist nichts Unausweichliches mehr.

Das ‚Trolley‘- und das ‚Fetter-Mann-Problem‘ eignen sich gut, um auf einen fundamentalen Unterschied in der moralischen Begründung von Handlungen aufmerksam zu machen. Der Unterschied besteht in der Frage, ob man den Folgen einer Tat – Option (1) – oder der Tat selbst – Option (2) – mehr Gewicht beimisst.

Eine Ethik, welche sich auf die Bewertung der Tat selbst stützt, nennt man eine deontologische Ethik. Im Begriff Deontologie steckt das griechische Wort δέον(deon), ‚die Pflicht‘, und wird daher auch Pflichtethik genannt. Die Deontologie bezeichnet eine Klasse von ethischen Theorien, die Handlungen unabhängig von ihren Folgen bewerten, weil sie aus sich selbst heraus oder um ihrer selbst willen gut oder schlecht sind.

Entscheidend für die Bewertung dieser Handlungen ist, ob sie einer verpflichtenden Regel entsprechen und ob sie aufgrund dieser Verpflichtung begangen werden. Deontologische Ethiken arbeiten daher für gewöhnlich mit moralischen Ge- und Verboten („Du sollst …“, „Du sollst nicht …“). Wenn Option (2) also das Stoßen des dicken Mannes mit dem Hinweis darauf ablehnt, dies verstoße klar gegen eine moralische Pflicht, nämlich die Pflicht, das Recht auf Leben eines anderen Menschen zu achten, dann steht dahinter ein Verbot, welches das Töten von Menschen grundsätzlich untersagt. Insofern ist es für den Deontologen unerheblich, ob fünf, fünfhundert oder fünf Millionen Menschen auf den Gleisen sterben, der dicke Mann darf nicht getötet werden.

In diesem Zusammenhang wird gern der Kategorische Imperativ des deutschen Philosophen IMMANUEL KANT (1724–1804) herangezogen: Gebrauchet einen anderen Menschen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich (vgl. Kant 1968). Das bedeutet, dass ich bei allen zwischenmenschlichen Handlungen darauf Acht zu geben habe, dass ich einen anderen Menschen nicht nur instrumentalisiere. Ich sage ‚nicht nur‘, weil ich etwa einen Arzt natürlich ‚gebrauche‘, er soll mir ja beispielsweise Schmerzen nehmen. Ich habe ihn aber zugleich um seiner selbst Willen und damit seinen Eigenwert zu achten und darf ihn nicht bloß als Mittel zum Zweck verstehen.

Neben der Pflichtethik gibt es ein zweites großes ethisches Theoriegebäude, jenes des Konsequentialismus. Dieser richtet sich nicht nach einem der Tat innewohnenden Wert aus, sondern nach ihren Konsequenzen. Und wenn mit Blick auf Konsequenzen insbesondere der Nutzen im Fokus steht, spricht man vom Utilitarismus (von lat. utilitas, ‚Nutzen‘). Dieser ist eine Form der Ethik, wonach eine Tat dann moralisch geboten ist, wenn ihre Folgen das größtmögliche Glück (Nutzen, Wohlbefinden) für alle an der Tat Beteiligten herbeiführt. Der Utilitarismus denkt additiv, es ist quasi ein Summenspiel.

Ein Utilitarist müsste, nach unserer bisherigen groben Definition, das Umstellen der Weiche befürworten, da mit dieser Handlung die Zahl der vor dem Tod bewahrten Menschen größer wird. Er müsste mit derselben Begründung allerdings auch das Stoßen des fetten Mannes befürworten, da die Summe der damit vor dem Tod bewahrten Menschen identisch wäre. Der Tod weniger Menschen dürfte also zugunsten der Rettung vieler Menschen in Kauf genommen, unter Umständen (wenn auch nicht immer) sogar herbeigeführt werden.

3.2Positive und negative Pflichten

Ein Deontologe indes kann zumindest nicht ohne weiteres aus dem ‚Weichen-Dilemma‘ ausbrechen. Er sieht sich mit zwei konkurrierenden Pflichten konfrontiert: Auf der einen Seite gibt es positive Pflichten, auch Hilfspflichten genannt. Sie benennen Handlungen, die wir auszuführen haben. Manche Philosophen benennen positive Hilfspflichten als solche, die wir anderen Menschen in Not schuldig sind – wohlbemerkt nur in Not, nicht als pure Wohltätigkeit (vgl. Höffe 2001, 18; Mieth 2012, 120–122). Wenn wir etwa vor uns jemanden in einem See sehen, der zu ertrinken droht, und wir ohne weiteres zur Hilfe fähig sind, dann besagt die positive Pflicht, dass wir diesem Menschen zu helfen haben. Auf der anderen Seite stehen die negativen Pflichten, auch Unterlassungspflichten genannt. Sie benennen Dinge, die wir nicht tun dürfen, also zu unterlassen haben. Das trifft insbesondere auf Schadensvermeidung zu. Ein moralisches Recht auf Unversehrtheit etwa impliziert die negative Pflicht, keinem Leben zu schaden.

Nun sehen wir, dass im ‚Fetter-Mann-Dilemma‘ diese zwei Pflichten kollidieren: Auf der einen Seite steht die positive Pflicht, die Gleisarbeiter zu retten. Auf der anderen Seite steht die negative Pflicht, niemandem zu schaden, folglich auch nicht dem Gleisarbeiter auf dem Nebengleis.

Was also soll jemand tun, der in solcher Art zwischen zwei Pflichten gestellt wird? Hierzu hat die deontologische Ethik einen Lösungsvorschlag entwickelt. Er besteht in dem Versuch, Pflichten zu hierarchisieren. Tatsächlich entspricht es einem gewissen Konsens in weiten Teilen der Ethik, negativen Pflichten vor positiven ein stärkeres Gewicht einzuräumen. Eine mögliche Begründung könnte darin bestehen, dass Handlungen auch von ihrer Zumutbarkeit abhängen. Positive Pflichten sind solche, die uns nicht unter allen Umständen zur Handlung verpflichten – die Pflicht zu helfen etwa kann nur dann von uns eingefordert werden, wenn wir dieser Pflicht auch tatsächlich nachkommen können. Von einem Rollstuhlfahrer zu verlangen, er möge einen Ertrinkenden retten, wäre zu viel verlangt, unabhängig davon, ob er gern helfen möchte.

 

Wenn wir Pflichten aber nach den zugrunde liegenden zumutbaren Bedingungen hierarchisieren, ist es durchaus sinnvoll, von allen Anwesenden zu verlangen, einen Ertrinkenden zu retten. Sollte indes ein Rettungsschwimmer unter den Anwesenden sein, hätte dieser einen Vorrang – genau genommen sogar einen doppelten: Er selbst brächte sich weniger in Gefahr als alle anderen und die Erfolgsaussichten wären um ein Vielfaches höher, als würde jemand anderes zur Rettung ins Wasser springen. Sofern wir also selbst nicht der Rettungsschwimmer sind, wäre unsere negative Pflicht, etwas nicht zu tun (und somit nicht die Rettung zu versuchen), der positiven Pflicht, etwas zu tun (die Rettung selbst zu versuchen), vorgeordnet.

Eine solche Hierarchisierung könnte dem Deontologen im Weichen-Dilemma helfen: Die stärkere negative Pflicht, die Weiche nicht umzustellen und damit niemandem zu schaden, überwiegt die schwächere positive Pflicht, die Weiche umzustellen und damit die fünf Personen zu retten.

Mit diesen Skizzen können wir die Einführung in die zentralen ethischen Grundbegriffe abschließen. Alle weiteren für unseren Zusammenhang wichtigen Begriffe werde ich an entsprechender Stelle vorstellen.

4.Egalitaristische Positionen

4.1Tierrechte

Es gilt, den moralischen Status von Tieren und den Begriff der Tierrechte sorgsam auseinanderzuhalten. Wenn wir nach dem moralischen Status von Tieren fragen, dann wollen wir wissen, ob Tiere für uns überhaupt moralisch von Belang sind bzw. damit einhergehend unsere (wie auch immer geartete) Rücksicht verdienen.

Die Idee eines Tierrechts geht indes weit darüber hinaus. Für gewöhnlich meint der Ruf nach Tierrechten moralische Rechte. Unglücklicherweise bietet die Ethik keinen einheitlichen Begriff des moralischen Rechts an, was zur Folge hat, dass verschiedene Tierrechtstheorien durchaus Verschiedenes einfordern. Das ist zwar umständlich, aber nicht dramatisch, zumal ein durchaus stabiler Kreis an Überschneidungen sichtbar werden wird. Es verlangt von uns allerdings eine aufmerksame Lektüre dieser Theorien inklusive ihrer Begriffsdefinitionen.

4.1.1Moralische Rechte

Die Grundidee moralischer Rechte kommt sicher idealtypisch in den allgemeinen Menschenrechten zum Ausdruck. Menschenrechte sind universelle Rechte, die jedem Menschen individuell zukommen, und zwar allein dadurch, dass er ein Mensch ist (vgl. Koenig 2005). Man könnte sagen, diese Rechte sind angeboren (vgl. Fritzsche 2009). Sie werden als vorstaatlich (keine staatlichen Einschränkungen möglich), egalitär (jeder hat dieselben Menschenrechte) und eben auch und ausdrücklich als moralisch verstanden (vgl. Fritzsche 2009, 18).

Es gibt eine ganze Reihe von (offiziellen) Menschenrechten, das höchste und fundamentalste aber ist das Recht auf Leben, was vermutlich auch unserer Intuition entspricht. Demnach ist jeder Mensch, qua Menschsein, von der Wiege bis zur Bahre Träger moralischer Rechte, allen voran dem Recht auf Leben. Zwar kann man explizit moralische Rechte nicht einklagen, man kann sie aber einfordern.

Die erste Schwierigkeit springt uns schon an diesem frühen Punkt förmlich an und soll zunächst nur skizziert werden (neben der Frage, ab wann genau dieses Recht eigentlich wirken soll, einer Frage, die den Diskursen etwa über vorgeburtliche Selektion oder den Schwangerschaftsabbruch zugrunde liegt). Die Idee unveräußerlicher, völlig egalitärer, universeller Rechte setzt einen ebenso unveräußerlichen und egalitären menschlichen Eigenwert voraus. Ich weise so dezidiert auf diesen Umstand hin, weil nicht alle Ethiktheorien mit der aus der Deontologie stammenden Idee eines Eigenwertes etwas anfangen können.

Eine der häufigsten Auffassungen von moralischen Rechten wird gerne mit einem bildlichen Vergleich des US-amerikanischen Philosophen RONALD DWORKIN (1931–2013) illustriert. Er schlug vor, sich moralische Rechte als eine Trumpfkarte vorzustellen (vgl. Dworkin 1984, 433). Was auch immer für Anliegen, Wünsche oder Interessen andere Menschen vorbringen, sobald es meine moralischen Rechte bedroht, dient mir dieser Trumpf als Schutz. Damit wird der Möglichkeit, zum Nutzen einzelner oder der Allgemeinheit geopfert zu werden, das Wasser abgegraben.

Ein moralisches Recht sagt nach diesem Verständnis aus: ‚Bis hierhin und nicht weiter.‘ Dem US-amerikanischen Philosophen JOEL FEINBERG (1926–2004) zufolge ist ein moralisches Recht ein solches, das nicht das Ergebnis einer Gesetzgebung oder einer sozialen Übereinkunft darstellt, sondern eines, das selbst bei einer dem moralischen Recht zuwiderlaufenden Gesetzgebung oder Übereinkunft fortbesteht und das die unverrückbare Grenze vorschreibt (die ‚Bis-hierher-und-nicht-weiter‘-Grenze), die weder von Einzelpersonen noch von Kollektiven bei der Verfolgung ihrer Ziele überschritten werden darf (vgl. Feinberg 1992, 197–219).

Es herrscht in der Ethik ein weitgehender Konsens, darüber, dass sich aus Rechten ihnen unmittelbar korrespondierende Pflichten ergeben (vgl. Frey 1980; Benton 2014; Birnbacher 2007). Wenn ich das Recht auf Leben genieße, dann hat jeder andere Mensch automatisch die Pflicht, dieses Recht zu respektieren und es nicht zu verletzen (und umgekehrt). Diese Auffassung moralischer Rechte genießt eine intuitive Plausibilität: Denn was wäre etwa ein moralisches Recht auf Leben schon wert, wenn meine Mitmenschen nicht an die Achtung dieses Rechtes gebunden wären (wie wir noch sehen werden trifft diese Plausibilität allerdings nur auf moralisch handelnde Wesen zu)?

Wenn wir dieser offenkundig notwendigen Korrespondenz von moralischem Recht und moralischer Pflicht zustimmen, gilt es, vier wichtige Aspekte zu berücksichtigen.

(1) Zunächst einmal wäre die Frage nach dem Rechtsinhalt zu klären, also die Frage, was genau moralische Rechte eigentlich alles umfassen. Hier gibt es fraglos einige Zweifelsfälle, einig ist man sich aber recht flächendeckend darin, dass diese Rechte in jedem Fall das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit umfassen. Das soll uns hier auch genügen, da sich die meisten entsprechenden Tierrechtsargumentationen auf diese Rechte beziehen.

(2) Der zweite Aspekt hängt unmittelbar vom ersten ab, da stets die Gruppe der Rechtsträger mitbestimmt werden muss. Gelten solche Rechte (oder gar nur eines von ihnen) für alle Lebewesen? Oder nur für empfindungsfähige Wesen, wohl gar nur für Säugetiere? Oder nur für Menschen, vielleicht noch für bestimmte Primaten? Und welche Kriterien müssen erfüllt sein, um an diesen Rechten partizipieren zu können? Trifft dies auf alle Lebewesen zu, oder womöglich nur auf rationale Wesen, die ihre Rechte auch verstehen und einfordern können? Oder kommen als moralische Rechtsträger nur solche Wesen sinnvollerweise in Betracht, die ihre Rechte (und die aller anderen) nicht nur verstehen, sondern sich auch gemäß solcher Rechte verhalten können? Doch wie steht es dann mit Embryonen, Neugeborenen, Komapatienten oder schwer Dementen, die zu beidem nicht (noch nicht oder nicht mehr) fähig sind? Kurz: Brauchen Lebewesen bestimmte Befähigungen, um ein Recht auf Leben zu genießen?

(3) Der dritte Aspekt betrifft nun die Rechtsadressaten, also jene Akteure, denen gegenüber moralische Rechte geltend gemacht und denen entsprechend korrelierende Pflichten zugeschrieben werden. Bei diesen Pflichten kommt nun die uns bereits bekannte Unterscheidung zum Tragen: Zum einen die negative Pflicht (oder Unterlassungspflicht), jemand anderem nicht zu schaden und seine Rechte nicht zu verletzen. Die Ethik spricht hier von Freiheits- oder Abwehrrechten auf Seiten des Rechtsträgers. Zum anderen die positive Pflicht (oder Handlungspflicht), jemandem aktiv zu helfen und dessen Rechte zu befördern oder zu verteidigen. Hier spricht die Ethik von Anspruchsrechten auf Seiten der Rechtsträger.

Wir sehen, in welche Lage wir kämen, würden wir als Korrespondent moralischer Rechte vorrangig die positiven Pflichten verstehen: In jeder Sekunde wird millionenfach moralisches Recht auf dieser Welt verletzt. Es wäre absurd, von uns zu verlangen, allen diesen Menschen zu helfen, ihre Rechte einzufordern. Ja, viele Menschen können ihre moralischen Rechte gar nicht einfordern. Diese Menschen sind fraglos auf ‚Anwälte‘ ihrer Rechte angewiesen, es wäre aber dennoch zu viel von uns verlangt (sofern denn überhaupt möglich), würden wir unser Leben auch nur ansatzweise dieser Aufgabe widmen.

(4) Der vierte Aspekt schließlich betrifft das Verhältnis von moralischem Status zu moralischem Recht. Es scheint offenkundig zu sein, dass letzteres ohne ersteres nicht zu haben ist. Aber folgt letzteres auch notwendig aus ersterem? Viele Ethiker*innen sind der Ansicht, dass tierliche Belange zwar moralisches Gewicht haben (können), dass sich daraus aber keinerlei Rechte ableiten lassen und somit auch keine direkten Pflichten gegenüber einem Tier (maximal indirekte Pflichten gegenüber dem Tierbesitzer). Auch eine solche Position muss, wie die drei vorherigen, im Rahmen einer Argumentation zu Tierrechten sorgfältig begründet werden.

4.1.2Formen des Egalitarismus

Für gewöhnlich werden die egalitaristischen Positionen in einen starken und einen schwachen Egalitarismus unterschieden. Diese Differenzierung scheint mir aber begrifflich etwas zu grob zu sein, weswegen ich es mir gestatte, diese beiden Positionen um zwei weitere zu ergänzen. Die erste Ergänzung wird zwischen den schwachen und den starken Egalitarismus eingezogen und in der Folge erweiterter Egalitarismus genannt. Die zweite Ergänzung nenne ich den absoluten Egalitarismus, womit ich die über moralische Rechte hinausgehende Forderung nach politischen Rechten meine.

Während der schwache Egalitarismus zwar gleiche moralische Rücksichtnahme auf alle leidensfähigen Lebewesen fordert, geht damit aber nicht notwendig auch ein Recht auf Leben einher. Interessensabwägungen können auf Basis verschiedener weiterer Eigenschaften (Selbstbewusstsein, Zukunftsvorstellungen etc.) oder aufgrund gradueller Unterschiede der Leidensfähigkeit erfolgen, weshalb die stärkere Gewichtung menschlicher Interessen gegenüber manchen tierlichen durchaus gerechtfertigt ist – und so auch die Tötung eines Tieres rechtfertigen kann. Eine solche Position vertritt der Utilitarist PETER SINGER. Für den schwachen Egalitarismus in SINGERS Sinn kann im Rahmen einer Güterabwägung im Konfliktfall ein einzelnes Individuum zugunsten einer Gruppe bzw. eines höherrangingen Wohls geopfert werden. Wenn schwache Egalitaristen daher von ‚Rechten‘ sprechen, dann tun sie das eher im Sinne eines ‚Rechts auf gleiche Rücksichtnahme der Interessen‘ oder gebrauchen den Begriff lediglich als öffentliches Schlagwort.

Der erweiterte Egalitarismus hebt sich nun in einer entscheidenden Weise vom schwachen ab. Ich denke hier an die Ethikerinnen URSULA WOLF und MARTHA NUSSBAUM. Beide sprechen sich zwar für ein deutlich stärkeres moralisches Lebensrecht aus, tun dies auch mit Nachdruck und zielen, auch unter Zuhilfenahme klarer negativer (und einiger positiver) Pflichten gegenüber den Tieren, auf umfangreiche Veränderungen in unseren Mensch-Tier-Beziehungen ab. Sie sehen aber ebenfalls bestimmte Möglichkeiten der Tötung von Tieren zur menschlichen Nutzung, sofern die Bedingungen das Wohlbefinden möglichst wenig einschränken, die durchaus komplexen Fähigkeiten der Tiere in ihrer Entfaltung Berücksichtigung finden und die Tötung kurz und schmerzlos geschieht. Mit anderen Worten: Es gibt zwar ein Recht auf Leben, das über das bloße Recht auf moralische Rücksichtnahme hinausgeht, dieses Recht aber bleibt prinzipiell verletzlich.

 

Der starke Egalitarismus schließlich fordert nicht nur eine gleiche moralische Berücksichtigung der Interessen leidensfähiger Lebewesen, sondern auch ein unverletzliches gleiches Recht auf Leben, was bedeutet, dass es eine Gruppe von Lebewesen gibt, deren Leben außerhalb tragischer Notsituationen (wie etwa Notwehr) nicht zugunsten der Interessen anderer Lebewesen geopfert werden und niemals Mittel zum Zweck sein darf. Tierrechte funktionieren in diesem Licht analog zu Menschenrechten, die genau diesen unverletzlicher Lebensschutz für Menschen formulieren. Wenn Tiere wie Menschen in diesem Sinn moralische Rechte besitzen, dann ist eine an Eigenschaften orientierte Interessensabwägung zwischen menschlichen und tierlichen Interessen nicht mehr zulässig. Zwischen dem Leidzufügen und dem Töten eines Tieres sieht der starke Egalitarismus somit keinen moralisch relevanten Unterschied mehr. Empfindungsfähigkeit wird hier also weitaus umfassender verstanden als im schwachen oder erweiterten Egalitarismus.

Wie radikal sich der starke Egalitarismus darstellt, variiert. Er muss nicht allen empfindungsfähigen Lebewesen ein solches Recht zuerkennen. Er kann sich durchaus auf empfindungsfähige Lebewesen begrenzen, von denen noch zusätzlich bestimmte Fähigkeiten verlangt werden (etwa rudimentäre Formen des Selbst- oder Zeitbewusstseins). Es wäre für den starken Egalitaristen dann aber immer noch irrelevant, wer sich in dieser Gruppe befindet, der Grundsatz wäre derselbe: Gleiches Recht für alle.

Einen starken Egalitarismus vertreten – in verschieden radikaler Form – etwa TOM REGAN, CAROL J. ADAMS, GARY L. FRANCIONE, MARK ROWLANDS und ALASDAIR COCHRANE. Oftmals (aber nicht notgedrungen) geht mit dieser Position auch die abolitionistische Forderung nach Abschaffung jeglicher Besitzansprüche auf Tiere einher (→ Kap. 2.2.2, S. 30).

Ein absoluter Egalitarismus basiert zwar auf der Anerkennung universeller moralischer Rechte für empfindungsfähige Lebewesen, möchte aber weder an dieser Stelle stehenbleiben noch sich mit der sich evtl. anschließenden Forderung nach Abschaffung jeglichen Besitzanspruchs auf Tiere zufrieden geben. Der absolute Egalitarismus erkennt in der Zuerkennung unverletzlicher moralischer Rechte vielmehr die Notwendigkeit an, diesen Tieren darüber hinaus auch einen politischen Status innerhalb und außerhalb menschlicher Gemeinschaften zuzuweisen, mit welchem über die universellen moralischen Rechte hinaus noch jeweils spezifische Rechte und Pflichten einhergehen. Damit stellt sich der absolute Egalitarismus als starke kommunitaristische Tierrechtstheorie dar, leitet also Rechte und Pflichten aus verschiedenen Mensch-Tier-Beziehungen ab.

4.2Schwacher Egalitarismus

4.2.1Der präferenzutilitaristische Ansatz: PETER SINGER

Der australische Philosoph PETER SINGER gehört sicherlich zu den bekanntesten und umstrittensten Denkern der Gegenwart. Verantwortlich hierfür ist sein ethisches Konzept, der sog. Präferenzutilitarismus, den er in zahlreichen Publikationen seit den 1970er Jahren entwickelt hat. Mit ihm nimmt SINGER Stellung zu zentralen Fragen, die direkt oder indirekt mit dem Leidzufügen und Töten von Lebewesen zu tun haben, etwa zum Schwangerschaftsabbruch, zur Euthanasie und eben auch zu unserem Umgang mit Tieren.

SINGERS Ethik ist mit den Jahren derart heftigen Angriffen ausgesetzt gewesen, dass es neben den akademischen Auseinandersetzungen zahlreiche außerakademische Proteste gab, die insbesondere in Deutschland so heftig ausfielen, dass in die zweite deutschsprachige Auflage seines vermutlich wichtigsten Buches, der Praktischen Ethik, ein eigenes Kapitel mit dem Titel Wie man in Deutschland mundtot gemacht wird eingefügt wurde. Bis heute ist das Arbeiten mit SINGERS Texten von gewissen Spannungen begleitet, und zwar einfach deswegen, weil seine Thesen Konsequenzen gestatten, die in ihrer Radikalität, milde ausgedrückt, gewöhnungsbedürftig sein können. Das macht diese Konsequenzen natürlich weder unplausibel noch falsch. Vermutlich gibt es nicht viele Philosophen, die in der Öffentlichkeit derart häufig mit aus dem Kontext gerissenen oder sachlich nicht korrekten Vorwürfen konfrontiert wurden wie SINGER. Das macht seine Thesen umgekehrt allerdings weder plausibel noch richtig.

Wir dürfen PETER SINGER sicher als den philosophischen Gründungsvater der modernen Tierbefreiungsbewegung ansehen, zumindest als denjenigen, der das Thema am wirksamsten auf die öffentliche Agenda zu setzen vermochte. Sofern mir der Begriff des ‚Gründungsvaters‘ gestattet ist, stellt sein Buch Animal Liberation (erstmals 1975 veröffentlicht und in deutscher Übersetzung mit dem Untertitel Befreiung der Tiere versehen) das ‚Gründungsdokument‘ dar, die ‚Bibel der Tierbefreiungsbewegung‘ (vgl. Magel 1988, 103).

In Animal Liberation entfaltet SINGER erstmals seine Tierethik, stellt allerdings weniger das eigentliche Kernargument ins Zentrum, sondern eine detaillierte und beeindruckend recherchierte Menge an Belegen für das Unrecht, das Menschen Tieren antun, indem sie diese zu Nahrungszwecken und Versuchen missbrauchen. Ihre eigentliche systematische Gestalt bekommt SINGERS Tierethik in seinem moralphilosophischen Hauptwerk, der Praktischen Ethik, die 1979 in erster, 1993 in einer überarbeiteten zweiten und seit 2011 in einer erneut erweiterten dritten Auflage vorliegt. Diese leichte Dissonanz begründet sich aus dem Umstand, dass Animal Liberation, im Gegensatz zur Praktischen Ethik, dezidiert nicht für ein philosophisches Fachpublikum geschrieben wurde (vgl. AL 15). Ich werde mich in der Folge an diesen beiden Hauptwerken orientieren und die in ihnen enthaltenen Gedanken zur Tierethik bzw. zum Präferenzutilitarismus mehr oder weniger symbiotisch zur Darstellung bringen. Auf relevante Unterschiede zwischen den Werken wird an entsprechender Stelle hingewiesen.

Präferenzutilitarismus

SINGERS Auffassung von Ethik besagt, kurz gesprochen: Sie muss begründbar, universell gültig und utilitaristisch sein (PE 35–37). Ohne diese Basisannahmen müsse eine Moraltheorie scheitern. Als universelle Ethik erscheint SINGER aber nur der (Präferenz-)Utilitarismus. Wer die Idee einer universalen Ethik zu akzeptieren bereit ist, teile damit auch die Annahme, dass den Bedürfnisse, Wünsche und Interessen – SINGER spricht zusammenfassend von Präferenzen – anderer Personen genauso viel moralisches Gewicht beigemessen wird wie den eigenen. Die Abwägung, die nun im Falle einer Handlungsentscheidung vorzunehmen ist, ist die zwischen meinen Präferenzen und denen aller anderen von meiner Entscheidung betroffenen Personen, denn ihre und meine Präferenzen verdienen gleiche Berücksichtigung.

Es ist also derjenige Handlungsverlauf zu finden, „von dem es am wahrscheinlichsten ist, dass er die Präferenzen der Betroffenen weitestgehend befriedigt“ (PE 40) – um welche Präferenzen genau es sich bei den Betroffenen handelt, bleibt freilich je nach Situation neu herauszufinden, aber grundsätzlich heißt das: Es geht um die für alle Betroffenen besten Konsequenzen – damit ist die Kernidee des Utilitarismus skizziert: „Die utilitaristische Position ist eine minimale, eine erste Grundlage, zu der wir gelangen, indem wir den vom Eigeninteresse geleiteten Entscheidungsprozess universalisieren“ (PE 43). Und da es SINGER darum geht die Präferenzen der Betroffenen zu fördern, ist diese Form des Utilitarismus als Präferenzutilitarismus bekannt.

Präferenzen

Bereits an dieser frühen Stelle sollten wir uns allerdings die Frage stellen, was präzise SINGER eigentlich unter Präferenzen versteht. Wir werden später sehen, wie dringlich diese Frage ist. Bisher äußert er sich recht intuitiv, indem er schlicht „Bedürfnisse, Wünsche und Interessen“ (PE 39) als Präferenzen zusammenfasst. Dies sind für ihn etwa „die Vermeidung von Schmerz“, die „Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Nahrung und Behausung“, der „Genuss freundschaftlicher Beziehungen mit anderen“ und die „Freiheit, eigene Pläne zu verfolgen, ohne dass man unnötigerweise von anderen gestört wird“ (PE 54)2, wobei das Interesse, nicht zu leiden, unter allen Präferenzen offenbar die stärkste ist (AL 36). Wie stark er hier auf das intuitive Verständnis seiner Leser hofft, und wie allgemein er den Begriff der Präferenz somit offenbar verstanden wissen möchte, zeigt sich in der Bemerkung: „Wir alle wissen, was Präferenzen sind“ (PE 44).