Alpsegen

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3

«Selmeli, was für eine Freude!», schrie der Kerl im breitesten Berner Dialekt ins Telefon. «Mein Mäuschen! Oder Myysli, wie man bei euch in Basel sagt. Wie geht es dir?»

«Jonas! Schön von dir zu hören, wie immer laut und deutlich. Warte bitte kurz.» Selma schaute nach rechts und links, überquerte den Fussgängerstreifen und ging zur kleinen Plattform oben an der Treppe, die zu den Rheinschiffen hinunterführte. «Voilà, da bin ich. Wie geht es dir?»

«Ach, Selmeli, wie soll es einem alten, verbrauchten Kerl schon gehen? Meine Zeit ist vorbei. Mir fehlt eine Muse, ein Mäuschen! Eines wie du.»

«Lass gut sein, Jonas. Erstens bist du nicht alt, zweitens bin ich nicht jung, drittens bin ich kein Mäuschen und viertens heisse ich Selma.»

«Selmeli, Kleines …»

«Und klein bin ich auch nicht.»

«Du weisst, dass ich auf grosse Frauen stehe. Ha! Wir wären ein grossartiges Paar, Selmeli. Entschuldige, Selma natürlich, Madame Selma Legrand-Hedlund, alte schwedische Königsdynastie, veredelt mit französischem Adel und im noblen Basler Daig sess- und fresshaft geworden.» Jonas Haberer lachte. Er lachte so laut und unangenehm, dass Selma ihr Handy vom Ohr nehmen musste. Einige Passanten schauten irritiert zu ihr, lächelten dann aber. Selma lächelte verlegen zurück. «Wie geht es der Frau Mama?», wollte Jonas Haberer wissen, nachdem er sich beruhigt hatte.

«Danke der Nachfrage, alles bestens.»

«Sie nennt dich ja auch Selmeli.»

«Jonas, was kann …»

«Grüsse deine Mama ganz lieb. Eine wirklich entzückende Dame. Und so attraktiv.»

«Ich werde es ausrichten. Was kann ich für dich tun?»

«Ja, du hast recht, Selmeli, lassen wir den Quatsch mit den Nettigkeiten. Ich habe Arbeit für dich.»

«Lass hören.»

«Keine grosse Sache, bringt aber ordentlich Kohle. Und dir wird der Job Spass machen.»

«Ich steige weder in die Gosse, noch mache ich eine Recherche im Milieu. Diese Zeiten sind vorbei.»

«Das waren aber schöne Zeiten. Nein, Selmeli. Die Gesellschaft ‹Service Versicherungen› will für ihr Kundenmagazin eine Reportage über ein Schweizer Alpwirtschaft. Berner Oberland. Romantik. Alles gut. Alles schön. Tolle Fotos, himmelblau, einige Filme dazu, Clips – Bewegtbilder, wie man das heute nennt. Bewegtbilder, was für ein dämlicher Ausdruck!» Wieder prustete Jonas Haberer los, diesmal aber nur kurz. «Eben. Bewegtbilder. Und natürlich einen literarisch-geschwollenen Schönwettertext, wie nur du ihn schreiben kannst, Kleines.»

«Klingt gut.»

«Ha! Der alte Haberer wusste, dass dir das gefällt. Vielleicht verkaufe ich die Reportage später noch einem deutschen Hochglanzmagazin. Landluft, Landmist und wie diese Heftli alle heissen. Sennen sind hipp, das Alpleben liegt im Trend. Wird toll! Bist du dabei?»

Vor ihrem fotografischen Auge stellte sich Selma bereits die schönen Bilder vor, die sie machen würde. Also sagte sie zu.

«Wunderbar. Nächste Woche geht es los. Wenn das Wetter mitspielt. Du musst nichts machen. Der alte Haberer hat das Konzept bereits zusammengeschustert und wird es dir übergeben, wenn du mit dem Zug von Basel ins Berner Oberland tuckerst. Ich nehme an, du weigerst dich noch immer, mit dem Auto zu fahren, du grüne Gutmenschin.»

«Du kannst mir das Konzept auch mailen.»

«Papperlapapp! Ich bin nicht so digital, ich mag nicht immer e-mailen.» Er sprach das Wort absichtlich deutsch aus: e-mailen. «Der persönliche Austausch ist mir halt noch wichtig. Alte Schule, mein Mäuschen.»

Obwohl sie nicht wirklich begeistert war, sagte Selma zu. Schliesslich war Jonas Haberer ihr Auftraggeber. Und zudem war er es gewesen, bei dem sie das journalistische Handwerk gelernt hatte.

Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie nach dem Fotostudium an einer Akademie in Vevey am Genfersee auf dem Boden der Realität gelandet war. Da Werbung nicht ihr Ding war, wagte sie den Schritt in den Journalismus und träumte davon, eine weltbekannte Fotoreporterin zu werden. Auch wenn es nicht die ganz grosse Karriere wurde – Selma konnte sich in der Landschafts- und Porträtfotografie einen Namen schaffen. Und da sie dank Haberer und seinem damaligen Team auch eine gute Texterin und Rechercheurin geworden war, hatte sie heute den Vorteil, grosse Reportagen aus einem Guss abzuliefern.

«Schickst du mir wenigstens die Koordinaten per Mail, Jonas?», fragte Selma schliesslich. «Damit ich weiss, wann ich wo sein muss. Und ich mich auch noch ein wenig vorbereiten kann.»

«Geht klar, Selmeli. Geht klar, pass auf …» Haberer schien plötzlich abgelenkt zu sein, «… ich muss. Bonne journée.» Weg war er.

«Einen schönen Tag», wünschte auch Selma, obwohl die Verbindung bereits unterbrochen war. Typisch Haberer, sagte sich Selma, wenn er hat, was er will, ist man nicht mehr wichtig. Sie lächelte und liess den Blick über die Mittlere Brücke schweifen.

«Jonas Haberer, der Kotzbrocken», murmelte sie und musste lachen. So hatten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen damals bei der Gratiszeitung «Aktuell» ihren Chef heimlich genannt: «Kotzbrocken Haberer.»

Selma ging zurück in die Confiserie. Marcel war aber bereits gegangen und bezahlt hatte er auch. Vielleicht musste er ja zu seiner zweiten Schicht. Also versuchte sie ihr Glück an der Eisengasse, der Bushaltestelle an der Schifflände. Und tatsächlich: Marcel richtete sich gerade im Cockpit eines Busses der Linie 33 ein.

«Excusez», sagte Selma, «hat etwas länger gedauert. Danke für den Kaffee.»

«Wenn dein Berner Schreihals Haberer anruft, geht es immer etwas länger. Kommst du mit?»

«Klar, eine Station, zum Totentanz.»

Marcel fuhr los und musste sich vorsichtig einen Weg durch die vielen Radfahrer erkämpfen. «Die Haltestelle beim Totentanz heisst übrigens Universitätsspital», korrigierte er Selma kurz darauf. «Aber du hast recht, früher war es tatsächlich die Haltestelle Totentanz.»

Selma erinnerte sich gerade an ihr erstes Zusammentreffen mit Marcel. Es lag schon gut zwei Jahre zurück, Selma hatte von der Schifflände zum Marktplatz mit ihrer schweren Fototasche einen 100-Meter-Sprint zurückgelegt, um das 8er-Tram zum Bahnhof noch zu erreichen, das an der Schifflände gerade losgefahren war. Sie war damals in eleganten Lackpumps mit ziemlich hohen Hacken unterwegs, weil sie im Kultur- und Kongresszentrum in Luzern an einer Musikgala die Solisten porträtieren musste. Am Marktplatz hatte der «8er» dann auf sie gewartet. Und Selma war nach vorne zum Fahrer gegangen und hatte sich bedankt. Der Fahrer war Marcel. Er hatte zu ihr gesagt, dass ihre Leistung, in High-Heels zu rennen, zwar beeindruckend, ihrer Gesundheit aber wenig förderlich sei. Klugscheisser!, hatte Selma gedacht. Doch bei der zweiten und dritten zufälligen Begegnung in einem Tram oder Bus hatte sich Marcel als durchaus charmant erwiesen. Und erst recht, als sie sich ebenso zufällig in der Confiserie Seeberger getroffen und das erste Mal einen Kaffee zusammen getrunken hatten.

«Für mich ist die Haltestelle Universitätsspital immer noch der Totentanz», sagte Selma jetzt. «Ist mir schleierhaft, warum man diese Haltestelle umgetauft hat. Schliesslich ist und bleibt das der Totentanz.»

«Ja, aber beim Totentanz liegt halt auch das Universitätsspital. Und ganz ehrlich, Selma: Möchtest du in ein Spital einrücken, dessen Bushaltestelle Totentanz heisst?»

«Du philosophischer Psychologe», foppte ihn Selma.

Marcel stoppte und öffnete die Türen: «Hast du von Haberer einen neuen Fall erhalten?»

Selma lächelte nur.

«Okay, wann geht’s los?»

«Bald. Ich melde mich.» Selma stieg aus und warf Marcel wie immer eine Kusshand mit den immer gleichen Worten zu: «Pass auf dich auf, mein Liebster.»

«Pass auf dich auf, meine Liebste.»

Selma ging durch den kleinen Park zu ihrem Haus am Totentanz und betrat Leas Coiffeursalon.

«Kannst du etwas machen?», fragte sie ihre Freundin und zupfte an ihren Haaren herum.

«Der Anlass?»

«Fotoreportage auf einer Alp.»

«Hm? Kurzhaarfrisur?»

Selma zog entsetzt die Luft ein.

«Na, dann kürze ich hinten und auf der Seite ein bisschen, so dass du einen schönen Schnitt hast, die Haare aber gut zusammenbinden oder hochstecken kannst. Falls du Kühe melken musst.»

«Kühe melken?»

«Das macht man doch auf einer Alp. Und käsen.»

«Ich fotografiere aber.» Noch einmal fuhr sie mit ihren Händen durch die langen Haare. «Also gut. Schneiden. Aber nicht zu kurz.»

«Keine Angst. Wie immer. Aber du musst noch ein bisschen warten. Habe gerade eine andere Kundin. Geniess in der Zwischenzeit die Kopfmassage.»

Eine Auszubildende wusch Selma die Haare und massierte gekonnt Selmas Kopf. Die Reporterin schloss die Augen und dachte an die wunderschöne Bergwelt und freute sich immer mehr über den Auftrag.

Ihr vibrierendes Handy holte sie in die Realität zurück. Nach dem die Auszubildende ihre Behandlung beendet hatte, warf Selma einen Blick auf ihr Smartphone. Haberer hatte ihr tatsächlich das Mail geschickt.

Die Alpwirtschaft, die sie besuchen sollte, lag bei Gstaad, oberhalb des Lauenensees. Selma spürte, wie ihr Puls schneller wurde.

Haberer hatte auch den Namen der Bauernfamilie geschickt.

Selma bekam Herzrasen.

4

Die Reporterin wuchtete den schweren Rucksack auf die Ablage des Zugabteils und liess sich in den Sitz plumpsen. Aus ihrem zweiten kleinen Rucksack, den sie als Handtasche verwendete, kramte sie das Handy hervor und wollte es gerade einschalten. Im noch dunklen Bildschirm erkannte sie aber ihr Spiegelbild und konnte nicht anders, als einmal mehr ihre Frisur zu überprüfen. Um sich besser zu sehen, schaltete sie das Smartphone ein, wählte in der Foto-App den Selfie-Modus und sah sich nun auf dem Display wie in einem Spiegel. Nein, sie konnte sich mit ihrer Frisur einfach nicht anfreunden. Lea hatte in den vergangenen Tagen noch drei Mal Hand anlegen müssen. Das letzte Mal kurz vor der Abreise. Die Coiffeuse hatte sie ausdrücklich davor gewarnt, dass ihre Haare irgendwann zu kurz sein könnten.

 

Nun war es definitiv so weit. Die Haare waren zwar noch knapp schulterlang, aber für Selma definitiv zu kurz.

Sie versuchte es zuerst mit einem Haargummi, dann mit einer Klammer, mit einem Haarreif, schliesslich mit der Sonnenbrille, die sie sich ins Haar steckte – sie fand alles doof. Also schüttelte sie ihre Haare und klickte auf dem Handy die Foto-App weg. Sie wollte sich nicht mehr sehen.

Der Zug fuhr an. Selma legte das Smartphone zur Seite und schaute zum Fenster hinaus. Was für ein schöner Sommertag! Mit der vorbeiziehenden Landschaft flogen Selmas Gedanken davon. Zurück in ihre Jugend. In das Chalet im Saanenland, das ihre Familie so oft im Sommer oder im Winter gemietet hatte. Sie erinnerte sich an all die Wanderungen, die ihr damals so endlos lange und mühsam vorgekommen waren. An ihren Vater Dominic-Michel, den leidenschaftlichen Berggänger, der die Familie angetrieben und stets das Tempo vorgegeben hatte.

Selma musste lachen. Sie sah vor ihrem inneren Auge gerade das verbissene Gesicht ihrer Mutter, wie sie wortlos hinterherkraxelte.

Dann gab es diese Bauernfamilie in der Nachbarschaft. Der mürrische Vater und die lebenslustige Mutter mit den schönen, langen, goldschimmernden Haaren. Und die beiden Buben, die Elin so blöd fand. Fand sie sie wirklich blöd? Ach, Elin war doch einfach noch zu jung. Selma dagegen …

Die Kohlers. So hiessen sie. Was ist aus ihnen geworden?, fragte sich Selma. Sie hatte im Internet gesucht, aber nichts gefunden. Waren es wohl dieselben Kohlers, die sie jetzt besuchen würde? Würde sie ihn tatsächlich wiedersehen, den älteren der beiden Brüder?

Ihr Herz klopfte sofort wieder schneller. Nervös drehte sie an dem silbernen geflochtenen Ring an ihrer rechten Hand.

Im Bahnhof Bern marschierte Selma zum Treffpunkt und schaute sich nach Jonas Haberer um. Es erstaunte sie nicht, dass er noch nicht da war. Menschen kamen und gingen, einige rannten, andere standen wie die Reporterin etwas ratlos herum und warteten. Ein lautes Stimmengewirr, jemand rief nach jemand anderem, einer johlte – und plötzlich vernahm Selma ein vertrautes Geräusch.

Klack – klack – klack.

Sie drehte sich um, erblickte Jonas Haberer und wurde sogleich unsanft umarmt.

«Selmeli!», schrie ihr Haberer ins Ohr. «Du bist ja noch schöner geworden.»

Selma löste sich aus der Umarmung und schaute Jonas Haberer auf die Füsse. «Sag nicht, dass du immer noch die gleichen, roten Cowboystiefel trägst wie damals?»

«Aber natürlich. Die sind in der Zwischenzeit mit meinen Füssen verwachsen.» Haberer lachte laut und ordinär und schob Selma in Richtung Rolltreppe. Klack – klack – klack. Seine schweren Schritte übertönten beinahe den Lärm der Bahnhofshalle und zogen viele Blicke auf sich.

«Am liebsten hätte ich ein Bier, aber es ist wohl noch zu früh dafür. Feiern wir unser Wiedersehen also mit Kaffee.»

In einem Bistro zeigte Jonas Haberer Selma das Konzept der Alpreportage und präsentierte ihr auch schon ein Layout.

«Das habe ich den Versicherungsmenschen gezeigt», erklärte Haberer. «Sie waren begeistert! Heile Welt. Sonnenaufgang. Sonnenuntergang. Alpsegen! Mond. Sterne. Kühe, Käse, Jungtiere, Jö. Dazu naturverbundene, schöne Menschen. Und fröhlich müssen sie sein. Sie sind ja gut versichert, du weisst, was ich meine?»

«Also eine Werbereportage?», stellte Selma trocken fest.

«Das darfst du nicht so sehen, Selmeli. Wir Journalisten müssen anders denken als früher. Moderner.»

«Moderner? Aha.»

«Genau. Pass auf, die bezahlen gut für diese Reportage. Wirklich gut. Und es ist eine schöne Sache. Das leistet sich doch sonst kein Magazin mehr heute, ausser es hängt am Tropf einer Geldmaschine. Also! Und dann verkaufe ich die Reportage später lukrativ weiter. Das geht für die Leute von ‹Service Versicherungen› in Ordnung. Habe ich extra für dich so ausgehandelt.»

Jonas kramte noch einige Unterlagen aus seiner Ledertasche. «Der alte Haberer hat schon recherchiert und einige Zahlen und Fakten zur ganzen Alpwirtschaft zusammengestellt. Damit du dich ganz auf tolle Bilder und ein paar nette Aussagen der lustigen Älpler konzentrieren kannst. Bin ich nicht toll?»

«Warum machst du die Reportage nicht selbst?»

«Ich kann weder fotografieren noch habe ich Lust auf Berge. Zudem muss ich für einige Politiker ein paar Reden schreiben und irgendwelche Lügenkommuniqués aufsetzen. Ich bin mittlerweile ein ziemlich guter Fake-News-Produzent.» Wieder lachte Haberer laut und unangenehm.

«Du hast zwar die Seiten gewechselt, bist aber immer noch der Gleiche wie früher.»

«Ich bin noch genau der Gleiche. Und glaubst du wirklich, mir macht das Spass? Mein Haudegen-Journalismus ist heute zwar nicht mehr gefragt, aber ich bleibe eine Boulevard-Ratte.» Haberer kramte noch ein Papier hervor: «Das habe ich auch noch gefunden.» Er schob es Selma zu.

Die Reporterin las die Überschrift aus dem «Anzeiger von Saanen»: «Der Baumfrevler hat wieder zugeschlagen.»

Haberer strich seine halblangen, fettigen Haare glatt, neigte sich zu Selma und flüsterte: «Na, kribbelt’s wieder? Baumfrevler sind ein gutes Thema für uns Journalisten. Baumfrevler, Baumtöter und Baumquäler lassen die Emotionen hochkochen. Wie Tierquäler und andere Irre. Das gibt Auflage, Klicks, Quoten. So eine Geschichte ist ein …»

«Jonas!», unterbrach Selma. «Ich sollte doch fröhliche und gut versicherte Menschen porträtieren.»

«Ja, genau. Aber kannst dich ja trotzdem ein bisschen umhören.»

Jonas Haberer stand auf, knallte das Geld für die beiden Kaffee auf den Tisch und verabschiedete sich.

Klack – klack – klack.

Selma schaute ihm nach und lachte.

5

Je höher sich der Zug das Tal hinaufwand, desto höher schlug Selmas Herz. In Zweisimmen hatte sie noch einmal umsteigen müssen, jetzt sass sie in einem Panoramawagen der Montreux-Oberland-Bahn Richtung Gstaad und konnte die Aussicht geniessen.

Die Erinnerungen flogen ihr nur so zu: Dort entdeckte sie einen Wanderweg, von dem sie sicher war, ihn schon abgelaufen zu sein. Und da war doch dieser Hang, den wir im Winter mit den Skiern hinuntergesaust sind, sinnierte Selma.

Der Zug erreichte Saanenmöser. Selma drückte sich fast die Nase am Fenster platt. Denn jetzt glaubte sie wirklich, all die geheimen Wege und Pfade zu entdecken, die sie und Elin im Winter auf ihren Abfahrten vom Hornberg erkundet hatten. Nächster Halt Schönried, der Blick hinauf zum Horneggli. Und wieder die schönen Erinnerungen. Wie es dem weissen Elefanten oben auf dem Gipfel wohl gehen mag, von dem ihre Skilehrerin Edith immer erzählt hatte, fragte sich Selma. Edith, die Frau des mürrischen Bauern, die Mutter der beiden Nachbarsbuben, die Frau mit den schönen langen Haaren, die Selma so bewundert hatte. Die so schön golden glänzten. Die in der Luft herumwirbelten, wenn sie elegant und leicht die Piste herunterwedelte und den Kindern immer zurief: «Ihr müsst tanzen!»

Ja, der weisse Elefant und all die Zwerge und Fabelwesen, von denen Edith immer behauptet hatte, dass es sie ganz sicher gebe. Man müsse nur genau hinschauen, Freude empfinden und ein offenes Herz haben. Dann würde man sie sehen. Elin und Selma waren sich sicher, die Wesen entdeckt zu haben. Schliesslich waren sie auch davon überzeugt, ein offenes Herz zu haben.

Selma angelte ihr Handy aus dem kleinen Rucksack und schrieb ihrer Schwester ein Whatsapp: «Hei, Elin! Rate mal, wo ich bin: Erinnerst du dich an die Heimat des weissen Elefanten und all der anderen Fabelwesen? Liebe Grüsse, Selma.»

Der Zug fuhr nun langsam hinunter nach Gstaad. Selma bewunderte diese liebliche Märchenlandschaft mit den vielen Hügeln und Bergen, den fetten grünen Wiesen und den mächtigen Tannen.

Ihr Handy vibrierte: «Hei, grosse Schwester. Du bist in Gstaad, ich weiss. Mama hat’s gesagt. Ihr geht es übrigens nicht so gut. Sie hat Schmerzen wegen ihres Treppensturzes. Sie ist jetzt bei uns. Liebe Grüsse, Elin.» Selma antwortete nicht. Ihre gute Laune wurde gerade etwas getrübt. Typisch Charlotte: Kaum war sie weg, musste sie Elin anrufen und ihr ihr Leid klagen.

In Gstaad stieg Selma gleich ins Postauto um, das nach Lauenen fuhr. Allerdings nahm sich Selma vor, vor ihrer Heimreise noch durch den mondänen und weltbekannten Touristenort zu schlendern, um festzustellen, was sich in Gstaad in all den Jahren geändert hat. Gab es diese Bäckerei mit den leckeren Streuselkuchen noch? Die Käserei, in der Selmas Vater in bester Ferienlaune immer drei oder vier Kilo Bergkäse eingekauft hatte? Käse, den zu Hause in Basel niemand mehr essen wollte und den die Mutter schliesslich über mehrere Wochen in Gratins, Aufläufen und Käseschnitten verarbeitete.

Und gab es auch diese Boutique mit all den Scherenschnitten noch? Scherenschnitte als Bilder, aber auch gedruckt auf T-Shirts, Tassen und Tellern. Selma war fasziniert von diesem traditionellen Kunsthandwerk, das im Saanenland noch immer gelebt wurde. Ihr gefielen die Motive: Alpszenen mit Menschen und Tieren. Und vor allem mit Bäumen. Mit mächtigen, starken Bäumen, die oft im Zentrum der Motive standen oder gar das Grundmotiv darstellten. Auf den Ästen spielten sich dann die Szenen aus dem bäuerlichen Leben ab, auf ihnen standen Menschen, Tiere, Häuser.

Sie wollte unbedingt in diesen Laden! Denn dort wurden auch Trachten angeboten. Wie hatte sie sich doch als junges Mädchen eine Tracht gewünscht und sich vorgestellt, einmal mit einer echten Saanegeiss am Seil an einem Alpabzug teilzunehmen.

Bei der Dorfausfahrt Richtung Lauenen musste der Bus wegen eines Lieferwagens kurz anhalten. Da entdeckte Selma am Strassenrand mehrere Bäume, die deutlich beschädigt waren, mit einer Axt verletzt und einer Säge geritzt. Selma dachte an den Zeitungsartikel über den Baumfrevler, den ihr Haberer mitgegeben hatte …

Zuhinterst im Tal angekommen, stieg Selma aus dem Postauto, band ihre Haare mit dem Gummi zusammen, schulterte ihren schweren Rucksack und nahm den Handtaschenrucksack an ihre Brust. Aus diesem holte sie die kleine, aber äusserst teure Kamera hervor, die sie für Schnappschüsse verwendete. Sie orientierte sich kurz an den Wanderwegweisern, blickte den Hang hinauf und sah, dass ihr ein zünftiger, gut anderthalbstündiger Aufstieg über den Chüetungel zur Alp der Familie Kohler bevorstand. Zuerst machte sie allerdings noch einen kurzen Fussmarsch zum Lauenensee. Sie ging am Restaurant vorbei, auf dessen Gartenterrasse einige Wanderer sassen. Sie passierte auch den kleinen Steg, der hinaus aufs Wasser führte. Zwei junge Frauen lagen darauf und sonnten sich. Selma ging weiter und fotografierte das glitzernde Wasser, die Uferlandschaft und die Hügel und Berge dahinter. Es war bereits später Nachmittag. Die Sonne tauchte das Panorama in ein weiches Licht. Selma war eine Fotografin alter Schule und verzichtete so weit wie möglich auf Fotofilter und aufwendige Nachbearbeitungen am Computer. Ihre Bilder sollten natürlich sein, authentisch.

Selma ging dem Ufer entlang, stieg dann den Berg hinauf, um einen noch besseren Standort für ihre Aufnahmen zu erreichen. Die Reporterin gönnte sich eine Pause, legte ihre Rucksäcke ab und setzte sich ins Gras. Sie genoss den Blick auf den See und die imposanten Berge. Und die Ruhe. Es war nur das Zirpen der Grillen im trockenen Gras zu hören. Selma nahm ihre Kamera und fotografierte, aber das leise Klicken ihrer Kamera empfand sie in diesem Moment als störend.

Selma blieb eine Weile sitzen, atmete tief durch. Dann stand sie auf, schulterte ihre Rucksäcke und kraxelte noch höher hinauf. Sie fotografierte den Lauenensee nun von noch weiter oben, war ganz begeistert von dieser wunderschönen Natur und vergass die Zeit. Schliesslich gelangte sie auf einen Schotterweg.

Jetzt muss ich aber wirklich los!, befahl sich Selma und schaute sich um. Sie hatte die Orientierung verloren. Deshalb zückte sie ihr Handy, öffnete Google-Map und sah, dass sie sich auf der falschen Talseite befand. Sie musste die Schotterstrasse hinunter und auf der anderen Seite den Aufstieg zur Alp der Kohlers in Angriff nehmen. Selma seufzte und ärgerte sich über sich selbst. Aber nur kurz. Schliesslich hatte sie tolle Fotos machen können.

 

Sie wollte gerade losmarschieren, als sie ein Motorengeräusch hörte. Es wurde rasch lauter. Der Motor stotterte, dann jaulte er auf. Er klang gefährlich. Selma brachte sich neben dem Feldweg in Sicherheit. Der Wagen war ziemlich schnell unterwegs und zog eine dichte Staubwolke hinter sich her. Er donnerte an Selma vorbei. Die Reporterin wurde von der Wolke regelrecht verschluckt. Sie konnte kaum mehr sehen und musste husten.

Bremsen quietschten, der Staub legte sich langsam. Eine Frau mit leuchtenden blauen Augen lehnte sich aus dem Fenster eines hellblauen Jeeps. «Entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gesehen», rief die Frau auf Hochdeutsch, was Selma etwas irritierte. «Alles in Ordnung?»

Selma trat auf den Weg zurück und klopfte sich den Staub aus der Kleidung. Dann nahm sie den Gummi aus ihren Haaren, lehnte sich nach vorne, um den Dreck aus ihren Haaren zu schütteln. Dabei verlor sie wegen des schweren Rucksacks fast das Gleichgewicht.

«Geht es?», fragte die Frau, die Selma jetzt am Arm festhielt und ihr half, sich aufzurichten.

«Findet eine Rallye statt?», fragte Selma säuerlich.

«Ähm, nein, ich bin nur etwas spät dran, wir melken bald die Kühe.»

«Sind Sie Sennerin?»

«Ja, also nein. Ich bin auf einer Alp angestellt. Als Käserin. Aber ich bin Deutsche, wie Sie sicher hören. Ich lebe eigentlich in Dresden und bin Lehrerin. Habe mir aber eine Auszeit genommen. Bereits meine zweite. Ich war letzten Sommer schon hier oben.»

Die Frau mit den blauen Augen war deutlich kleiner als die Reporterin und wirkte sehr zierlich. Sie sprach schnell und trat dabei ständig von einem Bein aufs andere, fuchtelte mit den Armen und liess ihre langen, blonden Haare herumwirbeln. «Wo wollen Sie denn mit Ihrem grossen Rucksack um diese Uhrzeit noch hin? Zur Geltenhütte? Oder zur Wildhornhütte? Da sind Sie aber ganz falsch! Sind Sie Bergsteigerin? Ach, Sie wollen sicher aufs Wildhorn. Das würde ich auch mal gerne. Aber eben, keine Zeit. Also zur Geltenhütte oder zur Wildhornhütte müssen Sie da drüben hochsteigen.» Die Frau zeigte auf die andere Seite des Tals. Dann wandte sie sich wieder Selma zu: «Ihr Rucksack muss ganz schön schwer sein. Ich war heute in Gstaad einkaufen, habe deshalb auch viel Gepäck. Dann musste ich noch auf einer Alp frische Kräuter für unsere Schmiere holen, mit der wir den Käse einreiben, sie ist unser Geheimrezept. Aber dann habe ich mich verquatscht und muss jetzt ein bisschen Gas geben. Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?»

Selma war sprachlos. Zu surreal erschien ihr diese wirblige Frau mit dem rasanten Mundwerk und dem ebenso rasanten Fahrstil in dieser idyllischen Umgebung. Sie war dauernd in Bewegung, liess ihre schlanke, fast zarte Figur und ihre ebenso zerbrechlich wirkenden Arme und Beine herumzappeln. Sie hatte ein schönes, feines Gesicht mit markanten Wangenknochen. Sie liessen ihre grossen blauen Augen noch grösser erscheinen.

«Na?», hakte die Frau nach. «Wollen Sie mitfahren?»

«Nein, ich will nicht zur Geltenhütte, auch nicht aufs Wildhorn. Ich möchte auf die Alp der Familie Kohler.»

«Oh. Dann kommen Sie mit.»